Eine Leistungsreserve im Unternehmen wird wiederentdeckt

Entscheidungskompetenz des Mittel-Managements verstärken

16.09.1988

*Dieter Stein ist geschäftsführender Gesellschafter der Stein Unternehmensberatung GmbH in Frankfurt.

Der Arbeitsmarkt für qualifizierte DV-Verantwortliche stößt an seine Grenzen. Besondere Bedeutung kommt deshalb den Managern der mittleren Führungsebene zu. Allerdings kämpfen sie nur allzuoft mit starren Ablauforganisationen, die sie einzwängen. Dieter Stein* plädiert, die Mittel-Manager nicht als "Wasserträger" einzusetzen.

Die deutsche Wirtschaft steht vor ihrer wohl größten Bewährungsprobe. Die expansive Internationalisierung der Märkte durch die Vereinigten Staaten und Japan, die stark verschlechterte DM-Dollar-Parität und die rasante Entwicklung der südostasiatischen Schwellenländer (allen voran die "vier kleinen Tiger") bedeuten eine Herausforderung, die wesentlich mehr Kreativität, Flexibilität, Dynamik und Kapitaleinsatz verlangen wird als die Bewältigung der Strukturkrise der 70er und 80er Jahre. Diese wird nur zu meistern sein, wenn es gelingt, die sich jetzt rasch verringernden, menschlichen Ressourcen strategisch zu nutzen, denn aufgrund des starken Bevölkerungsrückganges erhält diese zweite Anpassungsjagd eine völlig neue Dimension: Bereits ab 1989/90 wird es hierzulande keinen demografisch bedingten Zuwachs des Erwerbspersonenpotentials mehr geben. Danach nimmt es kontinuierlich rasch ab.

Schon mehren sich die leidenschaftlichen Appelle der Politiker an die Bevölkerung, sich auf eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit einzustellen und vor allem wieder "härter" zu arbeiten. Wahrscheinlich werden dies unumgängliche Maßnahmen sein, dennoch setzen diese Appelle die falschen Akzente. Mehr Arbeitseinsatz bedeutet ebensowenig automatisch erhöhte Produktivität, wie auch mehr Kapitaleinsatz in Forschung und Entwicklung nicht zwangsläufig schneller zu besseren Produkten führt. Genau das aber ist anzustreben: Die Entwicklungszeiten für (intelligente) Produktinnovationen müssen verkürzt, deren Serienreife schneller erreicht, und die Produktneuheiten rascher wirkungsvoll vertrieben werden, damit in wesentlich kürzeren Fristen als das heute gemeinhin der Fall ist, kostendegressive (international wettbewerbsfähige) Massenmärkte geschaffen werden. Diese Zielsetzung verlangt den Einsatz modernster Technologien wie CAD/CAM- und CIM-Lösungen, generell modernste Informationssysteme (MIS), aber auch demgemäße Management Skills und Führungsstrukturen.

Mittel-Manager als Leistungsreserve aufdecken

Mindestens gleichwertige Bedeutung hat aber auch ein mental und räumlich mobiles Mittel-Management, das qualifiziert und bereit ist, neue Herausforderungen durch unternehmerisches Denken und Handeln zu bewältigen. Diese Führungsschicht beginnt in Großunternehmen unterhalb der zweiten Hierarchieebene und bei kleineren und mittleren Firmen, zumal mittelständischen, direkt unter der Geschäftsführung. Es wird geschätzt, daß etwa drei bis vier Prozent der Erwerbspersonen in der Bundesrepublik zu dieser Führungsschicht gehören. Der Gehaltsrahmen dieser Führungskräfte liegt zwischen 80 000 und 180 000 Mark, je nach Unternehmensgröße und Verantwortung. Gerade in der DV-Branche zählen auch viele hochkarätige und hochbezahlte Spezialisten zum Mittel-Management, obwohl sie keine direkte Personalführung haben, aber mit weitreichenden strategischen Aufgaben und Verantwortungen ausgestattet sind.

