Europaeische Mentalitaet immer noch eine Barriere Den Anschluss verpasst: Deutsche Software ist auf dem Abstellgleis

23.12.1994

Horrornachrichten von Software- und Prozessorfront: Die Haelfte aller Anwendungsprogrammierer werden ihren Job verlieren; Chiparchitekturen werden in Deutschland kaum noch entwickelt oder gar gefertigt. Jan Witt* ueberlegt, wie Anbieter auf die Tendenz zu Fertigprogrammen sinnvoll reagieren koennen. Bestehende Maengel fuehrt er auch auf Besonderheiten der europaeischen Mentalitaet zurueck.

Wiederverkaeufer kaufen ein, wo es am guenstigsten ist, und verkaufen weltweit an alle, die den geforderten Preis bezahlen. Auch der private oder berufliche Endbenutzer leistungsfaehiger technischer Produkte kauft moeglichst billig ein. Hierauf basiert die Marktwirtschaft. Um mit der Herstellung neuartiger leistungsfaehiger Hochtechnologieprodukte Gewinn zu erwirtschaften, muss der Hersteller darauf achten, dass die kostspielige Vorfinanzierung anfangs durch hohe Preise und spaeter durch hohe Stueckzahlen wieder hereingeholt wird.

Herzog: Leidenschaftlich fuer den Sozialstaat, aber ...

Die hier zu betrachtenden Hochtechnologie-Erzeugnisse sind Chips und Programme. Im Zuge ihrer Herstellung fallen als einmalige Ausgaben in erster Linie Entwicklungskosten an. Bei den Programmen kann nur im Falle von "Fertigsoftware" sinnvoll von "Fertigung" gesprochen werden. Diese besteht dann aus der blossen Reproduktion der Software auf Datentraegern. Im Falle der Chiptechnologie verhaelt es sich aehnlich: Auch hier muessen die entwickelten Strukturen "nur" reproduziert werden. Allerdings wird die Chipfertigung immer aufwendiger und setzt immer kostspieligere Produktionseinrichtungen voraus.

Software- und Chipentwicklung haben vieles gemeinsam:

- Der Entwicklungsprozess hat sowohl eine gestalterische wie eine technologische Komponente.

- Die Logistik und das exakt einzuhaltende Timing der Markteinfuehrung sind fuer den Erfolg sehr wesentlich.

- Hardware und Software muessen gut aufeinander abgestimmt werden.

- Der Markt muss die Produkte aufnehmen und annehmen.

Computerchip-Architekturen fuer den Hochleistungsbereich werden in Deutschland kaum noch entwickelt oder gefertigt (gemeint sind Prozessorchips, nicht Speicherchips). Computersoftware, vor allem Fertigsoftware, wird nach Deutschland immer mehr importiert und immer weniger aus Deutschland exportiert.

Unabhaengig hiervon geht es global und in Deutschland mit den Berufschancen der Software-Entwickler bergab. Das Novemberheft 1994 von IEEE Software enthaelt ein Interview mit Boris Beizer: "Surviving the coming Software Industry Shakeout". Beizer meint unter anderem, dass 50 Prozent der Software-Entwickler ihren Job verlieren werden. Die Hauptursache wird Wiederverwendung ("reuse") sein. Das Dezemberheft des Wirtschaftsmagazins "Forbes" bringt einen Aufsatz "Der programmierte Absturz - jetzt wird es hart in der Softwarebranche." Wo steht die deutsche Softwaretechnik? In einem Interview mit der "Sueddeutschen Zeitung" vom 23. November 1994 sagt Bundespraesident Roman Herzog zum Thema "technische Entwicklung": "Ich bin leidenschaftlich dafuer, dass der Sozialstaat erhalten bleibt. Das bedeutet aber, dass wir eigentlich den anderen in der technischen Entwicklung immer um zwei Pferdelaengen voraus sein muessen. Und das sind wir, wenn ich es recht sehe, nicht."

Deutsche Anbieter bilden das Schlusslicht

Letzteres ist zurueckhaltend ausgedrueckt: Chip- und softwaretechnologisch wird es nicht nur mit zwei Pferdelaengen Vorsprung vorlaeufig wohl nichts mehr werden, sondern die europaeischen und deutschen Anbieter waeren uebergluecklich, wenn sie auch nur bis auf eine Nasenlaenge an die Konkurrenz herankaemen, statt unter "ferner liefen" das Schlusslicht zu machen.

Vergessen wir im Augenblick den Rueckstand in der Chiptechnologie. Es bleiben uns immer noch die anderen Fragen: Wie erklaert sich die derzeitige fatale Entwicklung im Softwarebereich? Kann man sie aufhalten? Wenn ja, wie? Ist Euromentalitaet eine Ursache der Schwierigkeiten?

