Der technische Wandelmacht Töchtern und Söhnen im Land der aufgehenden Sonne zu schaffen:

Einstige Star-Jobs verlieren an Beliebtheit

14.03.1986

Mit Spannungen, die hierzulande gut bekannt sind, muß jetzt auch Japan leben. Sie resultieren aus der Furcht vor der Mikroelektronik als "Job-Killer". Technikoptimisten will Roland Schneider. Mitarbeiter der Abteilung "Technologie/HdA" beim Bundesvorstand des DBG, mit seinem Beitrag die rosarote Brille putzen, wenn es um Japan und den Segen der mikroelektronischen Revolution geht.

Niemand wird sie bestreiten - die Faszinationskraft fernöstlicher Kulturen und Traditionen. Bildungsreisende erliegen ihr immer wieder, obgleich sie vor Ort häufig ihre vorgefertigten Bilder korrigieren müssen. Seit geraumer Zeit erliegen jedoch auch Wissenschaftler, Politiker, Manager und Mitarbeiter ihrer Stäbe einer fernöstlichen, genauer gesagt: der Faszination der Pazifikregion. Doch im Zentrum ihrer Interessen stehen weder fremde Kulturen noch deren Traditionen.

Ihnen geht es vielmehr darum, die Ursachen der enormen wirtschaftlichen Dynamik dieser Region zu ergründen. Anlaß dazu gab zunächst die Eroberung hoher Weltmarktanteile in den Branchen der Automobilindustrie, des Schiffbaus und der Konsumelektronik durch japanische Unternehmen. Dabei erwiesen sich die japanischen Unternehmen lange Zeit eher als Imitatoren denn als Innovatoren. Aus verständlichen Gründen fanden daher japanische Management- und Produktionskonzepte große Aufmerksamkeit bei westlichen Besuchern.

Antworten auf deren Fragestellungen - so schien es - waren schnell gefunden: Ein geschicktes Management hatte längst das innovative Potential der Belegschaften als Quelle zusätzlicher Produktivitätssteigerungen erkannt und genutzt; durch eine besondere Organisation des Zulieferprozesses - die Zulieferung erfolgt direkt "just-in-time" an den Verwendungs- beziehungsweise Montageort - entfallen weitgehend Lagerräume und -vorräte, eine hohe Kapitalbindung wird auf diese Weise vermieden.

Zurück aus Japan, machten sich die Manager in der westlichen Welt mit großem Eifer daran, die Lehren ihrer Japan-Reise in die betriebliche Praxis umzusetzen. Qualitätszirkel und neue Fertigungssteuerungsmethoden wurden etabliert, Puffer in den Beziehungen zwischen Herstellern und Weiterverarbeitern wurden rasch und wirksam abgebaut. Doch nur wenige der zahlreichen Japan-Besucher gelangten zur Einsicht, daß die japanischen Management- und Organisationskonzepte keineswegs neu sind. Auch sie stammen, ebenso wie die technischen Grundlagen erfolgreicher japanischer Produkte, aus dem Westen. Infolgedessen führten die Bemühungen um den Re-Import bereits seit langem bekannter Managementkonzepte dazu, daß weitere Anstrengungen der "Japan-AG" für den Aufbau einer neuen Exportindustrie, der Hochtechnologie, geraume Zeit unbeachtet blieben.

"Japaner sind erfolgreich, wenn technische Ziele klar formuliert sind. Sie sind jedoch weniger geschickt, wenn es darum geht, neue technische Ziele zu formulieren oder nach unkonventionellen Lösungen zu suchen." Mit diesen Worten beschrieb das britische Wirtschaftsmagazin "The Economist" vor einigen Jahren die im Westen vorherrschende Einschätzung der Innovationsfähigkeit japanischer Unternehmen. Begründet wurde diese mit kulturspezifischen Eigenschaften der japanischen Gesellschaft, wie dem Hang zu Uniformität, ihre Gruppenorientierung, der Suche nach Übereinstimmung und dem Hang zur Höflichkeit. Lang anhaltende und umfangreiche japanische schienen die These von der Innovationsunfähigkeit zu bestätigen.

