IT in der Automobilindustrie/Europäisches Branchennetz (ENX) spiegelt Trends im Automobilbau

ENX wechselt auf die Überholspur

13.09.2002
In der Formel 1 des Outsourcing hält die Automobilindustrie seit Jahren die Pole-Position. Zwischen 70 und 80 Prozent ihrer Wertschöpfung haben die Hersteller bereits ausgelagert, Tendenz: weiter steigend. Davon profitiert auch das European Network Exchange (ENX). Von Manuel Göpelt*

Der Bedarf an unternehmensübergreifender Kommunikation in der Europäischen Automobilindustrie ist groß. Deshalb wurde Mitte 2000 das geschlossene Branchennetz ENX (European Network Exchange) aus der Taufe gehoben. Ziel war, den Fahrzeugbauern eine ebenso sichere wie leistungsstarke Plattform zu geben, um die Vernetzung ihrer Wertschöpfungskette voranzutreiben. Schon 2001 begann der Rollout des Systems. Trotz angespannter Konjunkturlage hat der Markt das Angebot angenommen. Seither ist das Netz ein Spiegel für eine Reihe von übergeordneten IT-Trends im Automobilbau.

"Künftig wollen wir in Europa unseren gesamten Datenaustausch über die Plattform abwickeln." Hans-Georg Potyka, verantwortlich für den ENX-Einsatz beim Systemzulieferer Delphi, weist dem Extranet der Automobilindustrie einen zentralen Platz in seiner IT-Strategie zu. Den entscheidenden Vorteil gegenüber dem Internet sieht Potyka darin, "dass ENX uns einen einzigen Netzzugang bietet, der sicher und verfügbar ist. So können wir uns darauf verlassen, dass geschäftskritische Daten rechtzeitig an die Adressaten gelangen, für die sie ausschließlich bestimmt sind."

Bis Ende 2001 steuerte Delphi, mit weltweit mehr als 190000 Mitarbeitern einer der führenden Anbieter in der Branche, die Kommunikation mit Kunden und Lieferanten in Europa ausschließlich über ISDN-Verbindungen. Anfang dieses Jahres stieg das Unternehmen auf Wunsch von Renault in das Branchennetz ein. Seither erfolgt ein sukzessiver Wechsel auf die neue Plattform. Der Nutzungsschwerpunkt liegt derzeit noch eindeutig auf dem Austausch von Entwicklungsdaten. Hierbei hat Delphi damit begonnen, auch seine eigenen Lieferanten einzubinden. Zusätzlich zum Dateitransfer setzt das Unternehmen ENX mittlerweile auch zur Online-Kommunikation ein. Unter anderem besteht eine Direktverbindung zu Renaults Extranet, sodass die Produktentwickler des Zulieferers zum Beispiel auf ausgewählte Datenbanken direkt zugreifen können.

Zulieferer nachgelagerter Ebenen folgen

Die Entwicklungen bei Delphi spiegeln die allgemeine Akzeptanz wider, die der Fahrzeugbau hierzulande dem Branchennetz entgegenbringt. Während mit Audi, BMW, Daimler-Chrysler, Porsche und Volkswagen fast alle deutschen OEMs (Original Equipment Manufacturer) seit dem vergangenen Jahr am Netz teilnehmen, sind inzwischen auch fast alle großen Systemlieferanten hinzugekommen. Diesem generischen Wachstum entsprechend folgen jetzt verstärkt auch die Zulieferer der nachgelagerten Ebenen. Derzeit haben in Deutschland 200 Unternehmen einen Zugang. Mehrere Tausend sollen es in den kommenden Jahren werden.

Viele mittelständische Vorlieferanten haben sich aber noch nicht entschieden, ob sie am Branchennetzwerk teilnehmen wollen. Viele tauschen auch Daten über das Internet aus. "Einer der entscheidenden Faktoren wird die Höhe des Sicherheitsbedürfnisses bei den Unternehmen sein", prognostiziert Theodor Kremkow, Experte für Branchennetze bei T-Systems, dem Systemhaus der Deutschen Telekom. Die Telekom ist neben France Télécom/Equant und Telefonica einer der drei zertifizierten Service-Provider des Branchennetzes und betreibt mit Abstand die meisten Zugänge. In puncto Sicherheit deckt ENX die Anforderungen der Fahrzeugbauer erheblich besser ab als das Internet. Als geschlossenes Netz mit eigener Infrastruktur bietet es unbeteiligten Dritten keine Angriffsflächen. Darüber hinaus sorgen Highend-Verschlüsselungstechniken und ein Trustcenter zur eindeutigen Authentifizierung der Teilnehmer für weitere Datensicherheit.

