Gesamtlösungsangebot gab Ausschlag für SNI

Entsorgungsfirma wechselt von AS/400 zu R/3-Pilotprojekt

30.10.1992

Die Ties Neelsen GmbH & Co, ein Kieler Entsorgungsunternehmen, hat seit dem 1. Oktober 1992 als Pilotanwender das Modul Finanzwesen der neuen

Software R/3 im Praxiseinsatz getestet. Der Projektstart erfolgte im Mai. Hardwarebasis ist eine Client-Server -Lösung mit dem RISC-Rechner RM600 der Siemens-Nixdorf Informationssysteme AG (SNI) und PCs sowie X-Terminals. Ties Neelsen ist einer der ersten Anwender, der sich für das Alles-aus-einer-Hand-Angebot "R/3 Live" entschieden hat.

Das Zeitalter der DV begann bei der Ties Neelsen GmbH & Co 1957 mit der Lochkartenmaschine. Schon frühzeitig übernahm das Unternehmen auch Rechenzentrums-Dienstleistungen für verbundene Unternehmen, für Arbeitsgemeinschaften mit eigener Beteiligung und für Dritte. Heute lassen 15 in der Entsorgungswirtschaft tätige Firmen und Konsortien ihre Daten bei Ties Neelsen verarbeiten. Der Betrieb ist mit rund 700 Mitarbeitern mittelständisch strukturiert, in den Anforderungen an die Buchhaltung aber durchaus mit einem Großunternehmen vergleichbar.

Einsatz von Unix-Systemen drängte sich geradezu auf

Zu bewältigen sind 2000 Sachkonten, 100 000 Debitoren, 1000 Kreditoren sowie im monatlichen Schnitt 20 000 offene Posten und 1500 Mahnungen .Das Kieler Entsorgungsunternehmen hat seine wesentlichen Daten bisher auf einer AS/400 von IBM verarbeitet. In den Bereichen Finanzbuchhaltung, Lohn und Gehalt wurden Standardlösungen eines Softwarehauses eingesetzt. Für die abfallwirtschaftliche Logistik entwickelte Ties Neelsen eine komplexe individuelle Software für die AS/400 .

Für die Ties Neelsen GmbH & Co ergab sich im Laufe des letzten Jahres in mehrfacher Hinsicht ein Handlungsbedarf für neue DV-Lösungen. Die vorhandene Buchhaltung war auf Dauer den steigenden Anforderungen nicht mehr gewachsen. Vor dem Hintergrund neuer Abfallentsorgungskonzepte sind außerdem erhebliche Ergänzungen der Logistikanwendungen erforderlich, wobei man nicht länger in herstellerabhängige Systemumgebungen investieren wollte. Ferner sollten grafische Benutzeroberflächen die Arbeit des Anwenders erleichtern. Als alleiniger geschäftsführender Gesellschafter bestand Ties Neelsen darauf, die Abhängigkeit in der DV von einem bestimmten System oder Lieferanten so gering wie möglich zu halten. Auch als Geschäftsführer der übergeordneten R.E.N. Führungsgesellschaft befürwortet er weiterhin den Einsatz von offenen Systemen .

Uwe Töpfer, der die Firma Ties Neelsen in DV-Fragen berät, präzisiert die Vorstellungen des Unternehmens von offenen Systemwelten: "In der heutigen Situation drängt sich bei der Kieler Größenordnung der Einsatz von Unix-Systemen geradezu auf. Abgesehen davon spielt bei Ties Neelsen die Hardware für die Auswahl neuer DV-Systeme eher eine untergeordnete Rolle, es kommt auf die Gesamtlösung an."

Angesichts dessen entschied sich die Ties Neelsen GmbH & Co 1991 grundsätzlich dafür ,die Logistikanwendungen mittelfristig auf eine neutrale Plattform zu portieren und hierfür einen eigenen Unix-Rechner anzuschaffen. Geplant ist, den Anwendungstransfer mit 4GL-Tools von Progress durchzuführen.

Für die Bereiche Finanzwesen, Personalwirtschaft, Kostenrechnung und Anlagenwirtschaft wurde im letzten Jahr eine auf Unix-Rechnern lauffähige Standardsoftware gesucht. Während dieser Recherchen erfolgte die Ankündigung von R/3, einer neuen integrierten Standardsoftware der SAP A6 für den Einsatz in offenen Systemumgebungen. Berater Uwe Töpfer: "Ausgehend vom Leistungsumfang von R/2 waren wir nach einem ersten Studium der Architektur und des Leistungsumfangs von R/3 überzeugt, daß es sich hier für die Belange von Ties Neelsen um die derzeit geeignetste Lösung handelt, die einen Investitionsschutz für einen längeren Zeitraum sicherstellt."

Da R/3 auf der Unix-Hardware verschiedener Hersteller angeboten wird, hatte Ties Neelsen mehrere Alternativen. Das Unternehmen entschied sich für das von Siemens Nixdorf unter dem Titel R/3 Live angebotene Leistungspaket einer Gesamtlösung. Dazu wieder Unternehmensberater Uwe Töpfer: "Bei den im Hause Ties Neelsen verfügbaren DV-Ressourcen entspricht das SNI-Konzept am besten den Anforderungen des Unternehmens."

