Ergonomie/ In Grenzen läßt sich unvermeidbaren Belastungen entgegenwirken

Ergonomische Defizite notfalls durch positive Einflüsse mildern

09.01.1998

Grundlage von Diskussionen um eine menschengerechte Gestaltung der Bildschirmarbeit ist bisher vor allem die Richtlinie der Verwaltungs-Berufsgenossenschaft "Sicherheitsregeln für Bildschirmarbeitsplätze im Bürobereich" ZH1/618 aus dem Jahr 1980. Sie sorgte als erstes Regelwerk dafür, daß Arbeit an Monitoren als eine Gefahr für die Gesundheit der Mitarbeiter ernst genommen wurde. Zusammen mit den "Sicherheitsregeln für Büroarbeitsplätze" ZH1/535 von 1976 stellt sie Richtwerte für die Arbeitsplatzkomponenten Hardware, Arbeitsplatz und Arbeitsumgebung auf.

Diese haben bis jetzt ihre Gültigkeit behalten, decken jedoch aus heutiger Sicht das Problemfeld Ergonomie nicht vollständig ab. Soll die Bildschirmarbeit im Lauf eines Berufslebens keine arbeitsbedingten Beschwerden oder Krankheiten verursachen, sind weitere Einflußfaktoren zu berücksichtigen.

Solche weitergehenden Anforderungen haben erstmals die Verfasser der DIN 66234, Teil 8, aus dem Jahr 1988 formuliert. Es heißt dort, daß die Software der Arbeitsaufgabe angemessen, sich selbst erklärend, in Aufbau und Ablauf steuerbar, mit den gewohnten Erfahrungen konform und gegen Fehlbedienung robust sein soll.

Mit dem Kriterium der Aufgabenangemessenheit der Dialoggestaltung geriet die mit dem DV-System zu verrichtende Tätigkeit selbst ins Blickfeld. Die Erfahrung zeigt, daß das Arbeitsmittel auch die Tätigkeit veränderte. Die schnelle Informationsverarbeitung erhöht das Arbeitstempo. Mit der Vielfalt der verfügbaren Informationen wächst die Anforderung an die Konzentration. Die Arbeit wird dichter, was Folgen für die Gesundheit hat.

Eine neue Studie der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin aus dem Jahr 1997 belegt diesen Zusammenhang. Die Autoren weisen signifikante Abhängigkeiten krankheitsbedingter Fehltage von der Arbeitsorganisation nach. Einflußfaktoren sind der Grad des Entscheidungsspielraums, die Vielfalt der Tätigkeiten, Zeitdruck, Monotonie und Erholungspausen.

Auch die Wirkung des Faktors Zeit ließ sich nachweisen. Wer eine Tätigkeit bereits mehr als sechs Jahre ausübte oder älter als 45 Jahre war, reagierte auf monotone Arbeitsbedingungen mit erheblich stärkeren Beschwerden als jüngere Personen oder Mitarbeiter mit wechselnden Tätigkeiten.

Auf der anderen Seite kommen die Autoren zu dem Schluß, daß bei dem vorgefundenen Niveau der Hard- und Software und der Gestaltung der Arbeitsplätze die verbleibenden Unterschiede keine nachweisbaren Auswirkungen auf die Gesundheit hatten.

Mit zunehmender Umsetzung der ergonomischen Anforderungen in den Arbeitsplatzkomponenten Hard- und Software, Arbeitsplatz und -umgebung rückt der Aspekt der Organisation der Arbeit also in den Vordergrund. Eine Mißachtung dieser Zusammenhänge hat nicht nur negative Folgen für den einzelnen Mitarbeiter. Auch das Unternehmen erleidet durch den Anstieg der Fehltage einen finanziellen Schaden.

Fünf Komponenten bilden ein Arbeitssystem

In der EU-Richtlinie für Bildschirmarbeit (90/270/EWG) von 1990 findet die Arbeitsorganisation erstmals als Gegenstand der Ergonomie Berücksichtigung. Sie wurde Ende 1996 als Bildschirmarbeitsverordnung in bundesdeutsches Recht übernommen. Als Verordnung ist sie Teil des Arbeitsschutzgesetzes aus demselben Jahr. Die ergonomische Gestaltung des Bildschirmarbeitsplatzes oder besser die Bildschirmarbeit schließt somit fünf Komponenten ein: Hardware, Software, Arbeitsplatz, Arbeitsumgebung und Arbeitsorganisation.

Wie ist nun mit den Anforderungen insgesamt umzugehen? In den Unternehmen hat sich eine Fülle unterschiedlicher DV-Anwendungen angesammelt, die bis zu 30 Jahre im Einsatz sind. Es kommen stetig neue Entwicklungen wie Internet oder Bildverarbeitung hinzu, deren Gestaltung unternehmensintern kaum oder gar nicht zu beeinflussen sind. Normen wie die DIN EN 29241-3, in der die Grenzwerte für Schriftgrößen festgelegt sind, treten in Konkurrenz zur Forderung nach Aufgabenangemessenheit, weil in den Anwendungen mehrere Fenster gleichzeitig geöffnet sein sollen.

