"Europa muß neue Applikationen fördern"

Eurobit: Anwendungen hinken der Technik hinterher

12.10.1990

Die Branchenvereinigung Eurobit wurde 1974 als Zusammenschluß nationaler Organisationen von Büroausrüstungs- und DV-Systeme-Herstellern gegründet. Über die Ziele der Organisation sowie über die Situationen in den europäischen Märkten für DV-Equipment und Komponenten sprach ihr Präsident Bruno Lamborghini, gleichzeitig Senior Vice-President Strategie Planning von Olivetti, in Ivrea mit CW-Redakteur Heinrich Seeger.

CW: Welche Ziele hat Eurobit?

Lamborghini: Wir wollen die Interessen der angeschlossenen Mitglieder vertreten, wenn es um Themen wie Industriepolitik, technische Standards, Zölle oder Handelsfragen geht. Eurobit ist die offizielle Repräsentantin der informationstechnischen Industrie bei der Kommission der Europäischen Gemeinschaften und beim General Agreement on Tariffs and Trade (GATT). Die Kontakte zur EC-Kommission beziehen sich etwa auf Forschungsprogramme, zum Beispiel Esprit und Jessi. In Verbindung mit dem GATT stehen Handelsprobleme und -tarife, Antidumping - wo wir sehr stark engagiert sind - Standards, Sicherheit und Konformitätstests im Vordergrund.

In diesem Zusammenhang unterstützen wir alle Initiativen zur Vereinheitlichung des europäischen Marktes sowie Maßnahmen, die zu einer Marktausweitung beziehungsweise -öffnung beitragen. Diese sollen helfen, die Wettbewerbsnachteile gegenüber den USA und Japan zu eliminieren, die das wirtschaftlich noch fragmentierte Europa zu verkraften hat

CW: Welche Strategie müssen europäische DV-Hersteller verfolgen, welche Chancen haben sie im gemeinsamen Markt: Wird es eine weitere Konzentration geben oder bestehen Chancen für eine große Zahl von Anbietern in Nischenmärkten?

Lamborghini: Europa ist nach wie vor ein dynamischer Markt im Vergleich zu den USA, wo es mit dem Wachstum bergab geht. Diese Talfahrt könnte sich sogar verschlimmern, weil die Rezession offenbar unausweichlich ist, nicht nur wegen der Golfkrise. Der Europamarkt hat da eine bessere Perspektive: Wir können von Wachstumsimpulsen durch die bevorstehende Marktintegration ausgehen. In den Anwendungsfeldern Banken und Versicherungen etwa kann die Informationstechnik künftig eine zunehmend gewichtigere Rolle spielen. Gleichzeitig haben wir eine neue Perspektive durch die entstehenden Märkte in Osteuropa.

Ich bin mir natürlich nicht sicher, ob der europäische Markt auch wirklich weiterhin so wachsen wird wie im letzten Jahr oder der ersten Hälfte von 1990. Vielleicht wird es eine Verlangsamung des Wachstums geben - wofür es ja, gerade im PC-Markt, schon einige Anzeichen gibt: Die Wachstumsraten werden hier wohl von 30 Prozent 1989 auf 15 Prozent, vielleicht noch weniger in diesem Jahr absacken. Wie dem auch sei: 1993 ist eine große Chance für die europäische IT Industrie.

Diese ist gleichzeitig geschwächt, weil der Markt in der Vergangenheit fragmentiert war: Jedes Land hat seine jeweiligen Hersteller protektionistisch geschützt. Die DV ist aber eine globale Industrie; sie erfordert weltweiten Wettbewerb: Wenn Sie auf dem Weltmarkt nicht mithalten können, haben sie auch kaum eine Chance in ihrem Heimmarkt. Wie Sie sagten, findet im Moment eine Konzentration statt: Siemens/Nixdorf, aber auch Fujitsu/ICL - ob man es jetzt für richtig hält oder nicht. Es ist nicht die Aufgabe von Eurobit und auch nicht der EG-Kommission, in die Restrukturierung der Industrie einzugreifen; das obliegt brancheninternen Entscheidungen.