Ein Netzwerk für alle Partner

Zusätzlich zur höheren IT-Sicherheit werden die umworbenen Zulieferer ihren Eintritt allerdings auch davon abhängig machen, ob sie mit dem Branchennetz ihre Kommunikationskosten senken können. Angesichts der weiterhin angespannten Konjunkturlage investieren sie mehr denn je nur noch in solche Technologien, die sich rasch rechnen. Der Schlüssel zu niedrigeren Kosten liegt bei ENX in der Höhe der Marktdurchdringung: Je mehr der zu beliefernden Kunden den neuen Standard einsetzen, desto geringer wird die Zahl der Insellösungen, welche die Zulieferer bislang vorhalten mussten, um im Geschäft zu bleiben.

Vor diesem Hintergrund sieht Lennart Oly, seit 1. September 2002 Geschäftsführer der ENX Association, eine seiner Hauptaufgaben darin, die Verbreitung des Netzes mit weiteren Angeboten zu unterstützen. "Alles, was wir tun, muss den Automobilzulieferern einen klaren Mehrwert bieten. Dies gilt insbesondere für mittelständische Unternehmen." Zum gleichen Ergebnis kommt Professor Gunter Zimmermeyer, Geschäftsführer des Verbands der Automobilindustrie, der zu den Initiatoren des Branchennetzes zählt: "Der VDA vertritt die Interessen von Herstellern und Zulieferern gleichermaßen. Deshalb legen wir großen Wert darauf, dass das Netzwerk für alle Partner im Wertschöpfungsnetzwerk unserer Branche Nutzen bringt."

Collaborative Engineering

Worin nun liegen Anwendungen mit Mehrwert? Auf der Plattform dominieren zurzeit Anforderungen aus dem Umfeld des Produktdaten-Managements (PDM) für die Fahrzeugentwicklung. Der Austausch großvolumiger CAD/CAM/CAE-Dateien macht rund vier Fünftel des aktuellen Verkehrs aus. Bei diesen Datenpaketen spielt ENX einen seiner größten Vorteile gegenüber dem Internet aus: Über vertraglich garantierte Bandbreiten erhalten Anwender eine echte Ende-zu-Ende-Verfügbarkeit. Auf diese Weise lassen sich die sensiblen Entwicklungsinformationen schnell und zuverlässig zwischen den Partnern austauschen. Um die Kompatibilität des Transfers zu gewährleisten, wird die Konvertierung von unterschiedlichen CAD-Formaten über das Branchennetz unterstützt. Dazu kooperiert T-Systems mit dem Darmstädter PDM-Spezialisten Pro Step.

Ausgehend vom Produktdatentransfer machen jetzt mehr und mehr Netzteilnehmer den Schritt zur Bildung von unternehmensübergreifenden Entwicklungsverbünden. Beim kollaborativen Engineering liegt das Ziel darin, die Designprozesse zu parallelisieren. Auf diese Weise lassen sich die Entwicklungszyklen und die Markteinführungszeit (Time to Market) neuer Produkte spürbar verkürzen. Auf Online-Konferenzen nutzen Hersteller und Zulieferer ENX für ihre gemeinsame Konstruktions- und Entwicklungsarbeit. Auf diese Weise integrieren Fahrzeugbauer ihre Wertschöpfungskette, ohne dabei auf zeitliche oder geografische Grenzen länger Rücksicht nehmen zu müssen. Hinzu kommen neue Anwendungen zur Digitalen Fabrik. Hier geht es darum, Produktentwicklung und Fertigungsplanung so früh wie möglich aufeinander abzustimmen, um Entwicklungskosten zu senken und den Produktionsstart zu beschleunigen.

Eine Reihe von Unternehmen nutzt ENX auch für ihre Intranet-Kommunikation. Eine solche Strategie rechnet sich vor allem bei der Vernetzung verteilter Standorte. Als einer der größten Anwender betreibt zum Beispiel Dunlop Goodyear sein gesamtes Händlernetz über die gleiche Plattform, die für ENX realisiert wurde. Anstatt ein eigenes Corporate Network für seine insgesamt 140 Standorte zu unterhalten, nutzt der Reifenausrüster das Branchennetz als Outsourcing-Plattform. Ebenso steuern viele Netzteilnehmer ihren E-Mail-Verkehr über das Extranet. Hersteller und Anbieter nutzen diese Option bereits standardmäßig. Unternehmen wie die Volkswagen AG haben ihre E-Mail-Server bereits so konfiguriert, dass eine Nachricht ausschließlich über ENX versandt wird, wenn der Adressat einen Zugang hat. Auch hier ist das Ziel der optimale Schutz sensitiver Daten, die im ENX immer verschlüsselt übertragen werden, ohne dass sich der Anwender darum kümmern muss.

Künftig sollen auch betriebswirtschaftliche Anwendungen über das Branchennetz laufen. In der Integration des Lieferketten-Managements, der Produktionssteuerung und des Customer-Relationship-Managements sehen die Netzbetreiber die nächste Ausbaustufe. "Nachdem zunächst der Filetransfer im Vordergrund stand, kommen jetzt das Collaborative Engineering und die kaufmännische Nutzung hinzu", skizziert Theodor Kremkow die Evolution des Netzes. Zweifelsohne ist der Bedarf dafür bereits vorhanden. Kunden und Lieferanten müssen verstärkt in der Lage sein, selbständig in den Systemen ihrer Partner auf Logistik-, Fertigungs- und Vertriebsdaten zuzugreifen.

