Öffentliche Verwaltung/

Erste Schritte zur digitalen Hängemappe

17.01.1997

Auch den Industrie- und Handelskammern (IHKs) weht ein heftiger Wind ins Gesicht. Angesichts starrer Verwaltungsabläufe stößt die Wahrnehmung zahlreicher Aufgaben für die Öffentlichkeit und die Kammermitglieder an ihre Grenzen. Wer hochwertige und kostengünstige Leistungen flexibel anbieten will, muß sich zu einschneidenden Maßnahmen durchringen. Auf Basis anforderungsgerechter IT-Lösungen wappnen sich deshalb zahlreiche IHKs für die Zukunft. Service soll im Mittelpunkt stehen.

Um den Informationsfluß zwischen den einzelnen Kammern und ihrer Dachorganisation, dem Deutschen Industrie- und Handelstag (DIHT) in Bonn, ins Lot zu bringen, sind bereits über 70 Kammern mit dem Großrechner der IHK Gesellschaft für Informationsverarbeitung in Dortmund (GFI) vernetzt. Hier finden sich die Stammdaten aller in Deutschland registrierten Unternehmen. Anfragen aus dem Ausland, etwa nach bilateraler Kooperation, lassen sich über den zentralen Datenpool beantworten.

Seit einiger Zeit interessieren sich viele Kammern für elektronische Archivierung. Immer mehr Dokumente, sich türmende Papierberge und eine damit einhergehende Platznot riefen zahlreiche Kammerverantwortliche auf den Plan. "Wo lagern wir zugriffssicher unsere wichtigen Dokumente? Wie können wir dafür sorgen, daß die gewünschte Information schneller als bisher auf den Tisch der zuständigen Stelle gelangt?" lauten typische Fragen.

Angestammte papierverschwendende Arbeitsabläufe auf den Prüfstand zu stellen ist Voraussetzung für den anforderungsgerechten Einsatz der elektronischen Archivierung. Doch dabei darf es nicht bleiben: Papiergestützte Ablage-, Kopier- und Wiedervorlagetätigkeiten sollen mittelfristig ebenfalls digitalisiert sein. Workflow-Management heißt das Stichwort. Voraussetzung dazu, dies hat eine Umfrage unter DV-Leitern der Kammern gezeigt, sind allerdings gute Ergebnisse der Archivierungsprojekte.

Vor zwei Jahren hat zum Beispiel die IHK Hamburg mit der elektronischen Archivierung begonnen. Die mit 90000 Mitgliedern zu den größten Kammern Deutschlands zählende IHK wünschte sich ein System, das für spätere Anforderungen nach oben skalierbar sein würde und zudem in den Host integriert werden konnte. Die gewählte SNI-Lösung "Arcis" sollte eine einheitliche Archivierung der Firmenakten und einen übergreifenden Zugriff auf den Datenbestand über das PC-Netz gewährleisten, das auf Netware 3.12 und TCP/IP ausgelegt ist.

Haptische Bedürfnisse in der Chefetage

In einer Client-Server-Architektur übernimmt der RISC-Server sowohl die Verwaltung der Benutzer, der relationalen Datenbank als auch der optischen Speichermedien. Maximal 144 WORM-Disks (WORM = Write Once, Read Multiple) kann die Jukebox des Systems aufnehmen. Auf die Archivdienste greifen die Anwender über Windows-Clients zu.

Laut Klaus Rohwedder, dem DV-Leiter der Kammer, ist das Projekt inzwischen abgeschlossen. Die neue Applikation hat sich bei den Anwendern durchgesetzt. Rund 120 Mitarbeiter greifen täglich auf etwa 500 Seiten zu, und mit rund 50000 gescannten Firmenakten entspricht das Volumen rund 13 Tonnen Gewicht. Vorher stapelten sich Aktenberge in 18 hohen Rollschränken, die nur mit Leitern erstiegen werden konnten.

Trotz der unbestrittenen Vorteile des nunmehr eingesetzten elektronischen Archivs fällt die Bewertung laut Rohwedder unterschiedlich aus. "Während die Sachbearbeiter von der Lösung profitieren, ist das Topmanagement der Kammer eher unzufrieden." In digitalen Akten läßt es sich nicht blättern, wodurch offenbar die haptischen Bedürfnisse der Chefetage unerfüllt bleiben.

In dieser Gruppe stehe "die globale Information" ganz oben auf der Prioritätenskala. Für das Fußvolk jedoch zahlt sich die Investition in besserer Motivation aus, gelobt werden vor allem größerer Komfort und Zeitgewinn. Endlich, so Rohwedder, gebe es eine hinreichende Sicherung der Dokumente.

Die digitale Akte ist inzwischen auch bei der IHK Hannover jederzeit verfügbar. "Ich rufe Sie morgen zurück" - solche Standardfloskeln haben ausgedient. Matthias Richter, Verwaltungsleiter der Kammer, ist sehr zufrieden mit dem Archivierungsprojekt. Der Schritt zur digitalen Hängemappe habe sich als richtig erwiesen. Vor der Umstellung sei die Situation vor den Kunden nicht mehr zu rechtfertigen gewesen, der Leidensdruck habe enorme Ausmaße angenommen gehabt.

Die inzwischen eingesetzte Lösung "Hyperdoc" des Hamburger Softwarehauses Dr.Materna greift auf den Datenbestand des BS2000-Hosts zu und bietet den Anwendern eine bedienergerechte Oberfläche mit Windows-basierenden Eingabe- und Suchmasken. Das Client-Server-gestützte Hyperdoc sowie die Verwaltung der Index-Datenbanken von Informix laufen auf einem Archiv-Server. Um die Tauglichkeit des Systemes zu überprüfen, konzentrierte sich Ritter zunächst auf die Rechtsabteilung, die sich durch hohe Zugriffsquoten auf den Archivbestand auszeichnet.