Eine detailliertere Analyse zeigt, dass bei der Entstehung der aktuellen Situation viele Faktorenen zusammenspielten, Fragen der Akzeptanz, des Timings, Unverstand in der Chefetage etc. Als Gruende stehen aber auch historisch gewachsene, typisch europaeische Verkrustungen und Blokkaden im Verdacht, die, wenn ueberhaupt, erst auf dem Wege einer neuen europaeischen Selbsterkenntnis ueberwunden werden koennen.

"Hast Du was, dann bist Du was", lautet etwa eine deutsche Redensart. Der Erfolg durch technische Produkte ist jedoch keine Frage des Habens, sondern des Seins und Koennens. Innovationen kommen vom Sein, nicht vom Haben. Kreativitaet ist ein Seinsattribut. Die ebenfalls im genannten Interview geaeusserte Vermutung des Bundespraesidenten, man muesse im Patentanmeldeverfahren etwas verbessern, verfehlt die hier angeschnittene Problematik in zweifacher Weise:

- Software wird europaweit nur urheberrechtlich, nicht patentrechtlich geschuetzt.

- Patente sind bestenfalls Kreativitaetskonserven, koennen aber die Traeger der Kreativitaet nicht ersetzen und gehoeren zur Welt des Habens. Innovativ und kreativ sein bedeutet auch Wagnis und Abenteuer, Vision, Ambition, Einsatz, Bruch mit Konventionen.

Quellen der Innovation in den USA waren bisher in der Regel (juengere) Individuen, hochmotivierte kleine Gruppen, Waschkuechenfirmen. So etwas gibt es in Europa im Prinzip auch. Aber der Weg von der Quelle bis zum breiten Strom ist weit: Ist die Grossindustrie der geeignete Innovationstraeger? In der Vorstandsetage grosser Konzerne breiten sich Schrecken und Ratlosigkeit aus, wenn ein Ingenieur des eigenen Unternehmens oder einer kleinen Startup-Firma damit droht, einen funktionsfaehigen Hochtechnologie-Prototypen vorzufuehren. "Passt das in unser Produktspektrum?", "Will der Kunde das?", "Gibt es dazu schon eine Marktstudie?", "Faellt das in die Zustaendigkeit unseres Geschaeftsbereiches?", "Passt das noch in unser Budget?", "Sollten wir das nicht lieber zukaufen?" etc.

Aehnlich schlimm geht es zu, wenn der Vertreter eines jungen Startup-Unternehmens versucht, Kunden fuer sein neues Produkt zu gewinnen: "Wer weiss, ob diese Firma morgen noch im Geschaeft ist?", "Haben Sie gehoert, die Schulung macht der Chef selbst!", "Koennen die ueberhaupt in Stueckzahlen fertigen?"

Die Informationstechnologie wird noch viele Jahre Schluesseltechnologie bleiben. Andere Technologien wie Energietechnik, medizinische Technik, Gentechnologie, Luft- und Raumfahrttechnik, industrielle Fertigungstechnik etc. setzen naemlich die materiellen und immateriellen Ergebnisse der Informationstechnologie in staendig wachsendem Masse voraus. Es geht dabei nicht nur um den immer breiteren Einsatz informationstechnischer Arbeitsmittel, sondern zunehmend auch um die Uebernahme von Denk- und Redeweisen der Informationstechnologie in vielen Bereiche von Wirtschaft, Technik und Wissenschaft.

Zahlreiche Softwarehaeuser, die noch nicht bankrott sind

Das Zusammenwirken der Chiptechnologie, der Softwaretechnologie und der Technologie der magnetischen Schichtspeicher fuehrte zur Technik der Universalrechner. Diese sind heute vor allem in Gestalt von PCs und Workstations sehr weit verbreitet. Fuer die PC- Welt werden heute Millionen von Basis- und Fertigsoftwarepaketen zu relativ niedrigen Stueckpreisen verkauft.

Mit Basissoftware ist hierbei anwendungsneutrale Betriebssystem- und Netzwerksoftware gemeint, mit Fertigsoftware breitbandig einsetzbare konfigurierbare Anwendungssoftware wie Textsysteme, Spreadsheets etc. Diese Programme stammen von einigen wenigen Softwareherstellern in den USA, die auch zunehmend deutsche, franzoesische und italienische Fassungen fuer den europaeischen Markt erstellen. Europaeische Fertigsoftware-Entwicklungen fuer PCs konnten sich bisher nicht durchsetzen, sofern die Entwicklerfirma sich nicht entschloss, mit geeigneten US-Partnern zu kooperieren.