Doch um unternehmensübergreifende Prozesse über ENX zu planen und zu steuern, muss die Zahl der Netzteilnehmer, hier vor allem die der Zulieferer, steigen. Sobald dies erreicht ist, sollen dann auch Standardsoftware-Pakete als Miet-Dienste angeboten werden. Ähnlich wie das Application Service Providing (ASP) im offenen Internet warten diese Pläne noch auf den völligen Durchbruch. Konkrete ASP-Angebote konzentrieren sich derzeit auf den CAx-Bereich. Hier können Entwicklungsteams über den Dienstleister workcenter Softwarelizenzen flexibel mieten oder über das Branchennetz nutzen. Für Zulieferer lohnt sich dies vor allem während der Ausschreibungsphase, da sie ein vom Auftraggeber gefordertes Fremdsystem nicht unbedingt erwerben müssen.

Die insgesamt gesehen positive Akzeptanz der Automobilindustrie bestärkt die ENX-Betreiber darin, ihr Angebot weiter auszubauen. In der Kompatibilität zum amerikanischen Branchennetz ANX liegt derzeit die größte Herausforderung. Eine Vereinbarung mit der kommerziellen ANX-Betreibergesellschaft steht hier noch aus. Die Service-Provider stehen aber auch für eine kurzfristige technische Lösung bereit.

Plattform auch für andere Branchen

Für eine Anbindung des japanischen Netzwerks JNX fehlte bislang der konkrete Bedarf. Dieser wird spätestens durch die EU-Altautoverordnung entstehen, die ab 2004 verbindlich in Kraft tritt. So hat beispielsweise Toyota bereits die Anforderung geäußert, dass der Datenaustausch mit den entsprechenden EU-Datenbanken über JNX laufen müsse, da der japanische Konzern eine entsprechende Kommunikation über das Internet aus Sicherheitsgründen ablehnt. Da JNX genauso wie ENX als Non-Profit-Organisation strukturiert ist, sollte eine schnellere Einigung als mit ANX möglich sein.

Zusätzlich zur weiteren geografischen Markterschließung planen die Service-Provider, die Leistungen ihrer Plattform auch anderen Wirtschaftszweigen anzubieten. Theodor Kremkow hat ehrgeizige Pläne: "Unser Fokus liegt auf der Luft- und Raumfahrtindustrie, dem Maschinen- und Anlagenbau sowie der chemischen und pharmazeutischen Industrie. Ähnlich wie der Fahrzeugbau werden auch diese Branchen eine leistungsstarke und zuverlässige Netzinfrastruktur brauchen, die den Zugriff Dritter ausschließt." (bi)

*Manuel Göpelt ist freier Autor in Köln.

Sicherheitsstrategie von ENX

ENX verwendet den Internet-Standard IPSec als Rahmenwerk, um den IP-Verkehr zu verschlüsseln, die Teilnehmer zu authentifizieren und die Integrität der Daten zu sichern. Mit Triple-DES (Schlüssellänge: 168 Bits) kommt der aktuelle Standard in der Verschlüsselungstechnologie zum Einsatz. Ein Wechsel auf den gerade in der Entwicklung befindlichen AES-Standard ist jederzeit möglich. Darüber hinaus ist ENX das einzige kommerziell nutzbare Extranet, das ein Trust Center integriert hat, um alle Schlüssel notariell zu registrieren und somit vor Verfälschungen Dritter zu schützen. Das Trust Center der Telesec gehört zu T-Systems und ist derzeit die einzige Zertifikationsstelle im Netz, die auch von den anderen ENX-Service-Providern genutzt wird.

Extranet für den europäischen Fahrzeugbau

ENX (European Network Exchange) ist eine auf die Anforderungen der europäischen Automobilindustrie zugeschnittene Kommunikationsplattform. Sie verbindet Hersteller und Systemlieferanten mit den nachgelagerten Zulieferern. Auf Basis von Internet-Standards bietet ENX eine eigene Netzinfrastruktur für die unternehmensübergreifende Zusammenarbeit. Die Extranet-Lösung unterstützt alle IP-basierenden Anwendungen. Die Zahl der Zugänge und die gewünschten Bandbreiten sind skalierbar. Eine Multiprovider-Strategie stellt eine europaweite Ende-zu-Ende-Verfügbarkeit sicher.

Zu den Service-Providern gehören neben der Deutschen Telekom (T-Systems) France Télécom und die spanische Telefonica. Derzeit ist auch AT&T in der Zertifizierung. Hierüber entscheidet die ENX Association, der alle europäischen OEMs, vier europäische Automobilverbände und einige große Zulieferer angehören. Als nicht profitorientierte Organisation vertritt die ENX Association die Interessen der Automobilindustrie gegenüber den Service-Providern. Geschäftsführer der in Paris und Frankfurt ansässigen Gesellschaft ist seit dem 1. September 2002 Lennart Oly.