Gefragt ist heute der "Entrepreneur of Middle Management", der etwas bewegen kann und will. Diese Spezies wurde in den Vereinigten Staaten bereits Ende der 7Oer Jahre "entdeckt" und die Erkenntnis gewonnen, daß Unternehmen mit solchen mittleren Führungskräften wesentlich leistungsfähiger sein können, sofern Strukturen gegeben sind, in denen diese ihr Potential auch voll entfalten können.

Die Idealvorstellungen sind heute aufgabenorientierte Organisationen mit "flachen Strukturen", in denen der Mittel-Manager nicht mehr nur eingegrenzter Sachbearbeiter mit Wasserträgerfunktion für das obere und Top-Management ist, sondern übergreifend tätig wird und wesentlich mehr Verantwortung, Sach- und Entscheidungskompetenz hat und auch entsprechend ausübt. Durch diese Organisationsform werden die Grenzen zwischen den Managementebenen ebenso fließend wie zwischen den technischen und kaufmännischen Bereichen. In Unternehmen, in denen die "flachen Strukturen" organisatorisch und personell verwirklicht sind, werden heute schon weit über 50 Prozent der Entscheidungen im Mittel-Management getroffen. Dadurch werden die oberen und Top-Führungsebenen wesentlich entlastet und können sich ihren eigentlichen Aufgaben widmen: den strategischen Fragen. Unternehmensleitungen, denen die Änderung der Organisationsform in diesem Sinne nicht gelingt, werden zunehmend in Routine erstarren. Diese Unternehmen verlieren generell an Flexibilität und Dynamik und werden nicht mehr schnell genug auf Markt- und Kundenwünsche reagieren können.

Nach wie vor überwiegen in der deutschen Wirtschaft jedoch die starren Ablauforganisationen mit ihren tiefgestaffelten Hierarchien, langen Entscheidungswegen und limitierten Sachkompetenzen. Damit korrespondieren in der Regel kaum differenzierende und erfolgunabhängige Entgeltsysteme, so daß sich überdurchschnittliche Leistungen kaum noch lohnen.

Bekannt ist auch, daß die über 40jährigen Führungskräfte in Personalentwicklungsplänen nur noch selten berücksichtigt werden, also auch keine neuen Herausforderungen mehr gestellt bekommen. Die Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen der Firmen konzentrieren sich sowieso viel zu stark auf die Berufsanfänger und Nachwuchskräfte. Da die mittleren Führungskräfte persönlich nicht dem Zwang zur beruflichen Fortbildung und Anpassung unterliegen, sind ihre Qualifikationen allzu oft entsprechend, das heißt nicht (mehr) auf der "Höhe der Zeit".

Konstatiert werden muß weiterhin, daß viele Unternehmen überhaupt keine systematische Personalplanung und -entwicklung betreiben. Dieses ist jedoch kein Verschulden der Personalabteilungen, sondern der Unternehmensleitungen, die die strategische Notwendigkeit dieser zukunftssichernden Instrumente offenbar nicht sehen und daher auch nicht entschlossen fördern. Viele Personalabteilungen sind so stark unterbesetzt, daß zu einer strategischen Personalarbeit keine Zeit bleibt und daher die Tagesroutine (Verwaltung) im Vordergrund steht. Auf die Strukturkrise der 70er und 80er Jahre wurde in vielen Firmen nur dergestalt reagiert, daß das "alte" Mittel-Management stehen blieb. Abgänge durch natürliche Fluktuation wurden aus Kostengründen gar nicht oder nicht qualifiziert genug besetzt und aufgrund fehlender Personalplanung und

-entwicklung auch nicht systematisch von unten nachgezogen. Es ist ein bedauernswürdiges Testat: Aber in dieser Misere steht das Mittel-Management in vielen Firmen auch heute noch.

Das "Kästchendenken" führt zu innerer Kündigung

Es kann niemanden verwundern, daß die so vernachlässigten Leistungsträger, deren Engagement und Goodwill nicht ihren beruflichen Qualifikationen und Erfahrungen entsprechend genutzt und gefördert werden, zu dem berüchtigten "Kästchendenken" geradezu verurteilt und in eine Angestelltenmentalität abgedrängt wurden. Dadurch stellt sich eine "resignative Arbeitszufriedenheit" ein, die auch als "innere Kündigung" bekannt ist. Dieser Zustand führt zu einem Verlust an mentaler und räumlicher Mobilität und in der Folge zu einer stark reduzierten Lernbereitschaft und letztlich Ablehnung jeglichen Wandels.