Ob man in Deutschland heute noch in groesserem Stil vermarktbare neue Software entwickeln kann, ist trotz des grossen Erfolges von SAP und der Existenz zahlreicher Softwarehaeuser, die noch nicht bankrott sind, fraglich. Dies gilt zunaechst fuer Fertigsoftware herkoemmlicher Praegung, dann aber auch fuer aufwendigere auflagenschwaechere Applikationen wie CAx-Programme und massgeschneiderte Einzelanwendungen. Computertechnik und die Software-Entwicklung allgemein entwickeln sich innerhalb der Informationstechnologie heute immer mehr zu reinen Behaelterstrukturen fuer Inhalte, fuer "Domaenenwissen", die dies selbst aber nicht einschliessen.

Die heutigen Informatik-Curricula an Universitaeten und Fachhochschulen legen grosses Gewicht auf die Kerninformatik, geben sich betont theoretisch. Wir beobachten andererseits heute eine wachsende Anreicherung der praktizierten Informationstechnik mit wissens- und medienorientierten, werblichen, didaktischen, sozialdynamischen sowie kuenstlerischen Elementen, die durch die Kerninformatik nicht abgedeckt werden.

Grundsaetzlich lassen die neuen Trends hoffen

Die neuen Trends, die durch Begriffe wie Multimedia, World Wide Web, Animation und virtuelle Realitaet nur angedeutet werden koennen, lassen grundsaetzlich hoffen, dass durch sie Kommunikation und Automatisierung reicher und menschlicher werden und letzten Endes auch viele neue Betaetigungsfelder - nicht notwendig "Arbeitsplaetze" fuer "Arbeitstiere" - erschlossen werden. Zu befuerchten steht allerdings auch, dass in Europa und besonders in Deutschland die neuen Trends nicht richtig bewertet und die noetigen Entwicklungen zu spaet eingeleitet werden.

Global wird das Marktwachstum fuer Universalrechner und Fertigsoftware heutiger Praegung sich bald weiter verlangsamen. Der fortschreitende Preisverfall wird sich laehmend auswirken. Aufholversuche der Europaeer werden nur dann Erfolg haben, wenn sie Neuland einbeziehen und aus ihren Besonderheiten Nutzen ziehen.

Das Argument, der europaeische Markt fuer Software sei wegen der Sprachenvielfalt und der unterschiedlichen nationalen Regelungen zu zersplittert, ist im hohen Masse unsinnig: Wer anders als die Europaeer hat denn hier den Wettbewerbsvorteil des Heimspiels?

Die heutige Situation des Computermarktes und -einsatzes laesst sich am einfachsten in der Weise beschreiben, dass Leistungsklassen von Computern (vgl. Abbildung 1) und moegliche Software- Entwicklungsmodalitaeten (vgl. Abbildung 2) jeweils klar unterschieden werden. Innerhalb der Leistungsklassen ist dann noch zwischen proprietaeren und offenen Hardware- und Software- Architekturen zu differenzieren.

Da Software nicht verschleisst, dazu auch noch (leicht, wie einige Leichtglaeubige glauben) modifiziert werden kann, sollte man eigentlich annehmen, dass die vorlagenlose Entwicklung auf der gruenen Wiese immer seltener wird, weil es allmaehlich genug Software und damit fuer jedes Problem eine Loesung gebe.

Es laesst sich heute ja nur noch selten einer einen Massanzug machen, wenn er gute Qualitaet von der Stange kaufen kann und nur die Aermel ein bisschen kuerzen lassen muss. Aber, so wird dann eingewendet, es habe nicht jeder eine Standardfigur, und wer es sich leisten koenne, wolle sich auch den Stoff selbst aussuchen. Die Grundfrage bleibt natuerlich, was das finanziell bedeutet.

Betrachten wir den klassischen Fall der Auftragsentwicklung: In Zusammenarbeit mit dem Kunden entsteht ein Pflichtenheft. Der Aufwand wird abgeschaetzt und ein Vertrag formuliert. Der Auftragnehmer verpflichtet sich, eine Softwareloesung mit bestimmten zugesicherten Eigenschaften zu liefern und die Funktionstuechtigkeit auch nachzuweisen. Hier kommt die Ingenieursdisziplin der Softwaretechnologie, das "Software- Engineering", zum Tragen. Diese nach herrschender Lehrmeinung neuentwicklungsorientierte Disziplin soll dazu verhelfen, dass im Rahmen eines wie auch immer gestalteten Lebenszyklusmodells effektive Loesungen entstehen.

Die Vorgehensweise des ersten Besenbinders bei der im Kasten wiedergegebenen Episode wird als "Software-Wiederverwendung"

(engl. "Software Reuse"), die des zweiten als Realisierung mit Hilfe von Fertig- oder Standardsoftware bezeichnet.

