Thema der Woche

Electronic Commerce steckt noch in den Kinderschuhen

22.11.1996

Mehr als 160 Einträge befinden sich derzeit im deutschen Internet-Verzeichnis http://web. de in der Rubrik Marktplatz/ Shopping. Das Angebot für den kauflustigen Web-Surfer ist kunterbunt gemischt: Die Palette reicht vom Aquaristikbedarf über Blumen bis hin zum Öko-Kaufhaus und zum Parfüm-Discounter, selbst Kondome und Windeln werden im Internet feilgeboten.

Bei näherem Hinklicken zeigt sich allerdings rasch, daß nur hinter den allerwenigsten Links ernstzunehmende Offerten warten. Meist beschränkt sich das Dargebotene auf die Selbstdarstellung des Unternehmens. Die überwiegende Zahl der Angebote ist amateurhaft gestaltet und nutzt die Interaktionsmöglichkeiten des Web in keiner Weise aus. Lassen sich Produkte tatsächlich online bestellen, so ist das Procedere in der Regel viel zu kompliziert. Weit entfernt scheinen der "elektronische Warenkorb" oder vergleichbare Versprechen. Kurz gesagt: Im WWW dominiert die Unprofessionalität.

Die wenigen interessanten Angebote, die es zu sehen gibt, stammen von Anbietern, die man ohnehin schon mit dem Versandhandel verbindet: Quelle, Neckermann, Otto, Karstadt, Kaufhof und Co. wittern schon seit geraumer Zeit das große Online-Geschäft und versuchen, sich hier rechtzeitig ein Stück vom Kuchen zu sichern. Sie verfügen über ausreichende Ressourcen, um auch unter Zuhilfenahme professioneller externer Dienstleister online zu gehen. Aber auch bei den Profis dominiert noch die Selbstdarstellung. Dies bestätigt Hubert Martens, Vorstandsvorsitzender der Deutschen Interessengemeinschaft Internet e.V. (Digi), der hiesigen Sektion der Internet Society: "Das Internet wird im Moment fast nur als klassisches Marketing-Hilfsmittel genutzt."

Das mit Abstand professionellste Shopping-Angebot hat Karstadt mit "My World", einer virtuellen Shopping-Mall, auf die Beine gestellt. Ähnliche Projekte der Konkurrenz werden dem Vernehmen nach im kommenden Jahr folgen und den Wettbewerb beleben. My World ist in "Shops im Shop" aufgeteilt und bietet nicht nur Angebote von Karstadt selbst und seinen Tochterunternehmen, sondern steht auch interessierten Third Parties offen. Dabei übernimmt der Konzern auf Wunsch auch die komplette Logistik, etwa für den IBM-Shop. Wer dort einen PC bestellt, bezahlt ihn bei Karstadt, die Versandtochter Neckermann übernimmt die Auslieferung.

Ragnar Nilsson, der bei Karstadt als DV-Chef für die Entwicklung verantwortlich zeichnet, weist darauf hin, daß eine funktionierende Warenwirtschaft und Logistik die wichtigste Voraussetzung für erfolgreichen Electronic Commerce ist: "Die Einzelkommissionierung, Einzelbezahlung und Einzellieferung von Artikeln an den Kunden muß möglich sein." Die Investition in die DV-technische Oberfläche zur Darbietung eines Angebots im Web sei relativ einfach, viel schwieriger hingegen das tatsächliche Bewegen von Waren und Dienstleistungen zum Kunden. Hier können nach Ansicht von Nilsson nicht viele Wettbewerber mithalten: "Es werden sich nur ganz wenige, sowohl von der Infrastruktur als auch von den besonderen Geschäftsprozessen her, ein vollständiges Electronic-Commerce-Angebot leisten können." Die Big Player, die sich in diesem Bereich herauskristallisieren, werden nach Ansicht von Nilsson dann wiederum als Dienstleister für kleinere Unternehmen auftreten, die nicht selbst über die nötige Infrastruktur verfügen.

Eine potentielle Gefahr für den Handel sieht Nilsson darin, daß sich Hersteller über das neue Medium direkt an den Kunden wenden und sich im logistischen Bereich mit großen Lieferdiensten wie dem United Parcel Service (UPS) zusammentun könnten. Um solchen Entwicklungen rechtzeitig vorzubeugen, hat er eine rasche Einführung des eigenen Angebots forciert, um der Konkurrenz aus Herstellerkreisen zuvorzukommen.