Wie ist damit umzugehen? Vor dieser Frage stehen sowohl Org./ DV-Leiter als auch Betriebsräte, die sich mit dem Thema Gesundheitsschutz auseinandersetzen. Die begrenzte Verfügbarkeit der Ressourcen Zeit, Personal und Finanzen, aber auch die von den Normen nicht abgedeckten neuen technischen Entwicklungen erfordern eine Strategie, die sich in der rigiden Anwendung der Normen keinesfalls erschöpfen kann.

Vielmehr ist von einem ganzheitlichen Ansatz auszugehen. Und der besteht darin, den Bildschirmarbeitsplatz mit seinen ergonomisch relevanten Komponenten als ein Arbeitssystem zu betrachten. Der Begriff System soll ausdrücken, daß die Bestandteile in wechselseitiger Beziehung zueinander stehen, sich gegenseitig beeinflussen und erst in ihrer Gesamtheit sinnvoll zu bewerten sind.

Mit diesem Verständnis vergrößert sich die Palette der Handlungs- und Lösungsmöglichkeiten, weil sich die Schwächen einer Komponente durch gezielte Maßnahmen in einer anderen kompensieren lassen. Voraussetzung bleibt natürlich, daß ein akzeptabler Mindeststandard gewährleistet ist.

Eine Anwendung der Bildverarbeitung, bei der Dokumente sehr unterschiedlicher Qualität dargestellt werden, verlangt es beispielsweise, beim Bildschirmgerät nicht zu knausern. Und die Sachbearbeiter sollten frei entscheiden können, ob sie von schlecht lesbaren oder mehrseitigen Dokumenten einen Ausdruck machen wollen - wobei der Drucker nahe beim eigentlichen Arbeitsplatz aufgestellt sein sollte.

Bei dem Systemansatz nimmt die Komponente Arbeitsorganisation eine besondere Stellung ein. Dies wird deutlich, wenn man die Anforderungen an die Arbeitsorganisation betrachtet. Die Europa-Norm EN 29241-2 "Ergonomische Anforderungen für Büroarbeit mit Bildschirmgeräten" enthält in ihrem Teil 2 Leitsätze dazu (siehe Kasten). Es sind darin Merkmale gutgestalteter Arbeitsaufgaben aufgelistet mit der Forderung nach anspruchsvollen, ganzheitlichen, die Fähigkeiten der Mitarbeiter herausfordernden Tätigkeiten.

Damit unterscheiden sie sich in ihrem Charakter grundlegend von den Anforderungen an die übrigen Komponenten des Arbeitssystems Bildschirmarbeit. Die haben die Belastungsminimierung zum Ziel. Die Anforderungen an die Gestaltung der Arbeitsorganisation eröffnen dagegen sozusagen eine neue Dimension, indem gesundheitsförderliche Maßnahmen möglich werden. Dadurch kann eine gute Arbeitsorganisation kompensierend wirken.

Dieser Zusammenhang wurde Teilnehmern in einem Seminar sehr deutlich, die die Aufgabe hatten, ihren Bildschirmarbeitsplatz so zu malen, wie sie ihn heute erleben und wie sie ihn sich in fünf Jahren vorstellen. Einige Teilnehmer erschraken vor ihrem eigenen Zukunftsbild. Sie hatten klinisch reine, normgerechte Arbeitsplätze gezeichnet. Dort aber wollten sie nicht arbeiten. Es fehlte der Anreiz, das herausfordernde Moment.

Damit eröffnet sich ein weiterer Aspekt, der in der EN-Norm schon angesprochen ist. Dort stehen die Adjektive "angemessen" und "effizient" gleichrangig nebeneinander. Ein so verstandener Ergonomiebegriff enthält eine weitgehende Deckung ergonomischer und betriebswirtschaftlicher Ziele.

Diese Erkenntnis folgt aus einem Ansatz, der auch den Leitsätzen der Norm EN 29 241-2 zugrunde liegt. In ihm wird Arbeit gleichgesetzt mit menschlichem Handeln, das als eine den Menschen auszeichnende besondere Fähigkeit gilt. Dieses Handeln ist durch drei Merkmale gekennzeichnet:

- Es ist zielgerichtet, indem das Planen, Entscheiden, Ausführen und schließlich das Vergleichen des Ergebnisses mit dem beabsichtigten Ziel eine Einheit bilden.

- Es ist ein sozialer Vorgang, weil Menschen in Gemeinschaften leben, deshalb überwiegend gemeinschaftliche Ziele verfolgen und dazu die Fähigkeit besitzen, sich abzustimmen.

- Es lebt vom engen Kontakt zum Gegenstand des Handelns, indem das Ziel um so effizienter erreicht wird, je umfassender seine Eigenschaften und seine Umgebung bekannt sind.

