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Berliner Tagung diskutiert intellktuellen Austausch

Explosionen des Wissens

28.11.2007
Von Handelsblatt 
Die Globalisierung findet seit Menschengedenken statt. Sie ist nicht nur ein wirtschaftlicher Prozess, sondern auch einer des Wissens. Eine Berliner Tagung widmete sich der Geschichte, der Gegenwart und der Zukunft des intellektuellen Austauschs.

Beim 97. Internationalen Dahlem-Workshop diskutierten in der vergangenen Woche 40 Wissenschaftler über den Austausch von Wissen. "Es lohnt sich, die Globalisierung des Wissens von ihren Anfängen bis heute historisch zu verfolgen, auch um heutige Globalisierungsprozesse des Wissens besser zu verstehen", sagte Jürgen Renn, Direktor des Max-Planck-Instituts für Wissenschaftsgeschichte in Berlin .

Globalisierung ist natürlich nicht erst ein Phänomen unseres Medienzeitalters. Schon die ersten sesshaften Menschen in der Jungsteinzeit tauschten auf ihren Handelswegen nicht nur Waren aus, sondern auch das Wissen darüber, wie sie diese hergestellt hatten. Anders als die gehandelten Güter passte sich das vermittelte Wissen seinem neuen Kontext an. "Die Geschichte des Menschen ist übereinander geschichtetes Wissen", sagte Eva Cancik-Kirschbaum, Altorientalistin an der Freien Universität Berlin. Mischung kann sogar gänzlich Neues hervorbringen.

Die Erfindung der Schrift beschleunigte den Wissenstransfer und setzte gleichzeitig viele Trennungsprozesse in Gang. Schrift entkoppelt die Sprache von der Stimme, das Wissen vom Wissenden und errichtet eine Barriere zwischen Schriftkundigen und -unkundigen. In China und Ägypten etwa blieben die komplizierten Schriftzeichen einer professionellen Kaste vorbehalten.

Und so, wie dem weltweiten Zugriff auf Informationen, den das Internet heute ermöglicht, oft eine Verflachung des menschlichen Erfahrungsschatzes zugeordnet wird, warnten im Altertum viele Gelehrte vor den Gefahren der Schrift. Platon etwa, einer der eifrigsten Schreiber seiner Zeit, war überzeugt von der zersetzenden Wirkung der Schrift, die unweigerlich in eine Wissenskrise münden müsse. Für jedermann zugänglich, seien die ahnungslosen Buchstaben wie das oberflächliche Geschwätz von Papageien, denen es an Einsicht, Wahrheit und Geist fehle - intellektuelle Qualitäten, die nur ein Mensch haben kann. Kleine Gruppen von Eingeweihten sollten deshalb das Wissen pflegen und weitergeben, forderte der Philosoph - und schrieb diese Gedanken auf, so dass wir sie heute noch lesen können.

Die Menschen wittern seit jeher in einem neuen Medium die davon ausgehende Gefahr für die alten. Victor Hugo flicht in seinen Roman "Notre Dame de Paris", der im 15. Jahrhundert spielt, eine kleine Szene ein, in der ein Gelehrter erstmals ein Buch zur Hand nimmt. Er blickt dabei durchs Fenster auf den Turm einer Kathedrale und denkt: "Celui tuera cela" - Dies wird jene zerstören. Die Kathedrale als Symbol für bunte, mündliche und bildhafte Ideenübermittlung, das Buch als trockene und willkürliche Wissensvermittlung.

"Mit der enormen Vermehrung der Bücher verwandelte sich der Wissenskosmos in ein Wissenslabyrinth, das die Zeitgenossen damals als ähnlich unübersichtlich und überwältigend empfunden haben müssen wie wir heute das Internet", schreibt Aleida Assmann im Katalog zur Ausstellung "Sieben Hügel", die zur Jahrtausendwende in Berlin den gewagten Versuch unternahm, die Bilder und Zeichen des 21. Jahrhunderts abzubilden. Immer wieder in der Geschichte sind Bemühungen zu erkennen, dieses "neue Babel" des Wissens zu systematisieren. Was dem modernen Menschen Suchmaschinen und Zugriffstechnologien sind, waren zu Gutenbergs Zeiten standardisierte Titelblätter, auf denen untereinander Autor, Titel, Drucker, Ort und Jahr standen - ein System, das sich kaum verändert hat.

Diese vergangenen Wissensexplosionen sind vergleichbar mit dem Potenzial des World Wide Web (WWW), das wir heute erahnen können. Damit es sich entfalten kann, muss das Web - so wie Bücher katalogisiert werden mussten - einem Ordnungssystem unterworfen werden, findet Hans Falk Hoffmann, ehemaliger Direktor für Technologietransfer an der Europäischen Organisation für Kernforschung (CERN) in Genf, wo das WWW erfunden wurde.

Eine Sprachtechnologie, die Dinge unzweideutig erklären kann, sei dafür ebenso erforderlich wie eine Überprüfung des Wissens, das ins Web gestellt werde. "Beispielsweise müssten die einzelnen Wikipedias abgeglichen werden, die russische ist vollkommen anders als die englische." Ohnehin ist fraglich, wer welche Informationen zu erklärtem Wissen erhebt. In einem "epistemischen Web", einem wahren Web des Wissens, wäre alles Wissen ein gesichertes. Dieses würde die Idee vom "semantischen Web", das selbstlesend Informationen interpretieren und verarbeiten kann, zu einer "katholischen Version des Internets" verblassen lassen, schwärmt Jürgen Renn.

Dafür müssten allerdings zunächst die Barrieren niedergerissen werden, die den Zugang zu Forschungsergebnissen, Quellenmaterialien, digitalen Präsentationen, Bildern und Grafiken im Internet noch versperren. Schon vor vier Jahren hat das Max-Planck-Institut in diesem Sinne zusammen mit anderen Wissenschaftsorganisationen die "Berliner Erklärung über offenen Zugang zu wissenschaftlichem Wissen" unterzeichnet.

Möglicherweise wird das digitale Zeitalter auch die Geschichtsschreibung verändern. "Im Zeichen einer elektronischen Schrift, die die Bedingungen des Materiellen hinter sich gelassen hat, wird sich nichts mehr ablagern und aufschichten", schreibt Aleida Assmann. Wissen wird nicht mehr übereinander gelagert, sondern schlicht überschrieben. Damit erleben wir eine Form der Erneuerung, "die das Alte nicht mehr konserviert, sondern im Prozess des Schreibens auflöst."

Womöglich werden künftige Historiker der PC-Ära vergeblich nach den Überresten vergangener Schriftkommunikation suchen. Aber: "Die digitale Schrift schreibt wesentlich mehr, als es die Alphabetschrift vermochte; auch Bilder und Töne werden in dieser technisch unsinnlichen Infrarotschrift kodiert. ... Dabei schließen sich die Gräben, die zwischen den Medien Schrift, Bild und Ton entstanden sind." Die vollkommene Barrierefreiheit, endlich.