Schweigen des "Blauen Riesen" verunsichert SW-Anbieter:

Entscheidungsunfähigkeit lähmt viele User

20.06.1986

Begriffe wie "filesharing", "ressource sharing" und "Mehrplatzsystem" beherrschen derzeit die Diskussion über die zukünftigen Softwaresysteme. Zwei große Gruppen kämpfen hier um eine Vorrangstellung: Unix einerseits, die netzwerkorientierten Systeme andererseits.

Beide Seiten sind davon überzeugt, sich am Markt durchzusetzen. Das gleichzeitige Schweigen des "Blauen Riesen" verunsichert jedoch beide Interessengruppen. Eine richtungsweisende Stellungnahme oder Entscheidung darf hier jedoch so bald nicht erwartet werden. Also wächst bei den meisten betroffenen Herstellern, Softwarehäusern und Anwendern die Unsicherheit darüber, was nun der richtige Weg sei. Diese unklare Situation führt gleichzeitig zu einer fatalistisch anmutenden Entscheidungsunfähigkeit.

Zwar bietet nahezu jeder Hardwarehersteller "sein" Netzwerksystem und "sein" Unix an. Aber keine der beiden Richtungen wird konsequent und zielgerichtet verfolgt; man will (muß?) ja auch noch "kompatibel" bleiben. Aber kompatibel zu was?

Die Konsequenzen aus diesem Durcheinander haben derzeit die Softwarehauser und die Endanwender zu tragen. Letzteren wird vorgegaukelt, alle ihre Anforderungen nach Mehrplatzfähigkeit würden mit dem einen oder anderen System bestens erfüllt, weil sich 4, 8, 16 oder gar 32 Terminals an ein System anschließen lassen.

Wehe dem, der diesen rein technisch orientierten Aussagen ohne weiteres Glauben schenkt. Das böse Erwachen kommt meist bei der Suche nach geeigneter Software, der genauen Analyse der Performance und des wirklichen Funktionsumfangs. Hier stellt der Anwender plötzlich fest, daß rein technisch vorhandene Funktionen von der bestehenden Software gar nicht oder nur zum Teil genutzt werden.

Anzahl der möglichen Alternativen ist gering

Hier stellt der User fest, daß er nicht mehr aus einem großen Reservoir alternativer Softwareangebote auswählen kann, sondern auf sehr wenige Alternativen beschränkt ist. Aber warum ist das so?

Die ursprüngliche Aufgabe der Netzwerke war es, viele Benutzer miteinander zu verbinden und diesen so den gemeinsamen Zugriff auf bestimmte Daten (filesharing) und bestimmte Peripheriegeräte (ressource sharing) zu ermöglichen. Diese Aufgaben erfüllen viele der am Markt befindlichen Netze tatsächlich. In Ermangelung eines richtigen mehrplatzfähigen Betriebssystems kam jedoch eine weitere Aufgabe hinzu, die von den meisten Netzwerken nicht oder nur unbefriedigend bewältigt wird: das shared updating, bei dem mindestens zwei Benutzer gleichzeitig verändernd auf einen Datensatz zugreifen.

Dadurch, daß die reinen Systemfunktionen für record locking (Satz sperren) und unlocking (freigeben) zur Verfügung gestellt werden, ist die Aufgabe jedoch nicht gelöst. Die meisten Anbieter erwecken jedoch diesen Eindruck.

Als gelöst kann diese zentrale Aufgabe erst dann betrachtet werden, wenn die am Markt befindliche Anwendungssoftware diese Funktionen auch nutzen kann. Dies ist jedoch erst dann möglich, wenn die verwendeten Systemprogramme (Compiler, Interpreter, Datenbanksysteme) mit der jeweiligen Netzwerksoftware kommunizieren. Dies ist aber normalerweise nicht der Fall, da es fast genauso viele Schnittstellen wie Netzwerksysteme gibt.

Eine generelle Änderung ist hier erst dann zu erwarten, wenn dieser zentrale Punkt einer gewissen Standardisierung unterworfen wird. Solange dies nicht der Fall ist, bleibt der Anwender bei den meisten herstellerspezifischen Netzen ebenfalls nur auf spezielle Software des betreffenden Anbieters angewiesen. Alle anderen Softwareentwicklungen sind ihm verschlossen.