Siemens Nixdorf charakterisiert als Gesamtkonzept für Customizing und Integration der SAP-Software R/3 Live. Es untergliedert sich in die Bereiche betriebswirtschaftliche Ist -Analyse, Konfiguration, Netzkonzepte, additive Lösungen, Einführungsstrategien, Projektierung, Installation, Customizing, Schulung, Organisations- und Anwendungsberatung, Fernbetreuung und Performance Management. Bei einem Versionswechsel werden vergleichbare Dienstleistungen offeriert.

Siemens Nixdorf hat im Rahmen von R/3 Live bei der Neukonzeption der Buchhaltung der Ties Neelsen GmbH & Co mitgewirkt. Die weiteren Beratungsleistungen erstreckten sich auf die Einrichtung des Basissystems, die Konzeption und Realisation des LAN beziehungsweise des WAN über ISDN sowie den Stammdatenaufbau; ferner auf das Customizing (bezogen unter anderem auf Nummernkreise, Bildschirmanpassungen, Belegarten und automatische Buchungen), den Aufbau der Ergebnislisten, die Konfiguration von Dialoglisten und die Formulargestaltung. Schließlich half SNI bei den Datenübernahmeprogrammen, der Ausgestaltung der Schnittstellen und dem Einsatz von R/3-A6ap-Utilities .

Für das Gesamtangebot völliges Neuland betreten

Da die Ties Neelsen GmbH &; Co so früh wie nur möglich mit dem R/3-Einsatz beginnen wollte, entschloß sie sich dazu, als Pilotanwender zu fungieren. Alle Beteiligten - die SAP als Software-Entwickler, Siemens Nixdorf für das Gesamtangebot R/3 Live und der Anwender selbst - haben im Pilotstadium für R/3 völliges Neuland betreten. Teilweise wurden recht unkonventionelle Wege beschritten. SNI lieferte den Rechner RM600 im Februar 1992 zunächst nicht nach Kiel, sondern zur SAP nach Walldorf. Dort erfolgte die erste RM600-Implementierung in Zusammenarbeit mit Jan Mohr, dem SNI-Projektleiter für den Auftrag von Ties Neelsen. Anfang März wurde die Maschine dann nach Kiel transportiert.

Implementiert war zunächst eine Demoversion. Der eingeschränkte Leistungsumfang reichte aber aus, um einen ersten Eindruck von R/3 zu bekommen und das in einer einwöchigen Schulung bei SAP erworbene Wissen anwenden zu können. Außerdem konnten die Kieler mit dem Programmieren des Batch-lnputs für die Übernahme der Daten des Finanzwesens von der AS/400 beginnen.

Nicht mehr von einem einzigen Host abhängig

Die SAP-Werkzeuge für die R/3-Entwicklungsumgebung sowie die Applikationen selbst basieren auf A6ap/4, einer an Cobol und PL/1 angelehnten interpretativen 4GL-Programmiersprache. Die Interpreter sowie die sich auf eine bestimmte Hardware-, Betriebssystem- und Datenbankumgebung beziehenden Komponenten wurden in C geschrieben. Die Schnittstellen zu den Systemprogrammen sind in einer isolierten Ebene zusammengefaßt. Die eigentlichen R/3-Applikationen lassen sich so unabhängig vom Hard- und Software-Umfeld einsetzen. R/3 basiert auf einer Client-Server-Technologie, deren Vorzüge Jutta Schön, die R/3-Projektbetreuerin der Ties Neelsen, so beschreibt: "Der Anwender ist nicht mehr von einem einzigen Host abhängig"

Das Projekt bei Ties Neelsen startete Anfang Mai mit der Version 1.0 von R/3. Die eigentliche Produktionsversion wurde als Release 1.1 Mitte Juli ausgeliefert, natürlich mit in einem solchen Fall unvermeidlichen Fehlerkorrekturen im nachhinein. Bereits mit der Version 1.0 konnte der Anwender mit der konkreten Datenübernahme beginnen. Das war nicht nur wegen des großen Datenvolumens ein zeitaufwendiger Vorgang.

Eine Eins-zu-eins-Übernahme war nicht möglich

Zunächst wurden die Daten der Cobol-Programme des Ausgangssystems abgegriffen, dann mit einem PC-Support-Tool auf den Novell-Server transferiert und von dort mit der Batch-Input-Prozedur für R/3, einem SAP-Tool, in den jeweiligen Buchungsbereich auf der RM600 eingelesen. Eine Eins-zu-eins- Übernahme der Daten war schon allein wegen abweichender Verschlüsselungskonventionen nicht möglich. Ein weiteres Problem ergab sich aus dem unterschiedlichen Aufbau des alten und des neuen Buchhaltungssystems.

