Konferenzsysteme können Computersucht fördern:

Elektronische Post entwächst dem Postkutschenstadium

04.11.1983

"Computer-Konferenzsysteme werden die Kommunikationsgewohnheiten der Menschen grundlegend ändern", sieht Dr. Murray Turoff, Direktor des Computerized Conferencing and Communications Center des New Jersey Institute of Technology, voraus. Kommuniziere heute ein Mensch mit durchschnittlich fünf bis fünf zehn Partnern pro Tag, so würden Konferenzsysteme den Kontakt zu 50 bis 150 Leuten erlauben. Verglichen mit Briefen oder Telefonaten sei Computer Conferencing etwas völlig Neues, wenngleich das System auch Slang-Ausdrücke akzeptiert.

Turoff, Vater des Konferenzsystems EIES (Electronic Information Exchange System) sprach auf dem Münchner Kreis, einer Vereinigung für Kommunikationsforschung. "EIES", so Turoff, "ist heute ein Netz mit mehr als 600 Terminals in Privatheimen und Büros. Es dient vor allem zwei Zwecken-. einmal als schnelles, effizientes und relativ billiges Kommunikationsmedium und zweitens denn wir sind ja Wissenschaftler ohne direktes kommerzielles Interesse - als weltweites Labor, in dem der konkrete Nutzen dieses neuen Computer-Konferenz-Systems erforscht wird.

Computer strukturiert Kommunikation

Inzwischen arbeitet EIES bereits seit über sechs Jahren und mehr als 3000 Menschen haben damit wenigstens zeitweise Kontakt gehabt. Dazu mußten sie nicht selber in das Institut kommen, sondern konnten sich per Terminal einkoppeln: Sie kommunizieren via EIES jetzt so, wie andere Menschen per Post oder per Telefon kommunizieren. Begleitende Forschungsarbeiten am Institut in New Jersey beobachten, wie EIES - gemäß der vorhersage Turoffs - die Kommunikationsstrukturen und das Kommunikationsverhalten der Teilnehmer ändert.

Was EIES ist und wie es arbeitet, beschreibt Turoff so: "Computer-Konferenz-Systeme wie unser EIES - es gibt eine ähnliche Entwicklung auch bei der GMD - nutzen einen Rechner, um Kommunikation (und ihre Inhalte) zu strukturieren, zu speichern und zu verarbeiten." In das System geben die einzelnen Teilnehmer Informationen ein, die einen zentralen Computer erreichen. So können "geographisch weit verstreute Gruppen schneller und billiger als per Post, per Telefon oder gar per unmittelbarer Zusammenkunft kommunizieren." Dabei wird jeder Beitrag so lange wie gewünscht im Speicher des Systems festgehalten.

"Vor allem", hebt Turoff hervor, "ist dieses Medium aber asynchron, Das macht es so effektiv. Denn niemand muß mit einem anderen erst ein Rendezvous - per Telefon oder von Mensch zu Mensch - organisieren; jeder nimmt dann und von dem Ort aus an einer Konferenz teil, wann es ihm gerade recht ist."

Kostendegression macht's möglich

Ein derartiges System existierte nicht schon früher, weil die Kosten zu hoch waren. Erst seit es billiger Terminals, billige Timesharing-Systeme und preiswerte Rechenzeit gibt, konnte man Turoff zufolge das alles in die Tat umsetzen. EIES kennt verschiedene Funktionsstrukturen, die sich zum Beispiel mit Nachrichten, Konferenzen, Notizen und als Texteditor beschreiben lassen.

Nachrichten sind im Rahmen des Systems "privat" bleibende Botschaften an - wahlweise - einen Einzelempfänger, an mehrere, Empfänger oder an eine ganze (vorher definierte) Gruppe. Man kann sie mit dem normalen Absendernamen zeichnen, sich aber auch hinter einem Spitznamen verstecken oder anonym bleiben. Sobald einer der adressierten Empfänger dieser Nachrichten sein Terminal aktiviert, sieht er, daß für ihn eine Nachricht vorliegt. Der Schreiber der Nachricht wiederum erhält eine exakte Notiz, wann seine Botschaft von wem zur Kenntnis genommen worden ist.

