Minister Rüttgers verlangt mehr Eigenverantwortung

Erwerbsarbeit zum festen Tarif ist kein Zukunftsmodell

06.06.1997

CW: In letzter Zeit ist sehr viel davon die Rede, daß im Multimedia-Umfeld und in der Telekommunikation neue Jobs entstehen. Wie sieht Ihre aktuelle Prognose aus? Werden sich auch neue Berufe herausbilden?

Rüttgers: Die Informationstechnologie nimmt wie die Biotechnologie eine Schlüsselrolle ein. Hier entstehen viele Jobs mit Zukunft. Eine Studie von Arthur D. Little im Auftrag meines Hauses kommt zu dem Ergebnis: In Multimedia-Branchen können bis zum Jahr 2010 rund 210 000 neue Arbeitsplätze entstehen und 1,2 Millionen bestehende Arbeitsplätze gesichert werden.

CW: Was muß passieren, damit neue Arbeitsplätze eingerichtet werden?

Rüttgers: Neue Arbeitsplätze werden nicht da geschaffen, wo die alten verlorengehen. In Deutschland müssen wir deshalb auf Zukunftsbranchen wie auf High-Tech, Multimedia und Biotechnologie setzen.

Heute haben wir 4000 arbeitslose Chemiker und ebenso viele Ingenieure. Gleichwohl wissen wir mit Sicherheit, daß wir in wenigen Jahren nach Chemikern und Ingenieuren händeringend suchen werden.

CW: Eine weitere Möglichkeit, von der in letzter Zeit viel gesprochen wird, um die Zahl der Arbeitslosen zu senken, ist die Förderung von Unternehmensgründungen. Als wie realistisch bewerten Sie die Aussicht, daß sich Berufseinsteiger und IT-Profis selbständig machen?

Rüttgers: 50 Prozent der Hochschulabsolventen gehen in den öffentlichen Dienst. Nur 15 Prozent machen sich selbständig. Diesen Trend müssen wir umkehren. Ich setze hierbei große Hoffnungen auf unsere jungen Menschen. Eine Umfrage des Meinungsforschungs-Institutes Emnid unter 2000 Jugendlichen in Gesamtdeutschland kommt zum Beispiel zu dem Ergebnis, daß 56 Prozent der 14- bis 29jährigen, wenn sie die Wahl hätten, am liebsten als Selbständige arbeiten würden. Aufgabe der Politik und der Gesellschaft wird es sein, ihnen diesen Wunsch erfüllbar zu machen.

CW: Wie soll das gehen?

Rüttgers: Wir bewegen uns weg von der risikolosen Vollkasko-Gesellschaft, hin zu mehr Freiheit und Eigenverantwortung. In derselben Umfrage geben die Jugendlichen "Pflichtgefühl" als höchsten Wert an und setzen ganz klar auf Aus- und Weiterbildung und auf neue Technologien. Ein Boden, auf dem Selbständigkeit gut gedeihen kann.

CW: Kann sich hierzulande ähnlich wie in den Vereinigten Staaten eine Kultur der Selbständigkeit entwickeln? Wenn ja, unter welchen Voraussetzungen?

Rüttgers: Verhältnisse wie in den USA sind auch hier möglich. Die Wissensgesellschaft steckt zwar noch in den Kinderschuhen. Aber Trends sind deutlich erkennbar. Mit der Zunahme des Wissens verringert sich auch dessen Halbwertzeit. Das hat Folgen. So wird für den Wissensarbeiter der Zukunft etwa der Wechsel zwischen Erwerbstätigkeit und Weiterbildung selbstverständlich sein. Durch Telearbeit werden Mitarbeiter nicht mehr physisch an den Betrieb gebunden sein. Das virtuelle Unternehmen, das Mitarbeiter für einzelne Projekte mit Hilfe von vernetzten Computern unter einem virtuellen Dach vereint, tritt neben traditionelle Betriebe. All das wird die Selbständigkeit fördern, weil sowohl Arbeitnehmer als auch Arbeitgeber davon mehr Vorteile haben als von festen Angestelltenverhältnissen.

CW: Das ist aber mehr Wunsch als Realität.

Rüttgers: Vor allem die Banken müssen ihre Strategien ändern. Heute bekommt jemand, der eine Oma mit einem Grundstück hat, eher einen Kredit als der, der eine gute Idee hat. In der Wissensgesellschaft werden Unternehmen aus einer innovativen Idee heraus geformt. Folglich werden künftig Ideen abgeschätzt werden müssen, wenn es um eine Kreditvergabe geht. Wenn die deutschen Kreditinstitute sich hier nicht umstellen, werden andere, flinkere Banken ihre Geschäfte machen.