CW: Was bleibt Ihnen dann zu tun?

Lamborghini: Wir wirken auf die Regierungen und die EG-Kommission ein, daß sie Voraussetzungen schaffen für neue Applikationen. Das Ziel muß sein, die Voraussetzungen für einen breiteren Einsatz von Informationstechnologie zu schaffen. Der Markt hier sollte jedoch nicht nur Unternehmen europäischen Ursprungs offenstehen. Es sollte ein Markt sein auch für solche Player, die zwar in Europa entwickeln und produzieren, aber nicht hier zu Hause sind - etwa IBM oder auch Fujitsu.

Einer der Gründe für den stockenden DV-Markt ist, daß

wir bei einem dramatischen Fortschritt der Technologie nicht das entsprechende Wachstum der Anwendungen verzeichnen. Die Entwicklung neuen Anwendungen muß parallel verkaufen mit der Entwicklung neuer Standards, neuer Architekturen. Hier sind gemeinsame Anstrengungen auf europäischer Ebene gefordert.

CW: Konkretisieren Sie das bitte!

Lamborghini: Gefordert ist zum Beispiel die Entwicklung des Esprit-Programms in Richtung auf konkretere, anwendungsorientierte Ziele. In der EG-Kommission wird derzeit etwa auch das "European Level System" diskutiert. Die Idee dahinter ist, daß der Erfolg der europäischen Einigung sehr stark abhängt von einer Vernetzung der verschiedenen europäischen Behörden und Verwaltungen untereinander. Es soll im Grunde eine gemeinsame Anwendungsumgebung für Städte in Europa geschaffen werden.

Die IT-Industrie hat im letzten Jahr der Kommission ein Papier mit dem Titel "Transeuropean Systems" vorgelegt, das den Gedanken gesamteuropäischer Informationsnetze unterstützt. Ende 1989 beschloß der EG-Ministerrat dann unter anderem die Schaffung eines Netzes für die öffentliche Informationsverarbeitung. Anfang l990 legte der Ministerrat ein Rahmenprogramm vor. Dieses enthält ein Kapitel, das sich mit Telematik-Services von allgemeiner Bedeutung befaßt, also mit sogenannten Telematik-Systemen für die öffentliche Verwaltung, etwa in den Bereichen Gesundheit und Erziehung.

CW: Sehen Sie auch bei den kleinen und mittelständischen Unternehmen ein Wachstumspotential für Anwendungen?

Lamborghini: Prinzipiell sollte ein öffentliches Dienstenetz hauptsächlich Chancen für das Klein-Business bieten, weil diese Marktteilnehmer natürlich schwächer sind als Großunternehmen. Die meisten von denen haben ja bereits ihre eigenen Telekommunikations-Netze, die alle europäischen Länder erreichen. Aber der wirkliche Markt ist derjenige der kleinen und mittleren Unternehmen, die diese Möglichkeiten nicht haben; gleichzeitig bilden aber auch die Bürger der EG ein Nachfragepotential .

Nehmen Sie das Beispiel Arbeit: Ich habe derzeit noch einige Probleme, wenn ich in einem anderen europäischen Land arbeiten will, weil es eine Menge Zeit beansprucht, zum Beispiel die Sozialversicherungs-Leistungen zu transferieren. Auch gibt es noch immer massenhaft Unsicherheiten bei der Anerkennung akademischer Grade im Ausland. Eurobit beteiligt sich deshalb an der Entwicklung von europäischen Standards der Informationsübermittlung, denn ohne einen Rahmen solcher Standards wird nichts gehen.

CW: Welche Bedeutung haben aus Ihrer Sicht TK- oder Betriebssystem-Standards für europäische DV-Anbieter?