Konferenzen werden damit eigentlich nichts anderes als ein gemeinsamer "Schreibplatz" für Gruppen, die sich etwa bei der Verfolgung eines Planziels beraten müssen. Alle Beiträge, so Turoff, speichert das System in sequentieller Reihenfolge und jeder, der sich (wieder einmal) an sein Terminal setzt, erfährt automatisch, was seit seinem letzten Einschalten alles an Beiträgen eingegangen ist."

Automatische Suchfunktionen

Bei Konferenzen wird das Verhalten der Mitglieder von einem "Moderator" gelenkt und überwacht, der für eine gewisse Kommunikationsdisziplin sorgt. Auch Konferenzen "sind für gewöhnlich asynchron", so Turoff, "aber manchmal setzen die Teilnehmer sich auch gleichzeitig an ihre Terminals". Derartige Treffen können einige Wochen, aber auch mehrere Jahre dauern, und sie können zwei, aber auch ein halbes Hundert Teilnehmer umfassen. Außerdem lassen sich "öffentliche" Konferenzen einrichten, an denen jeder EIES-Teilnehmer partizipieren kann.

Unter Notizen versteht ein Computer-Konferenz-System ein Stück persönlichen Speicherplatzes, in dem ein oder mehrere Autoren Entwürfe für später an einen weiteren Kreis gehende Dokumente speichern, verändern und schrittweise verbessern können. Außerdem speichert der Rechner bei Bedarf hier auch teilnehmerspezifische Programme und "private" Dokumente.

Zu EIES gehören neben den beschriebenen Eigenschaften noch hilfreiche Dienste wie das automatische Suchen nach bestimmten Dokumenten, eine computerunterstützte Abstimmfunktion für das Treffen von Mehrheitsentscheidungen und automatische Alarmmöglichkeiten.

Auch können die EIES-Funktionen weiter mit Datenbanksystemen sowie mit Systemen, die das Treffen von Entscheidungen unterstützen, gekoppelt werden. "Und vor allem", zu Turoff, "bietet EIES jedem die Möglichkeit, zusätzliche, spezialisierte Kommunikationsstrukturen selbst zu erstellen.

Erst denken, dann tippen

Was nun bringt so ein System an Nutzen? "Besonders wichtig ist", sagt Turoff, daß die Teilnehmer auf Äußerungen der übrigen Teilnehmer erst dann reagieren müssen, wenn es ihnen recht ist. Diese Freiheit kann durchaus ein tieferes Nachdenken über ein Thema fördern." Denn, so habe sich gezeigt, der zwischengeschaltete Computer kann verhindern daß, wie es sonst bei direkten Konferenzen oft geschieht, ein besonders zungenfertiger, dominierender Teilnehmer die ganze Unterhaltung monopolisiert und damit vielleicht wichtige Beiträge jener unterdrückt", die zwar weniger schnell, aber dafür möglicherweise um so gehaltvoller reagieren können. "Außerdem sorgt die Speicherung aller Beiträge dafür, daß der gedankliche rote Faden nicht so leicht verlorengeht und daß man im nachhinein leicht, feststellen kann, wie diese oder jene Idee eigentlich entstanden ist." Auf diese Weise kann dann beispielsweise auch der wahre Vater des Gedankens den Lorbeer ernten.

Über die Möglichkeiten und Perspektiven, die ein System wie EIES eröffnet (es ist laut Turoff "weit mehr als die gute alte, simple elektronische Post") ließe sich noch einiges schreiben. Mindestens ebenso wichtig aber ist, was Prof. Dr. Starr Roxmann Hiltz, Soziologin und Vorsitzende des Departments für Soziologie, Anthropologie und Sozialarbeit am Upsala College, East Orange/ New Jersey, herausfand. Frau Hiltz führte begleitende Feldstudien durch und beobachtete dabei unter anderem 500 EIES-Teilnehmer und deren Art, sich mit dem System vertraut zu machen.

"Wir haben bald gesehen, daß das Verhalten des typischen Benutzers einer Art Evolution folgt", berichtete Frau Hiltz in München. Anfangs war häufig eine "negative Einstellung" zu diesem dazwischengeschalteten System zu erkennen und, die Menschen fürchteten, die akustischen und die visuellen Nebeninformationen, die ein Telefonat oder gar eine direkte Begegnung bieten, zu vermissen."