Diese Merkmale finden sich in unseren alltäglichen Tätigkeiten wieder, sei es bei Urlaubsvorbereitungen oder beim Einkaufen. Wir suchen stets nach einem Lösungsweg, der bei möglichst geringem Aufwand das bestmögliche Ergebnis liefert. Die gute Kenntnis des Arbeitsgegenstands ist ebenso wie die Bekanntheit des Urlaubsorts oder der bevorzugten Speisen der Familie für den Erfolg der Handlungen von entscheidender Bedeutung.

Gelingen unsere Handlungen, ziehen wir daraus ein Stück Befriedigung, auch wenn wir das "Endprodukt" nicht selbst konsumieren. Für diesen in der Arbeitswelt geltenden Normalfall ist deshalb auch die "Rückmeldung über die Aufgabenerfüllung" als gesondertes Merkmal guter Aufgabengestaltung in der EN 29241-2 ausdrücklich enthalten.

Bei der Umsetzung der Anforderungen an die Gestaltung der Arbeitsorganisation in die Praxis gibt es keinen einzig optimalen Weg. Die konkreten Bedingungen und vorhandenen Defizite sind gründlich auszuloten.

Bei Banken und Versicherungen empfiehlt es sich beispielsweise auch unter dem Aspekt der Ergonomie, die Tätigkeiten nach Geschäftsprozessen zu organisieren und nach Kundengruppen auf die Sachbearbeiter zu verteilen. Neben der Forderung nach Ganzheitlichkeit verstärkt diese Maßnahme auch die Nähe zum Arbeitsgegenstand. Je umfassender das Bild vom einzelnen Kunden ist, desto angemessener kann er mit Angeboten bedient beziehungsweise über seine Anliegen entschieden werden.

Entscheidungen über Kundenwünsche sollten des weiteren möglichst die Mitarbeiter und nicht ein DV-System treffen, um die menschliche Fähigkeit zur effizienten Entscheidung entsprechend der aktuellen Situation zu fördern und Nutzen daraus zu ziehen. Das DV-System sollte lediglich die erforderlichen Informationen zur Verfügung stellen.

Gleiches gilt für die Bereiche Einkauf und Vertrieb in allen Branchen. Durch die Zusammenfassung von Disposition und Einkauf bei gleichzeitiger Verlagerung in die Werkstatt wird die Aufgabe nicht nur umfassender und damit ganzheitlich, sondern durch den schon allein räumlich engen Bezug zum Arbeitsgegenstand bedeutsamer im Gesamtvollzug. Ergonomie als Aufgabe greift hier in die Gesamtstruktur eines Unternehmens ein.

DIN EN 29 241-2 (Auszug)

Ergonomische Anforderungen für Bürotätigkeiten mit Bildschirmgeräten, Teil 2: Anforderungen an die Arbeitsaufgaben - Leitsätze

Merkmale gut gestalteter Arbeitsaufgaben

Gleichzeitig mit ihrem Beitrag zum Hauptzweck des bildschirmgestützten Informationsverarbeitungssystems sollte eine angemessene und effiziente Gestaltung von Arbeitsaufgaben für Bürotätigkeiten

- die Erfahrungen und Fähigkeiten der Benutzergruppen berücksichtigen,

- vorsehen, daß eine angemessene Vielfalt von Fertigkeiten, Fähigkeiten und Aktivitäten angewandt wird,

- sicherstellen, daß die zu erledigenden Aufgaben als ganzheitliche Arbeitseinheiten statt als Bruchstücke davon erkennbar sind,

- sicherstellen, daß die zu erledigenden Aufgaben einen bedeutsamen, dem Benutzer verständlichen Beitrag zur Gesamtfunktion des Systems leisten,

- einen angemessenen Handlungsspielraum hinsichtlich Reihenfolge, Arbeitstempo und Vorgehensweise für den Benutzer vorsehen,

- ausreichende Rückmeldung über die Aufgabenerfüllung in für den Benutzer bedeutsamer Weise vorsehen,

- Gelegenheit zur Weiterentwicklung bestehender und die Aneignung neuer Fertigkeiten im Rahmen der Aufgabenstellung vorsehen.

Angeklickt

Gesetzliche Regelungen und Marktkräfte haben dafür gesorgt, daß die Arbeitsgeräte nicht mehr so die Gesundheit gefährden, wie es noch vor wenigen Jahren der Fall war. Neue Regelwerke tragen der Erkenntnis Rechnung, daß das gesamte Umfeld, in dem Arbeit stattfindet, den Menschen beeinflußt. Das heißt nicht, daß Büros und PCs schnuckeliger gestaltet sein sollten. Vielmehr kann eine attraktive, die Fähigkeiten der Mitarbeiter ansprechende Organisation der Arbeit manche Defizite, beispielsweise die unsinnige Anordnung von Buchstaben auf unseren Tastaturen, ausgleichen.

*Norbert Klöcker ist Berater für Organisation und Personalentwicklung in Braunschweig.