Lamborghini: Die Wettbewerbsfähigkeit europäischer Unternehmen auf dem Weltmarkt wird mit ihrer Hilfe zu nehmen - ich mache dabei allerdings keinen Unterschied zwischen Unternehmen europäischen Ursprungs und solchen, die hier niedergelassen sind. Es waren Europäer, die den Anstoß zur Entwicklung der OSI-Normen gegeben haben, und diese sind inzwischen zum allgemeingültigen Standard geworden. Oder Unix: Die europäische Industrie hat dessen Einführung als Betriebssystem-Standard für die öffentlichen Verwaltungen in Europa stark unterstützt. Unix und OSI zusammen sind enorm wichtig bei der Verschmelzung der noch weitgehend geschlossenen Märkte, und die öffentlichen Verwaltungen bilden noch immer die am stärksten abgeschotteten Ländermärkte.

CW: Unix wird in Europa stärker akzeptiert und ist weiter verbreitet als in den USA. Warum?

Lamborghini: In USA gibt es sicherlich eine größere Präsenz der proprietären Hersteller, allen voran IBM und DEC.

CW: Die sind allerdings auch in Europa präsent.

Lamborghini: Ich glaube, daß die Anwender in Europa mehr als in Amerika das Konzept der Offenheit akzeptiert haben und damit auch die Möglichkeit, zu verschiedenen Hardware-Anbietern zu gehen. Aber auch in den USA erwägen inzwischen öffentliche Anwender den Einsatz von Unix, etwa das Verteidigungsministerium. Es gibt also eine weltweite Entwicklung hin zu Unix; sogar IBM und DEC bewegen sich ja in diese Richtung.

CW: Wie weit kann diese Entwicklung gehen: Werden die proprietären DV-Welten irgendwann substantiell gefährdet sein?

Lamborghini: Ich glaube ja. Die Veränderungen werden gleichwohl nicht so schnell vor sich gehen, wie wir das gern hätten. Es ist eine Tatsache, daß es lange dauert, große Investitionen zu modifizieren, gar ganz umzuwerfen. Proprietäre Systeme machen eine sehr große Installationsbasis aus. Dennoch spielt sich hier eine Entwicklung ab, die zwar ihre Zeit beansprucht, aber natürlich und unaufhaltsam ist. Neue Anwendungen dürften eher an offenen als an proprietären Systemen orientiert sein, insofern wird auch die Entwicklung der europäischen Verbundnetze die Durchsetzung von Standard-Architekturen, also Unix und OSI fördern .

CW: Was muß auf dem Gebiet der Zoll- und Handelspolitik gegenüber außereuropäischen Ländern geschehen?

Lamborghini: Europa muß sich anderen Anbietern öffnen; andererseits müssen wir uns auch mit den Amerikanern und Japanern zusammensetzen, um deren Märkte für europäische Produkte zugänglich zu machen. Nichtamerikanische Hersteller bekommen wegen des "Buy-american-Act" bisher kaum ein Bein auf den US-Markt, und auch Japan ist sehr stark abgeschottet. Wenn man sich anschaut, was Bull nach der Übernahme von Zenith Data Systems passiert ist, zeigen sich die bitteren Auswirkungen dieses Protektionismus: Zenith hatte einen großen Anteil an der Beschaffung von Laptops für Bundesbehörden, jetzt sind sie völlig aus diesem Markt raus.

Informationstechnik ist eine Welt-Industrie, darum müssen alle nach den gleichen Regeln spielen. Man könnte also nach US-Vorbild ein "Buy-european-Programm" aufziehen. Besser wäre es allerdings, mit den Amerikanern und den Japanern zusammen Beschränkungen auf allen Seiten so weit wie möglich zu reduzieren. Tatsache ist jedoch leider, daß es für einen europäischen Hersteller nahezu unmöglich ist, irgendetwas in Japan zu verkaufen. Wir brauchen Verhandlungen auf nationaler Ebene und auf der Ebene der Handelsvereinigungen. Eurobit unterhält solche Kontakte.

