Verdaechtige Ruhe nach dem Sturm

Expertensysteme werden ihre Selbstaendigkeit bald verlieren

22.01.1993

"Kinderkrankheiten oder vorzeitige Vergreisung?", fragte der Dortmunder Industriesoziologe Thomas Malsch noch vor einigen Jahren, als es um kuenstliche Intelligenz ging. Er provozierte angesichts der auffaelligen Stille, die nach erbitterten Wortgefechten um die mit der Aura des Koepfeklonens behaftete Technologie eingetreten war.

Prognostizierten 1986 namhafte Marktforschungsinstitute wie Ovum und IDC oder auch das Institut der deutschen Wirtschaft in Koeln ein sprunghaftes Wachstum im Bereich der kuenstlichen Intelligenz, hielten zur gleichen Zeit das Frankfurter Batelle-Institut und die Marktforscher von Diebold weder Methodologie noch Werkzeugkasten fuer ausgereift genug, um sie in ein kommerzielles Produkt umzusetzen.

Diese, durch ein Experimentieren mit neuen Werkzeugen und Methoden gekennzeichnete Fruehphase, kann als abgeschlossen gelten: Laut SNI-Experte Harald Damskis werden heute bewaehrte KI-Techniken nicht nur bei der Entwicklung originaerer, "knallharter" KI- Produkte wie Sprachverarbeitungs- und Uebersetzungsprogrammen eingesetzt, sondern finden in zunehmendem Mass Eingang in die Entwicklung konventioneller Software. Gleichzeitig sollen entwickelte Expertensysteme auch tatsaechlich betrieblich eingesetzt werden - und nicht nur wie anfangs erste Orientierungen und Erfahrungen vermitteln. Damit zeichnet sich ab, dass Expertensysteme ihre Selbstaendigkeit weitgehend verlieren werden: Ging man frueher davon aus, dass die Systeme rund ein Viertel an wissensbasierten Komponentenen enthalten, existieren heute Programme mit einem Anteil von nur noch 10 Prozent. Gleichzeitig waechst der Aufwand fuer Schnittstellen-Programmierung und Gestaltung der Nutzeroberflaeche.

Als 1987 noch 80 Prozent der knapp 700 bundesrepublikanischen Expertensystem-Projekte im Planungs- und Entwicklungsstadium standen, waren fertige Prototypen zu 18 Prozent wissensbasiert. Nur 25 der entwickelten Systeme befanden sich tatsaechlich im Einsatz, was einer Quote von 4 Prozent entspricht.

Die Anzahl lauffaehiger Systeme bleibt begrenzt

Das Battelle-Institut hatte dagegen angenommen, dass sich in der Bundesrepublik wie auch in Gesamteuropa "die Reifegrade von Systementwurf ueber Prototyp oder Testphase bis hin zur routinemaessigen Anwendung im Verhaeltnis 60 zu 30 zu 10 bewegen." Heute sind Prognosen ueber solche Quoten noch weit schwieriger zu treffen, weil ueber viele fertiggestellte Systeme nicht mehr gesprochen wird. So stuetzen sich die Nuernberger Wirtschaftsinformatiker Peter Mertens, Volker Borkowski und Wolfgang Geis in der im Fruehjahr erscheinenden dritten Auflage ihres mittlerweile zum Standardwerk avancierten Buches "Betriebliche Expertensystem-Anwendungen" auf mittlerweile 3000 Eintraege in der Datenbank; in der zweiten Auflage waren es weltweit 2000, die erste Auflage von 1987 fuehrte knapp 1000 Systeme auf. Wenngleich die dynamische Entwicklung keine laengerfristigen Aussagen zulaesst, hat sich die Zahl der tatsaechlich laufenden Systeme im deutschsprachigen Raum von rund 150 auf vermutlich 250 bis 300 erhoeht.

Dieser Trend koennte fuer einen gewachsenen Realitaetssinn in der betrieblichen Landschaft sprechen. 1987 prophezeite die Battelle- Studie, "dass die Diffusion, die heute noch eher durch den Druck der Anbieter von Expertensystemen erfolgt, in Zukunft wesentlich auf einem Nachfragesog basieren wird", und ein Jahr frueher hatte der amerikanische Expertensystem-Pionier Edward Feigenbaum das Aussterben des Berufsstands der Knowledge Engineers verkuendet, da deren Aufgaben die Experten wegen der immer besseren und benutzerfreundlicheren Tools und Shells selbst uebernehmen werden koennen. Beide Prognosen haben sich nicht bewahrheitet. Mehr noch: Bei den heute zu bewaeltigenden Schwierigkeiten spielen diese Faktoren bestenfalls eine nachgeordnete Rolle. Schon laengst sind fuer das Scheitern von Expertensystemen nur noch selten technische Unzulaenglichkeiten verantwortlich. Vielmehr avanciert das Gespuer fuer feinfuehlige und ausgewogene Eingriffe an den organisatorischen Rahmenbedingungen zum eigentlichen Erfolgsfaktor. Dazu einige Beispiele:

- Bei Expertensystemen sind sinnvolle Anwendungsgebiete (Beratung, Diagnose, Analyse, Konfiguration, Kontrolle, Planung und Schulung) schwer definierbar. Das liegt am engen Anwendungskorridor zwischen Trivialitaet (der mit konventioneller DV beizukommen istund Komplexitaet (welche Expertensysteme nicht zu bewaeltigen in der Lage sind).

- Die Tauglichkeit eines ueber einen laengeren Zeitraum entwickelten Systems erweist sich erst in der konkreten Anwendung. Daran aendert auch das Prototyping wenig, das nur technische, nicht aber zeitlich-organisatorische Probleme simulieren kann. So stellen vor allem beim Einbezug von Kunden- und Klientengespraechen Wartezeiten von mehreren Sekunden die Nutzer vor oftmals kaum zu ueberwindende Akzeptanzbarrieren.

- Zwar klagen Expertensysteme nicht ueber Stress, bemaekeln keine zu langen Arbeitszeiten, brauchen nicht motiviert zu werden und organisieren sich nicht in Gewerkschaften. Unverbluemt heisst es in einer Broschuere der ITT Corp.: "Aufgabe von Expertensystemen ist unter anderem auch das Einsparen von qualifiziertem Personal." Dennoch laesst sich das Kosten-Nutzenverhaeltnis nur schwer oder gar nicht abschaetzen, wenn wirtschaftlich kaum quantifizierbare Vorteile mit Akzeptanzverweigerung und sozialem Unfrieden bezahlt werden.

Das zugrundeliegende Dilemma umreisst Projekt-Manager Wolfgang Samlowski zutreffend mit der Metapher: "Tiger im Tank - Esel am Steuer?" Dahinter steckt ein durchaus breites Spektrum bislang im betrieblichen Einsatz gewonnener Erfahrungen: Waehrend einige Unternehmen mehrere Systeme einsetzen, haben sich andere aus diesem Feld voellig zurueckgezogen. Diese "Polarisierung der Szene" unterstreicht, dass die eigentliche Huerde nicht im technischen Bereich, sondern im organisatorischen Umfeld zu suchen ist, was in der mangelhaften Systempflege deutlich wird: Fuer das Scheitern von Expertensystem-Projekten sind in verblueffend vielen Faellen ein unzureichendes oder fehlendes Aenderungs- und Wartungs-Management verantwortlich.

*Nina Degele ist freie Fachjournalistin in Muenchen.