Kommunikation im Slang

Doch schon nach einer halben Stunde sollte sich diese Einschätzung ändern stellte Frau HiItz fest: Dann haben die Neulinge die Grund-Handhabungstechniken erlernt - "und fortan wird das System leid seine Bedienung zur Nebensache und die Menschen fangen an, ein völlig neuen, sehr effektiven Kommunikationsstil zu erlernen".

Zu diesem neuen Stil des zwischenmenschlichen Austauschs von Ideen und Meinungen gehört beispielsweise, daß man schnell lernt in sehr knappen Worten zu sagen was man meint - und sich dabei dennoch nuanciert und differenziert auszudrücken.

Die Benutzer eines Computer-Konferenz-Systems lernen also rasch, knapp zu formulieren und wichtige Dinge beispielsweise durch Punktsiege Gliederung hervorzuheben. Zusätzlich werden zur präzisen Artikulation des zu übermittelnden Sinns "paralinguistische Hilfen" (Hiltz) verwendet beispielsweise wird eine wichtige Frage durch fünf Fragezeichen oder ein wichtiger Satz durch ein Dutzend Rufzeichen betont. Anderes wird durch Versalien hervorgehoben und vor allem Stimmungen, Empfindungen und Gefühle drücken die EIES-Teilnehmer gern durch Slang oder auch durch Wörter aus dem Bereich der Comic-Hefte aus: "Wow! " zum Beispiel.

Zwar kommen solche Kommunikationselemente um so seltener vor, "je formeller eine bestimmte Konferenz strukturiert ist", aber grundsätzlich tauchen sie doch bei praktisch jedem Teilnehmer auf, noch ehe er das erste Dutzend Arbeitssitzungsstunden an seinem Terminal vollendet hat. "Ich muß betonen" kommentierte die Soziologin aus den USA, "daß es absolut ungewöhnlich ist daß Leute an einem Terminal Emotionen ausdrücken."

Elektronische Seifenoper

In einer dritten Phase schließlich also nach der anfänglichen Abwehr und der folgenden intensiven Nutzung, fangen viele Teilnehmer an, das ganze System und seine Möglichkeiten aktiv zu explorieren (während andere, das sei nicht übersehen mit dem Computer-Konferenz-System zeitlebens nicht warm werden): Sie suchen nach neuartigen Wegen, via Computer möglichst interessante, ihnen bislang unbekannte Menschen kennenzulernen und auch vielversprechende, neuartige Nutzungsweisen zu erfinden. .

"Außerdem", so Frau Hiltz, fangen sie an, online mit dem System zu spielen." Das kann soweit gehen und das ist wohl einer der schlagendsten Belege dafür, daß neue Medien auch neue, kreative Verhaltensweisen der damit arbeitenden Menschen zu provozieren vermögen, daß regelrechte elektronische Seifenopern entstehen. Hier trägt jeder der Teilnehmer unter einer Tarnbezeichnung, die wie ein Spitzname seine wahre Identität verhüllt, aber gewisse Charaktermerkmale der mitspielenden Figur kennzeichnet einen eigenen Part zum mit der Zeit entstehenden Drehbuch bei. Der eine spielt die Rolle des "Madman" (und fügt immer wieder entsprechende Texte dem fortlaufend wachsenden Drehbuch hinzu, der andere tritt als "Deus ex Machina" auf und ein Dritter vielleicht als "Peter Pan".

Solche Verhaltensweisen am Computer-Konferenz-Terminal - sie erinnern übrigens auch ein bißchen an die (teilweise anonymen) Unterhaltungen amerikanischer CB-Funker - streifen bereits einen Grenzbereich, ab dem, so Frau Hiltz, "Suchtverhalten beobachtet werden kann. Das muß man sich etwa so vorstellen, wie manche Menschen ja auch telefonsüchtig werden können.

Typisch, für süchtige Computer-Konferierer war beispielsweise, daß sich die Betroffenen nach Auslaufen der staatlichen Zuschüsse für ihr (Experimental)-Terminal lieber in irgend etwas anderem einschränkten als im teuer gewordenen Gebrauch des Terminals. Manche verkauften sogar ihr Auto (was in den USA allerhand heißt), nur um sich einen eigenen Mikrocomputer für das System zulegen zu können. Und manche "verzierten" ihre Eingaben und sonstige Software in etwa der gleichen Art und Weise in der (vergleichbare) Auto-Freaks mit Chromleisten und Leuchtfarben an die Verschönerung ihrer Vehikel gehen: Der Rechner hat sie gepackt.