Fragen Notare oder Mitgliedsfirmen den Bearbeitungsstand eines Vorgangs ab, lassen sich sofort die erforderlichen Dokumente laden und zum Beispiel per Fax aus dem System heraus versenden. Bei durchschnittlich rund 2200 Akten, die sich im Bearbeitungsstatus befinden, macht sich der zeitgleiche Zugriff auf die digitalisierten Dokumente schnell bezahlt. Mit einer zusätzlichen Wiedervorlage-Funktion ist die früher übliche Terminregistratur überflüssig geworden. Laut Ritter laufen die modernisierten Arbeitsprozesse "hervorragend". Eine hinzugenommene Workflow-Komponente solle die Bearbeitungswege "extrem verkürzen".

"Mehr Qualität für den Kunden" verspricht sich auch die IHK Berlin vom Einsatz ihres elektronischen Archivs. Wie DV-Leiter Dietmar Schmidt berichtet, stehe man kurz vor der Realisierung eines entsprechenden Projektes und wolle die Installation gegen Ende des nächsten Jahres um eine Workflow-Variante erweitern. Auf Empfehlung der Gesellschaft für Informatik (GFI) sei die Entscheidung zugunsten des SNI-Paketes Arcis gefallen, das im März 1997 mit der Übernahme der Altakten ins elektronische Archiv zum Einsatz kommen soll. "Auf organisatorische Anpassungen wollen wir verzichten", erklärt Schmidt den Projektansatz. Weil die Mitarbeiter nicht auf grundlegende Veränderungen vorbereitet sind, habe man sich ausschließlich für die Eins-zu-eins-Abbildung des Bestandes entschieden.

Die IHK rechnet mit einem geringeren Personalbedarf. Noch seien zahlreiche Aushilfen für die Aktensuche erforderlich, auf die später verzichtet werden könne. Ebenso wolle man dann auch von Neueinstellungen Abstand nehmen. Insgesamt liege das Einsparpotential bei rund 450000 Mark pro Jahr.

Ähnliches plant die IHK Duisburg. Wie ein Sprecher mitteilt, habe man die konzeptionelle Marschroute festgelegt, sich aber noch nicht für ein konkretes Angebot entschieden. Auf jeden Fall sollen elektronisches Archiv und Workflow zusammen auf den Prüfstand.

Einschlägige Erfahrungen mit der elektronischen Archivierung liegen inzwischen auch bei der IHK Düsseldorf vor. Sie ist gerade dabei, in der nordrhein-westfälischen Landeshauptstadt ein Pressearchiv auf die Beine zu stellen, das für die Beratung der Kammermitglieder und die Interessenpolitik der gesamten Kammer dringend gebraucht wird.

Über die mittlerweile voll vernetzten PC-Arbeitsplätze der mehr als 100 Mitarbeiter in Haupt- und Nebenstellen wird heftig recherchiert. Geschäftsführer Hans-Werner Knecht und DV-Leiter Wolfgang Richter hatten sich für das "Easy Archiv" der Easy GmbH aus Mülheim/Ruhr entschieden - gegen die Empfehlungen der GFI. Richter: "Die von anderen Kammern favorisierten Lösungen überzeugten uns nicht. SNI-Lösungen bieten uns unter dem Strich keine echten Vorteile." Anstatt sich dem auch vom DIHT vorgegebenen Trend anzupassen, erwägen die Verantwortlichen am Rhein sogar, ihre DV um eine Workflow-Lösung von Easy zu ergänzen.

Dennoch läuft das Archivierungsprojekt nicht ohne Probleme. Derzeit wird in Düsseldorf das Betriebssystem auf Windows NT umgestellt und die 486er Rechner gegen Pentium-200-Modelle ausgetauscht. Schwierigkeiten bereitet laut Richter die Anbindung bestehender Novell-Server an die WORM der Jukebox, die zudem relativ langsam arbeite. Auch der ISDN-Zugriff einer vorübergehend ausgelagerten Abteilung auf das Archiv könnte schneller sein. Ferner sei die Kommunikation zwischen TCP/IP und anderen Protokollen nicht immer zufriedenstellend. Trotz dieser Einschränkungen machen die Verantwortlichen der IHK Düsseldorf unverdrossen weiter und peilen die Einbindung von Workflow als nächsten Schritt an.

KörperschafT

Die Industrie- und Handelskammern (IHKs) sind Körperschaften des öffentlichen Rechts. In der Art einer Behörde nehmen sie hoheitliche Aufgaben wie zum Beispiel die Aus- und Weiterbildung verantwortlich wahr. Als Gutachter sind sie Ansprechpartner für Behörden und Parlamente in der Wirtschaftspolitik und vertreten die Interessen ihrer Kammermitglieder bei der Förderung der gewerblichen Wirtschaft.

Angeklickt

Papierberge und Aktenstöße sollten in der öffentlichen Verwaltung eigentlich der Vergangenheit angehören. Schließlich gibt es Verwaltungsreformen, seit es Verwaltungen gibt, und Bürgerfreundlichkeit ist auch keine Forderung jüngsten Datums. Dennoch steht es vielerorts schlecht um die Archivierung: Lange Suchvorgänge sind keine Seltenheit, und der unfähige "Kollege Computer" muß häufig als Entschuldigung für eine mangelhafte Dokumentenverwaltung herhalten. Einige IHKs zeigen jedoch, daß Verbesserungen möglich sind, und das bei sinkenden Kosten.

*Winfried Gertz ist freier Journalist in München.