Bei der abgelösten Variante war jeder der 16 Buchhaltungskreise für die gleiche Anzahl zu verbuchender Firmen in sich geschlossen. Die Zuordnung eines Debitors erfolgte über die Firmenbezeichnung und die Kundennummer. Ein Debitorenstamm von rund 100 000 Konten ergab eine erhebliche Anzahl an identischen Kundennummern. Im Falle der R/3 dagegen ist die Kundennummer das alleinige Zuordnungskriterium. Diese Lösung sieht Ties Neelsen als wesentlich eleganter an als die alte. Für die Datenübernahme waren aber viele doppelt belegte Kundennummern neu zu definieren. Günstig

wirkte sich dagegen aus ,daß auch der alten Buchhaltung eine Datenbankstruktur zugrunde lag.

SAP bietet R/3 mit Oracle als Datenbank an. In den Monaten August und September wurde in den Fachabteilungen mit Probeläufen der Echtbetrieb simuliert. Der Test verlief für die DV-Seite und für die Anwender positiv. Es zeigte sich auch, daß die Benutzer trotz einer verständlichen anfänglichen Skepsis relativ schnell zurechtkommen, obwohl ihnen das neue System viele Änderungen gebracht hat. Einerseits mußten altgewohnte Prozeduren aufgegeben werden, andererseits bietet aber die grafische Bedieneroberfläche und die Fenstertechnik neue Möglichkeiten, deren Vorteile die User schnell erkannten.

Der Praxiseinsatz wurde daher auf den l . Oktober l992 festgelegt. Vorausgegangen war für die Anwender noch ein zweiwöchiges Training on the Job an Übungsarbeitsplätzen das im eigenen Hause eine SNI-Mitarbeiterin des R/3 Live-Teams abhielt.

In der aktuellen Konfiguration verfügt die Ties Neelsen über ein Sinix-System RM600 mit zwei R3000-RISC-Prozessoren, 128 MB Hauptspeicher und 14 GB Plattenspeicher. Es handelt sich um einen 32 Bit-Rechner in Multiprozessor-Architektur mit bis zu vier RlSC-Prozessoren (Mips R3000), der sowohl für den Einsatz in Client-Server-Umgebungen als auch als zentrales Rechnersystem konfigurierbar ist.

Das Betriebssystem Sinix V5.41 ist gegenüber dem Unix V.4 von AT&T mit zusätzlicher Funktionalität ausgestattet. Bei der Peripherie betreibt Ties Neelsen im Rahmen einer Client-Server- Lösung Ressourcen-Sharing. Die Bildschirme (ausschließlich PCs und X-Terminals) sind in einem Ethernet-LAN miteinem Novell-Server verbunden. Während der Startprozedur entscheidet der Anwender in der Maske "Programm Manager", welchem System sein Arbeitsplatz zugeordnet werden soll. Alternativen sind dabei die RM600 für R/3 Anwendungen, die AS/400 für Logistikanwendungen oder MS-DOS-Applikationen (Word, Excel etc.) für den autonomen Einsatz auf dem PC.

Die Zuordnung der Peripherie auch die Drucker sind eingebunden über den Novell-Server ermöglicht es, vom gleichen Arbeitsplatz aus in einer proprietären Betriebssystem-Umgebung der AS/400 oder in der offenen Systemwelt von Unix, MS-DOS und bei Bedarf auch OS/2 zu arbeiten.

Das neue System kann so mit vertretbarem Aufwand in eine vorhandene Hardwarelandschaft eingefügt werden. Die zentrale Rolle spielt dabei der Novell-Server. Über ihn wurde auch eine Schnittstelle zwischen R/3-Buchhaltung und dem Logistiksystem auf der AS/400 realisiert.

Das von Siemens Nixdorf für den RM600-und R/3-Einsatz realisierte sternförmige TCP/IP-Ethernet-LAN wurde mit UTP-Plus-Komponenten von SNI verkabelt, unter partiellem Einsatz von Lichtwellenleitern. Zwischen der AS/400 und dem Novell-Server wird in einem Token Ring kommuniziert. Die PCs und X-Terminals sind an das Ethernet angeschlossen. Vom ursprünglichen Plan, alle Daten zu spiegeln, rückten die Neelsenianer wieder ab, da der dann entstehende Plattenbedarf wirtschaftlich nicht zu vertreten gewesen wäre.

Gespiegelt werden in einem separaten Filesystem primär die Redo-log-files. Die besonders kritischen Daten beanspruchen etwa 320 MB. Die Gesamtspeicherkapazität liegt bei 14 GB. Die RM600- und die R/3-Anwendungen sollen auch den zur R.E.N.-Führungsgesellschaft gehörenden RWE-Unternehmen zugänglich gemacht werden.

Echtzeitbetrieb soll zum 1 Januar '93 starten

Kiel wird dabei wie ein Rechenzentrum arbeiten. Der Datenaustausch ist über ein ISDN-WAN geplant. Die einzelnen externen Anwender werden keinen eigenen Rechner, sondern nur Endgeräte (vorwiegend PCs) erhalten. Der Echtbetrieb soll zum l. Januar 1993 aufgenommen werden.

Anschließend wird Ties Neelsen weitere R/3-Produkte einführen. Erste Priorität haben das Personalwesen, die Anlagenbuchhaltung und die Kostenrechnung. Ziel ist eine integrierte Komplettlösung im kaufmännischen Bereich.