Ähnlich gelagert, aber noch weitaus komplexer, sind die Probleme bei Unix-Systemen. Obwohl hier AT&T als selbsternannter Marktführer versucht, gewisse Standards zu setzen, kann man die derzeit am Markt befindlichen Systeme getrost alle als inkompatibel ansehen. Die Inkompatibilität geht hier weitaus tiefer als im Bereich der Netzwerke, da hier generelle Systemunverträglichkeiten geschaffen werden, die sich nicht durch eine einfache Portierung von Software überwinden lassen.

Wirtschaftlicher Aufwand bedingt Spezialisierung

Da notwendige Systemsoftwarekomponenten vielfach von den Hardwareanbietern im Rahmen von OEM-Verträgen erworben werden, sind diese erstens nur über den Hersteller zu beziehen und zweitens nur auf dessen Maschine lauffähig. Das bedeutet aber für den Softwareersteller, daß er jede Maschine, auf die er seine Software portieren will, zusammen mit der erforderlichen Systemsoftware kaufen muß.

Da dies aber wirtschaftlich kaum vertretbar sein dürfte, resultiert hieraus eine Spezialisierung und Konzentration auf ein, zwei oder drei Systeme. Das bedeutet für den Anwender gleichzeitig ein wesentlich eingeschränktes Softwareangebot.

Ein weiterer Nachteil der Unix-Systeme ist für den Anwender die Bindung an einen Hersteller, wenn er sich einmal für ein solches System entschieden hat. Schon die meist hardwaretechnische Unverträglichkeit läßt zusammen mit den zuvor erwähnten Aspekten einen Wechsel zu einem anderen Hersteller nicht zu oder verlangt hierfür zumindest erhebliche finanzielle Mittel. Die Entscheidung für ein bestimmtes Unix-System hat also einen wesentlich langfristigeren Charakter als eine Entscheidung für ein Netzwerk.

Ein weiterer Aspekt im Hinblick auf die Nutzung der einzelnen Arbeitsplätze ist die Möglichkeit, Netzwerkarbeitsplätze auch lokal, also ohne Netzanbindung zu nutzen. Ob dieser Aspekt von Bedeutung ist oder nicht, hängt natürlich von der speziellen Aufgabenstellung ab. Sie bietet aber auf jeden Fall ein höheres Maß an Sicherheit, da man ohne großen finanziellen Zusatzaufwand ein im Netz befindliches System zum File server machen kann.

Kleine Netzwerke kranken an hohen Zusatzkosten

Ein entscheidender Nachteil der Netzwerksysteme sind die relativ hohen Zusatzkosten bei kleinen Netzen (zwei oder drei Arbeitsplätze), da diese nur auf wenige Arbeitsplätze verteilt werden. Wichtig ist in diesem Zusammenhang die Frage, ob der File server selbst auch als Arbeitsplatz verwendet wird oder nicht. Ein höheres Maß an Sicherheit wird sicherlich erzielt, wenn der File server nicht als eigener Arbeitsplatz verwendet wird. Die Gesamtkosten steigen in diesem Fall jedoch drastisch, da ein zusätzliches Computersystem benötigt wird.

Alles in allem bietet das Netzwerksystem zum gegenwärtigen Zeitpunkt für den Anwender mehr Vorteile als ein Unix-System. Wie lange diese Aussage jedoch aufrechterhalten werden kann, hängt von sehr vielen - vor allem softwaretechnischen - Entwicklungen und Entscheidungen ab, die vom einzelnen nicht beeinflußt werden können. Ob sich also mittel- und langfristig Netzwerke oder Unix-Systeme durchsetzen werden, ist letztlich heute noch nicht zu entscheiden.

Aber Entscheidungen, die heute getroffen werden müssen, können nur auf der Grundlage der gegenwärtigen Verhältnisse und Verfügbarkeiten getroffen werden, und sollten keine irrationalen Zukunftserwartungen in das eine oder andere System einbeziehen. Dafür wurde schon zulange auf angekündigte und immer noch nicht verfügbare Funktionen vergeblich gewartet.