Nachdem Karstadt schon mit verschiedenen Vorstufen multimedialer Präsentation Erfahrungen gesammelt hatte, wurde das vor zweieinhalb Wochen offiziell gestartete Projekt in nur vier Monaten, seit Juli 1996, realisiert. Laut Nilsson waren im Durchschnitt 100 Mitarbeiter aus verschiedenen Unternehmen mit dem Projekt beschäftigt.

Mehr als 200000 Besucher verzeichnete My World seit dem Start, täglich besuchen im Schnitt 12000 Interessenten den Server. Zwar sind die meisten nur zum Schnuppern da, aber schon über 1000 Bestellpositionen von der CD bis zum Komplett-PC wurden in Auftrag gegeben. Das System wird laut Nilsson ständig getestet und weiterentwickelt: "Wir müssen zunächst einmal lernen und unsere Erfahrungen machen. Durch Rückkopplung von Besuchern per Telefon und E-Mail erfahren wir, was den Leuten gefällt und was wir verbessern müssen. Eine komplette Neugestaltung von My World innerhalb einiger Monate wäre durchaus vorstellbar, wenn wir merken würden, daß unser derzeitiges Konzept nicht funktioniert."

Daß der Electronic Commerce hierzulande noch in den Kinderschuhen steckt, hält Harald Summa vom ECO Forum e.V. sogar noch für untertrieben: "Der hat noch nicht einmal Socken an", meint der Sprecher der Provider-Vereinigung. Seine Organisation will als Drehscheibe von Informationen und Entwicklungen rund um den Internet-Kommerz dienen. Mit ihrem jüngst gegründeten Ableger, dem Internet-Medienrat, sollen auch die dafür notwendigen wichtigen Entscheidungen in Politik und Legislative herbeigeführt werden.

Summa führt mehrere Gründe dafür an, daß "die deutschen Aktivitäten, auch im Vergleich zu anderen europäischen Ländern, eher im Zeitlupentempo voranschreiten". Viele Unternehmen stünden noch unter dem Schock der Einführung von ISO/OSI, Edifact und EDI, die hohe Kosten, aber vor allem für kleine und mittlere Firmen wenig Vorteile gebracht hätte. Insbesondere seien zahlreiche Aspekte bei den rechtlichen Rahmenbedingungen unklar - im Bereich der Sicherheit, der Zahlungsmethoden sowie der Interoperabilität. Dies halte noch viele Interessenten von Aktivitäten ab.

Laut Summa wird auch der kommerzielle Nutzen des Internet weder von Dienstleistern wie der Deutschen Telekom und den großen Online-Diensten noch von der Presse hinreichend verdeutlicht: "Die Darstellung des Internet als Spielzeug setzt sich in den Köpfen der Vorstände, der Geschäftsführer und Abteilungsleiter in den Unternehmen fest, und dann ist das Thema erst einmal vom Tisch."

Um den Electronic Commerce hierzulande in Schwung zu bringen, tut sich der ECO e.V. derzeit mit vergleichbaren anderen europäischen Organisationen zum Dachverband "Electronic Commerce Europe" zusammen, der am 26. November 1996 offiziell gegründet werden soll. Außerdem leitet der Verein eine Round-table-Gruppe beim Bundeswirtschaftsministerium, zu dem die Spitzenverbände der deutschen Industrie eingeladen sind.

Ein weiterer Bremsklotz beim Electronic Commerce ist nach Ansicht von Jeffrey Mann, Program Director Europe bei der Meta Group, das bisherige Monopol der Deutschen Telekom: "Die Telekom war ein alter Dinosaurier. Das Aufbrechen des Monopols wird hier hoffentlich bald etwas ändern." In Deutschland seien Gespräche im Orts- und Nahbereich im Vergleich zu anderen europäischen Ländern oder den USA noch immer viel zu teuer. Dies halte viele potentielle Kunden von den elektronischen Märkten fern, obwohl die Hemmschwelle gegenüber elektronischen Medien nach Beobachtungen des Meta-Group-Analysten in Deutschland vergleichsweise gering ist. Es gebe beispielsweise keine Berührungsängste mit dem Electronic Banking.

Die in vielen Bereichen noch unklare nationale und internationale Rechtslage läßt Unternehmen ebenfalls noch davor zurückschrecken, das Vertriebsinstrument Internet intensiver zu nutzen. Speziell die in der jüngsten Vergangenheit von der Bundesanwaltschaft und vom Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit gestarteten Ansätze einer Internet-Zensur sorgen hier für einige Verunsicherung. Meta-Group-Analyst Mann urteilt: "So etwas macht die Leute nervös. Weniger, weil sie sich um Sex oder Linksradikale sorgen vielmehr schreckt die Vorstellung, der eigene Internet-Provider könnte aus Gründen, mit denen man selbst gar nichts zu tun hat, blockiert oder vom Netz abgekoppelt werden. Dadurch wäre unter Umständen der Zugang zum gesamten deutschen Markt zeitweilig gefährdet."