Der Beruf des Software-Entwicklers wird mit denen des Telefonvermittlers, des Fotografen oder des Chauffeurs verglichen. Alle diese Berufe entstanden auf Grund technischer Innovationen und verschwanden dann infolge weiterer Neuerungen wieder. Natuerlich blieben ein paar Telefonisten, ein paar Fotografen und ein paar Taxifahrer uebrig, aber die ueberwiegende Anwenderschaft der jeweiligen technischen Neuerung wandelte sich zum "unbetreuten" Selbstanwender. Ein aehnlicher Trend ist beim Software-Angebot zu beobachten. Fertigsoftware wie Text- oder Spreadsheet-Systeme erlauben es jedermann mit einem Intelligenzquotienten ueber 75, bestimmte Aufgaben unbetreut zu loesen.

Nicht alle Aufgaben lassen sich mit Textsystemen und Spreadsheets angehen. Aber schon gibt es zum Beispiel vom weltweiten Marktfuehrer Microsoft (und von anderen US-Anbietern) zusaetzliche Hilfsmittel: Klebstoff und Fertigteile fuer den Heimwerker sozusagen. Microsofts "Visual Basic" erlaubt jedermann das Programmieren und setzt kaum mehr einschlaegiges Talent voraus, als zur Handhabung eines Videorekorders erforderlich ist.

Fuer den Anbieter von massgeschneiderter Software bedeutet dies, dass er selbst sehr maechtige Werkzeuge entwickeln und/oder einsetzen muss, wenn er sich gegenueber dem Selbstanwender noch attraktiv machen will. Er muss ein Spezialist werden wie der Arzt, Steuerberater oder Rechtsanwalt, den man konsultiert, wenn es ernst wird, er muss seinen Erfahrungsvorsprung als Profi fuer bestimmte Loesungssegmente oder Probleme ausbauen.

Es gibt heute in Europa durchaus erfolgreiche Softwarehaeuser, wenngleich wenig Angebot im Bereich von Fertigsoftware. Ein erprobter Weg ist, ueber Auftragsentwicklungen Kenntnisse in einem bestimmten Bereich zu gewinnen. Ausserdem koennte eine aufgeschlossene Beschaffungspolitik der oeffentlichen Hand viel bewirken.

Die Europaeer werden es schwer haben, aufzuholen, und sie werden auch neuere Trends wieder verschlafen oder verpatzen. Man kann dann wieder das fehlende Venture-Kapital beschwoeren, den Nuernberger Trichter als Sonderinitiative ins Rahmenprogramm einbringen, "Eureka" rufen wie der alte Archimedes oder "Wir haben gesiegt" wie der alte Marathonlaeufer und dann tot umfallen. Schwierig bleibt es, wenn die Ursache der Probleme im eigenen Wesen liegt.

Als Christiane Floyd, heute Professorin an der Universitaet Hamburg, mir vor Jahren von ihren Erfahrungen in Kalifornien erzaehlte, sagte sie: "Wir Europaeer verweisen immer auf missglueckte Experimente aus Antike oder Mittelalter, dass Ikarus und der Schneider von Ulm schon gezeigt haben, dass man nicht fliegen kann - hier probiert man es einfach." Und in Deutschland gibt es noch etwas, das stoert: Die Unspassigkeit der Berufswelt: "To have fun", "to enjoy yourself" ist in den USA mit harter Arbeit durchaus vereinbar. In Deutschland verliert man sein Gesicht, wenn man bei der Arbeit zu viel lacht, oder wird fuer einen Alkoholiker gehalten.

Die Rechner-Kategorien

Universalrechner

- Taschenrechner, (Sub-)Notebooks, Personal Organizers, Palmtops...

- PCs, Laptops, Billig-Multimedia

- Workstations

- Mainframes, Server-Nodes

Spezialrechner

- "Embedded Systems" ("eingebettete Computer"): Automobilelektronik, Hausleittechnik, Toaster, Waschmaschine, Werkzeugmaschinensteuerung, Computerspiel, Chipkarte, Waffensystem, medizinische Geraetesteuerung...

- Supercomputer, insbesondere Parallelrechner

Quelle: Witt

Software-Entwicklungsmodalitaeten

Projektentwicklung

- Einzelentwicklung oder Integrationsleistung im Auftrag des Hardware-Anbieters

- Einzelentwicklung oder Integrationsleistung im Auftrag eines Software-Anbieters

- Einzelentwicklung oder Integrationsleistung im Auftrag eines Kunden (Endanwenders)

Produktentwicklung

- Entwicklung (auf eigene Rechnung) und Mengenvertrieb zum Beispiel ueber Distributoren

Quelle: Witt

(Software-)Besenbinder

Erster Besenbinder: Ich verstehe nicht, wie Du die Besen so billig anbieten kannst, fuer meine Besen stehle ich doch schon das Holz.

Zweiter Besenbinder: Ich stehle die Besen eben fertig.

(Aus einem Witzblatt von 1890)

* Dr. Jan Witt leitet bei der Digital PCS Systemtechnik GmbH die Software-Entwicklung.