CW: Unlängst sagte ein Politiker in einem Vortrag in München, daß man nicht die Arbeitsmarktprobleme auf die jungen Leute abwälzen solle, indem man das hohe Lied auf die Selbständigkeit anstimmt. Die Zahl der Pleiten nehme stark zu.

Rüttgers: Das ist mir viel zu pauschal. Das Forschungs- und Bildungsministerium tut jedenfalls viel dafür, den Schritt in die Selbständigkeit zu erleichtern. Dazu sind wir auf allen relevanten Gebieten tätig. Mit dem Programm "Beteiligungskapital für junge Technologieunternehmen" mobilisieren wir Innovationskapital von bis zu 900 Millionen Mark. Mit dem Programm Futour (Förderung und Unterstützung technologieorientierter Unternehmensgründungen) kommen technologieorientierte Existenzgründer zum Zug. Gründungsberatung, finanzielle Zuschüsse und langfristige, begünstigte Beteiligungen werden hierfür gebündelt eingesetzt. Es werden Zuschüsse und Beteiligungen in Höhe von insgesamt rund 500 Millionen Mark zur Verfügung gestellt. Wir erwarten, daß durch diese Förderung bis Ende 1999 in den neuen Bundesländern rund 250 zusätzliche Hochtechnologie-Unternehmen entstehen, die in den nächsten fünf bis sieben Jahren 2500 bis 3000 anspruchsvolle und zukunftssichere Arbeitsplätze schaffen. Mit der Patentinitiative helfen wir unter dem Motto "Patente schützen Ideen - Ideen schaffen Arbeit" dabei, daß die Köpfe in Deutschland aus ihren guten Ideen wieder mehr Produkte machen.

CW: Zum Schluß ein Blick nach vorn: Wie sehen Sie die Zukunft der Arbeit?

Rüttgers: Ich glaube, daß sich unser Verständnis von Arbeit grundlegend ändert. In zwanzig Jahren werden wir Arbeit anders definieren als heute. In der Wissensgesellschaft wird die klassische Dreiteilung des Lebens in Ausbildung, durchgängige Erwerbsarbeit zu einem festen Tariflohn und anschließendem Lebensabend nicht mehr das dominierende Bild sein. Kürzere Erstausbildungen, ständige Weiterbildung, zeitweises Ausscheiden aus der Erwerbstätigkeit für eine intensivere Fortbildung werden häufiger. Das Nacheinander-Ausüben mehrerer Berufe in einem Menschenleben, das Arbeiten an Projekten und die sich daraus ableitende individuellere, projektbezogene Bezahlung, all das wird immer wichtiger und einmal die Normalität der Wissensgesellschaft darstellen.

CW: Konkreter: Womit wird man sich in Deutschland noch beschäftigen, wenn die Firmen dorthin wandern, wo die Märkte sind und wo sich billiger produzieren läßt, wie es beispielsweise bei der Software-Entwicklung in Asien oder Osteuropa der Fall ist?

Rüttgers: Das wird nicht geschehen. Es wird zwar oft behauptet, für deutsche Unternehmen bedeute Globalisierung vor allem Flucht vor den hohen Kosten im eigenen Land. Die Fakten stehen aber dagegen: Nur etwa 15 Prozent der deutschen Auslandsinvestitionen gingen in den letzten Jahren nach Mittel- und Osteuropa sowie Südostasien, 20 Prozent gingen in die USA und 65 Prozent nach Westeuropa. Kostenunterschiede können deshalb weder der einzige noch der entscheidende Grund für die Internationalisierung der deutschen Wirtschaft sein.

CW: Was dann?

Rüttgers: Es bedarf keiner prophetischen Gaben, um vorauszusagen, welche Auswirkungen die Globalisierung auf Gesellschaft und Wirtschaft haben wird. Wer im nächsten Jahrhundert von Wirtschaftsstandorten redet, wird synonym von Wissensstandorten sprechen können. Multinationale Unternehmen konzentrieren das technische Wissen ihrer jeweiligen Geschäftsfelder auf einige wenige Kompetenzzentren in der Welt. Daraus folgt, daß die Gesellschaften, die die Kompetenzfrage zufriedenstellend beantworten können, um den Erhalt des Wohlstandes nicht zu fürchten brauchen. In Deutschland haben wir alles Wissen der Welt. Aber wir müssen daraus wieder mehr Produkte machen.

CW: Und wie?

Rüttgers: Die Deutschen müssen sich wieder zu Leistung und alten Tugenden bekennen. Gemeinsinn, Opferbereitschaft, Innovationsfreude, wissenschaftliche Neugier, Verläßlichkeit und Qualität müssen auch in unseren Köpfen und Herzen wieder großgeschrieben werden.