Thomas Hofbauer, Managing Consultant Strategic Services bei Andersen Consulting, trennt strikt zwischen dem Consumer-Markt und dem Business-to-Business-Bereich. Einen Durchbruch des Electronic Commerce im Massengeschäft mit Marktpenetrationen von mehr als 20 Prozent kann er sich für die nächsten Jahre noch nicht vorstellen. Dazu fehlt seiner Ansicht nach sowohl eine hinreichende Verbreitung von PCs als auch die Akzeptanz der Online-Technologie, die noch nicht Einzug ins Alltagsleben gehalten hat. Für erfolgversprechend hält Hofbauer dagegen Set-top-Boxen, wie sie etwa Sony und Philips kürzlich vorgestellt haben. Auch dürften seiner Ansicht nach Internet-fähige Fernseher und andere, neuartige Netzzugänge den Markt beleben.

Ob allerdings in diesem Bereich in den kommenden Jahren größere Umsätze zu erzielen sind, ist mehr als fraglich. Laut Aussagen einer Expertenrunde, die SAP Anfang dieser Woche nach Luxemburg geladen hatte, entfallen etwa fünf Prozent des gesamten deutschen Handelsumsatzes auf die Versandhäuser. Einen ähnlichen Prozentsatz prognostizierten die Teilnehmer des Round-table auch dem Electronic Commerce um die Jahrtausendwende. Da aber mit einer Zunahme der Gesamtkaufkraft nicht zu rechnen ist, dürfte es hier nach Meinung der Experten lediglich zu einer Verlagerung kommen, das heißt, das Online-Geschäft geht vermutlich zu Lasten anderer Bereiche.

Bessere Perspektiven gibt es laut Andersen-Analyst Hofbauer beim Business-to-Business-Geschäft: Hier werde sich das Internet viel schneller und gezielter durchsetzen brancheninterne und -übergreifende Lösungen könnten sich aufgrund der höheren Technologieakzeptanz rasch verbreiten. Insbesondere den geschlossenen EDI-Netzen sieht Hofbauer durch das Internet eine enorme Konkurrenz erwachsen.

G7-Konferenz

Dem ECO Forum ist es in Zusammenarbeit mit dem Bundeswirtschaftsministerium gelungen, eine G7-Konferenz zum Thema in Deutschland zu organisieren. Die "First Annual Conference on Electronic Commerce" findet vom 7. bis 9. April 1997 in Bonn statt.

My World - die Technik

"My World", sowohl über das Internet als auch über T-Online erreichbar, kommt schon reichlich interaktiv daher. Beim ersten Laden der Seiten hat jeder Benutzer die Möglichkeit, sich das Angebot seinen Interessen entsprechend einzurichten. Diese Informationen werden in der Cookie-Datei des Browsers gespeichert, so daß bei allen folgenden Besuchen das virtuelle Einkaufszentrum wieder gemäß den Voreinstellungen aufgebaut wird.

Bei der Realisierung hat sich Karstadt nicht allein auf die eigenen Fähigkeiten verlassen, sondern zwei externe Dienstleister hinzugezogen. Die Karstadt-Tochterfirma Neurotec hat die technische Seite übernommen, die grafische Gestaltung wurde in die Hände des Designbüro Elephant Seven aus Hamburg gelegt.

Um eine ausreichende Geschwindigkeit des Systems zu gewährleisten, wurde bei der Hardware, Software und Internet-Anbindung nicht gespart. Zwei RS/6000-Systeme mit je 2 GB Hauptspeicher bilden das Produktionssystem, dem zwei ähnliche Maschinen vorgeschaltet sind. Dabei ist jeweils die zweite Maschine als Backup-System gedacht, um einen 24-Stunden-Betrieb über sieben Wochentage zu gewährleisten.

Auf die vorgeschalteten Rechner greifen die Mitarbeiter zu, die aktuell Veränderungen an den eingestellten Inhalten vornehmen. Nach erfolgter Aktualisierung werden die Daten, die in einer DB/2-Datenbank vorgehalten werden, dann auf das Produktionssystem übertragen. Die Netzanbindung geschieht auf Internet-Seite über eine 2-Mbit-Leitung zum lokalen Provider ISN per T-Online ist ein direkter Zugriff möglich.