CW: Es gibt Uneinigkeit über den Sinn der 14-Prozent-Zölle für Chips, die in die EG eingeführt werden. Sie sind für die Abschaffung, die Organisationen der europäischen Chip-Hersteller wollen nicht auf den Zollschutz verzichten. Kann hier Einigkeit erzielt werden?

Lamborghini: Wir unterstützen die Initiativen zur Stärkung der europäischen Chip-Industrie, denn wir glauben, daß wir eine starke Basis an europäischen Herstellern benötigen. Die Frage ist nur, wie wir das erreichen können. Jessi halten wir für eine gute, strategisch bedeutende Sache, aber genauso wichtig ist, daß die Equipment- und die Komponenten-Hersteller sich an einen Tisch setzen. Die IC-User-Group von Eurobit versucht, eine Verständigungsbasis zwischen Chip-Anwendern und -Herstellern zu schaffen. Zum Beispiel entwickeln wir Perspektiven über den Bedarf und künftige Qualitätsanforderungen.

Zwei Dinge halten wir für schlecht: Chip-Zölle und den Mißbrauch der Antidumping-Regeln zu dem Zweck, künstliche Bedingungen in einem so bedeutenden Markt wie dem für Komponenten zu schaffen. Letzteres könnte ungewollte Reaktionen der Anbieter provozieren. Beispiel RAM-Chips: Die Japaner monopolisieren diesen Markt, und sie können sich aussuchen, ob sie die Preise hochsetzen. Die Hersteller und Anwender von DV-Equipment haben das auszubaden: Schon eine fünfprozentige Steigerung der Chip-Preise kann die Wettbewerbsfähigkeit europäischer Anbieter erheblich beeinträchtigen, weil der Anteil der IC-Kosten an ihren Produkten so hoch ist. Wenn die Japaner wollen, können sie auch eine künstliche Verknappung in gezielt ausgesuchten Märkten herbeiführen.

Eurobit ist strikt gegen die Anwendung von Antidumping gegen japanische Hersteller. Das amerikanisch-japanische Halbleiterabkommen hat nicht den geringsten Vorteil für die US-Chip-Industrie gebracht: Ich erinnere an das Scheitern von US-Memories. Auf der anderen Seite hat es eine Menge von Nachteilen für viele Systemhersteller gebracht besonders für die kleineren. Das könnte den Europäern auch passieren, wenn die Chip-Zölle nicht fallen. Da kämpfen wir gegen die Entscheidung der EG Kommission an.

Europa ist die einzige Region, in der noch Hochzölle auf im portierte Komponenten erhoben werden. Die USA und Japan haben das völlig aufgegeben. Daraus entstehen für die europäischen Equipment-Hersteller höhere Kosten im Vergleich zu amerikanischen oder japanischen Konkurrenten. Eurobit will die Abschaffung aller DV-Zölle, nicht nur der für Komponenten. Wir gebrauchen auch nicht die derzeitige Vier-Prozent-Barriere für Equipment-Einfuhren aus Japan. Zugegeben: Die Amerikaner und Japaner bauen zwar nicht-tarifäre Handelshemmnisse auf; aber was Zölle angeht, müssen wir die gleichen Null-Regeln akzeptieren wie sie. Die Haltung der europäischen Chip Hersteller, auf den protektionistischen Maßnahmen zu bestehen, ist ein Anachronismus.

CW: Ist es Ihnen demnach gleichgültig, wer die Chips liefert, solange die Equipment-Hersteller, Ihre Mitglieder also, ihren Bedarf decken können?

Lamborghini: Was wir anstreben, ist die Freiheit der Wahl für die Chip-Kunden; dazu bedarf es auch der Präsenz wettbewerbsfähiger europäischer Quellen neben japanischen, amerikanischen oder auch koreanischen. Das japanische Monopol muß gemindert werden, da sind wir uns mit den Chip-Herstellern einig. Wir müssen jedoch eine Verzerrung des Marktes auf jeden Fall verhindern.