IT-Landschaft in Ostdeutschland-ein Jahr nach der Wende

Ex-DDR: Keine Rede mehr von einer selbständigen DV -Szene

19.04.1991

Vor einem Jahr wurde allgemein erwartet, daß sich im Osten Deutschlands ein eigenständiger neuer Markt für DV-Produkte entwickeln würde. Diese Annahme hat sich inzwischen als grundsätzlich falsch erwiesen. Im wesentlichen hat sich der Markt, der in der alten Bundesrepublik bereits existierte, auf das Gebiet der ehemaligen DDR ausgeweitet. Es gibt im Osten von einigen Handwerkern und kleinen Gewerbetreibenden abgesehen, nur ganz wenige Unternehmen, die von sich aus beginnen, neue DV-Strukturen aufzubauen.

Fast alle mittelständischen und größeren Unternehmen haben mittlerweile einen Eigentümer oder Partner aus dem Westen, der natürlich nicht eine neue DV-Szene entwickelt, sondern seine erprobte DV-Infrastruktur überträgt. Der Rest wird zu großen Teilen in allernächster Zeit zerfallen oder von der Treuhand verkauft. Öffentliche Verwaltungen, Landesregierungen, Kommunen und Städte leiden an chronischem Geldmangel, so daß auch hier von einer sich entwickelnden DV-Szene kaum gesprochen werden kann. Die vorherrschende Tendenz ist zur Zeit also nicht eine sich entwickelnde neue DV-Szene, sondern der Transfer der in den alten Bundesländern vorhandenen DV -Landschaft in östliche Richtung.

Bei den Großrechenanlagen (den in der DDR als ESER-Rechner bezeichneten Anlagen) wurde relativ schnell damit begonnen, altertümliche und unzuverlässige Peripheriegeräte durch billig erworbenes Equipment (oft aus zweiter Hand) aus dem Westen zu ersetzen. Das betrifft vor allem Platteneinheiten und Bandlaufwerke aus Bulgarien, Rumänien oder der Sowjetunion-beispielsweise von Isot oder Romdata. Durch solche Maßnahmen kann die Einsatzfähigkeit bestehender Rechenanlagen wesentlich verbessert werden,

ohne große Investitionen tätigen zu müssen. Die Zentraleinheiten der ESER -Rechner arbeiten in der Regel recht zuverlässig. Der größere Platzbedarf, der höhere Stromverbrauch und die geringere Leistung als bei vergleichbaren West-Anlagen lassen sich für

eine gewisse Zeit tolerieren.

Neben solchen Auf- und Umrüstungsaktivitäten gibt es natürlich auch punktuell komplette Ersatzinvestitionen. An dieser Stelle seien die zwölf Datenverarbeitungszentren (DVZ) der ehemaligen DDR-Bezirke erwähnt. Ihre Aufgabe bestand vor allem in der regionalen Versorgung großer Betriebe und staatlicher Einrichtungen der ehemaligen DDR mit rechentechnischen Dienstleistungen. Ausgerüstet mit mittleren und großen DV-Anlagen (ES 1020, ES 1055, ES 1057), haben sie inzwischen zum größten Teil Partner aus dem Westen gefunden. So arbeitet zum Beispiel das DVZ in Potsdam zusammen mit der Allianz, die DVZs in Berlin, Dresden, Halle und in anderen großen Bezirksstädten kooperieren mehr oder weniger eng mit der IBM. Der Rest versucht, über Hard- beziehungsweise Software -Vertriebsaktivitäten oder DV-Dienstleistungsangebote tätig zu werden. In jedem Fall erfolgt ein kräftiger Personalabbau von 50 bis 80 Prozent.

Nach außen kaum sichtbar und damit auch schwer beurteilbar, sind die Aktivitäten großer Unternehmen und Dienstleistungseinrichtungen im Großrechnerbereich aus den alten Bundesländern, beispielsweise Banken und Versicherungsunternehmen. Hier sind

große Rechenzentrumsstrukturen im Aufbau oder schon in Betrieb, anders lassen sich die umfangreichen Geschäftsaktivitäten dieser Firmen nicht abwickeln.

RS 6000 in der DDR totgeschwiegen

Wenn man von den Mainframe-Anlagen weg in den mittleren Bereich sieht, so sind hier außerordentliche Vertriebsanstrengungen, insbesondere der IBM, bezüglich ihrer AS / 400-Anlagen festzustellen. Diese Aktivitäten sind durch ihre Vehemenz und durch den schon zu Zeiten der DDR bekannten Namen nicht ohne Wirkung. Dabei ist es für engagierte Unix-Verfechter schmerzhaft zu sehen, daß bei der IBM eine erfolgreiche Unix-Anlage (RS 6000) existiert, die aber in den neuen Bundesländern praktisch totgeschwiegen wird. Die AS / 400 wird hier in den Markt hineingedrückt, obwohl bei der RS 6000 ein günstigeres Preis-Leistungs-Verhältnis und eine modernere Konzeption existieren.

Im unteren PC-Bereich wurde im vergangenen Jahr wohl am meisten investiert und installiert. Zum einen ist das auf den jahrelangen Mangel an Mikros zurückzuführen, zum anderen auf die im Vergleich zu anderen Rechnern niedrigeren Beschaffungskosten. Im PC-Bereich sind es vor allem No-Name-Hersteller, die das Rennen gemacht haben und die beispielsweise öffentliche Einrichtungen (Deutsche Reichsbahn, Deutsche Post, Akademien, Institute) ausrüsten konnten.

Das große Schlagwort in diesem Bereich hieß Vernetzung. Teilweise wurde "auf Teufel komm raus" vernetzt, ohne den wirklichen Nutzen solcher PC-Netze zu beachten. Besonders verwunderlich war, daß Firmen und Einrichtungen, deren bevorstehende Auflösung schon vor einem dreiviertel Jahr zu erkennen war (beispielsweise Ministerien oder Akademieinstitute), noch Geld für solche Netze aufbringen konnten.

Die Ausbildung spielt eine große Rolle

In den letzten Monaten, ja selbst in den letzten Wochen ihres Bestehens, wurden noch Personalcomputer aufgestellt, vernetzt und die zugehörige Software angeschafft, nur um danach alles zusammen abzuschreiben. Im PC-Bereich besonders erfolgreich agierten Softwarehersteller, die preiswerte Standardprodukte unter MS-DOS anbieten konnten (zum Beispiel Finanzbuchhaltung, Kostenrechnung, Lohn / Gehalt).

Eine Sonderrolle spielten im letzten Jahr Ausbildungseinrichtungen. Hier-also in den Hochschulen, Fachschulen, Berufsausbildungseinrichtungen und allgemeinbildenden Schuleinrichtungen-hat sich sehr viel verändert. Zum einen wurden viele große Sponsoren aktiv, die diesen Bildungseinrichtungen einen "warmen Segen" von Computertechnik bescherten.

Zum anderen wurden verschiedene Förderungsprogramme aus den alten oder auch den neuen Bundesländern wirksam. Aus der freien Wirtschaft sind IBM und DEC zu nennen, die ganze Lehrbereiche an Hoch- und Fachschulen mit ihren Computern ausrüsten. Die

Firme Apple engagierte sich besonders stark in der Fach- und Berufsschulausbildung. In diesem Bereich der DV-Landschaft in den neuen Bundesländern spürt man im Moment die positivsten Impulse.

*Ludwig Claßen war bis zum Frühjahr 1990 als Software-Abteilungsleiter im Elektro-Apparatewerk Beratungsgesellschaft Mummert + Partner in Ost-Berlin.