Was einerseits angesichts von über zwei Millionen Arbeitslosen nicht zu glauben ist und andererseits doch jeder weiß, der mit der Beschaffung von Personal zu tun hat, ist die Tatsache, daß der Arbeitsmarkt für qualifizierte Führungskräfte an seine Grenzen stößt. In der DV-Branche übersteigt schon jetzt die Nachfrage deutlich das Potential. Die weitere starke Expansion dieses Wirtschaftszweiges wird diese Situation in Verbindung mit der negativen demografischen Entwicklung in den nächsten Jahren dramatisch zuspitzen. Schon heute kommt es vor diesem Hintergrund zu höchst bedenklichen Auswüchsen. Noch vor wenigen Jahren war es geltende Regel, daß man "reisende Leute ziehen lassen sollte". Heute passiert es, daß Führungskräfte, die gekündigt haben, sozusagen zurückgekauft und auch noch zu Vertragsbrüchen animiert werden.

Die Leistungsfähigkeit und -bereitschaft der mittleren Führungskräfte ist bereits heute ein Wettbewerbsparameter an sich. Angesichts der globalen wirtschaftlichen Herausforderungen muß diese Führungsschicht nachhaltig emanzipiert werden, um so brachliegende Leistungsreserven zu mobilisieren, Talente zu entwickeln und zur vollen Entfaltung zu bringen. Unternehmen, denen dieser Emanzipierungsprozeß gelingt, werden insgesamt an Leistungsfähigkeit wie auch an Attraktivität gewinnen und sich somit einen wesentlichen Wettbewerbsvorteil im "Kampf" um qualifizierte Führungskräfte sichern. Die wichtigsten Zielsetzungen sind:

* Persönliche Leistung sowie Anforderungen als Maßstab für Entgelt- und Zusatzleistungen

- Schaffung einer differenzierten und leistungsabhängigen Entgeltpolitik (Beteiligungsmodelle)

* Flexibilisierung starrer Organisationsstrukturen

- Einräumen von Initiativrechten auf allen Ebenen

- Abbau beziehungsweise flexiblere Gestaltung hierarchischer Strukturen (flache Hierarchie, hierarchiefreie Gruppen/ Projektmanagement)

- Schaffung überschaubarer Organisationseinheiten (Dezentralisierung, klare Aufgabenzuordnung unter anderem durch Funktionsbeschreibungen)

* Leistung als Maßstab für die berufliche Entwicklung

- qualitative Personalplanung

- Nachfolgeplanung

- flexible Führungskräftestruktur

* Schaffung persönlicher Freiräume und Wahlmöglichkeiten

- Flexibilisierung des Zusatzleistungsprogrammes

- Flexibilisierung der Arbeitszeit

* Förderung der Selbständigkeit

- Delegation von Aufgaben, Befugnissen und Verantwortung

- Projektmanagement

- Beteiligung an Vereinbarungen

- Beteiligung an Entscheidungen

* Erhaltung beziehungsweise Steigerung der Leistungsfähigkeit

- permanente Aus- und Weiterbildung, und zwar ohne Alterseinschränkungen

- zusätzlicher Regenerierungsurlaub für "ältere" Führungskräfte

Im Prinzip rufen heute alle Unternehmen nach dem "Entrepreneur of Middle Management". Solange jedoch in vielen Unternehmen selbst keine marktwirtschaftlichen Grundsätze gelten, wird diese Spezies weiterhin Rarität bleiben. Damit gewinnt ein umfassend strategisch angelegtes Personalmarketing eine geradezu volkswirtschaftliche Bedeutung und Notwendigkeit. Die erforderlichen Zielsetzungen und Maßnahmen, mit denen die mentale und räumliche Immobilität der wichtigsten Leistungsträger der Unternehmen überwunden und unternehmerisches Denken und Handeln auf allen Ebenen gefördert werden kann, sind seit langem bekannt. Ihre Umsetzung wird sich jedoch nicht von selbst vollziehen. Die Unternehmensleitungen sind gefordert.