Rückblickend erweist sie sich jedoch als verhängnisvoller Irrtum. Wirtschaftshistorische Fakten, vor allem aber die Weltmarkterfolge japanischer Unternehmen in den Sektoren moderner Spitzentechnologie sprechen dagegen. Wie die Wirtschaftsgeschichte zeigt, stellt der Übergang vom Imitator zum Innovator keine Ausnahme dar. Zahlreiche wirtschaftliche Erfolge amerikanischer Unternehmen sind nach gleichem Muster verlaufen: Auch sie haben bis in die jüngste Vergangenheit hinein in Europa eingeleitete technische Entwicklungen aufgegriffen, weiterentwickelt und erfolgreich vermarktet. Düsentriebwerke, die Weltraumfahrt und Antibiotika sind Beispiele dafür.

Heute wissen wir zweifelsfrei, daß kulturspezifische Besonderheiten technischen Innovationen keineswegs entgegenstehen. Im Gegenteil, im Falle Japans waren sie für die Vermittlung zwischen national-gesamtwirtschaftlichen Interessen einerseits und unternehmenswirtschaftlichen Zielen andererseits durchaus förderlich. Sie trugen mit dazu bei, daß den Versuchen des MITI (Ministerium für Außenhandel und Industrie) zu Überwindung technologischer Abhängigkeit und Rückständigkeit in relativ kurzer Zeit vielfältige Erfolge beschieden waren.

Die Anfänge dieser Bemühungen . auf dem Gebiet der High-Technologie reichen bis in das Jahr 1972 zurück. In diesem Jahr kam es - von westlichen Beobachtern weitgehend unbemerkt - zur Einleitung einer breiten politischen und wirtschaftlichen Diskussion über die "kommunikative Gesellschaft" der Zukunft. Darin wurde nicht nur frühzeitig auf die Bedeutung der Informationstechnologie als "universeller Organisations-, Steuerungs- und Übertragungstechnologie" hingewiesen.

Weitaus bedeutsamer war die frühzeitige Erkenntnis, daß deren weitere Entwicklung und Anwendung zum Zwecke der Behauptung gegenüber anderen Weltmarktkonkurrenten eine umfassende staatliche Förderung notwendig mache. Eine Untersuchung der im Auftrag des MITI tätigen "Arbeitsgruppe für die Informationsindustrie" zeigt, daß in dieser Debatte nicht nur technische und ökonomische Aspekte Beachtung fanden; gesellschaftliche Veränderungen und soziale Probleme als Folgen einer weitergehenden Informationstechnik-Anwendung blieben in der Diskussion keineswegs ausgespart. Allerdings bringen die von der Arbeitsgruppe in ihrer "Vision" verlangten staatlichen Fördermaßnahmen, wie

- die Verbesserung der Grundlagen der Informationsgesellschaft

- die Verbesserung der Grundlagen der Informationsprozesse

- die Förderung der Entwicklung von Sozialsystemen sowie

- die Förderung der Technologieentwicklung

jedoch die Dominanz der Wirtschafts- und Technologiepolitik gegenüber der Gesellschaftspolitik zum Ausdruck. Damit knüpfen diese Forderungen an bereits ökonomischtechnisch erfolgreich praktizierte Maßnahmen auf dem Gebiet der IC-Entwicklung an.

Mit der gemeinsamen Gründung der VLSI Technology Research Association durch das MITI und fünf große japanische Computerhersteller wurde bereits 1976 die Entwicklung der Mikroelektronik eingeleitet. Der Erfolg dieses Projektes, das zur Anmeldung von mehr als 600 Patenten führte, ist bekannt: Bereits 1979 wurde Japan zum Netto-Exporteur von integrierten Schaltungen. Im gleichen Jahr erreichte der ADI japanischer Hersteller am amerikanischen Markt für 16-KBit-RAM- Ch bereits 42 Prozent. Größere Erfolg gelangen ihnen bei der Vermarktung nachfolgender Speichergenerationen.

Auch andere Felder lassen die folge staatlich gestützter Innovationsförderung in Japan erkennen So dominiert seit Jahren japanisch Kenntnis in der Herstellung von Maschinen und Industrierobotern. Die japanische Telefongesellschaft NTT, mittlerweile privatisieren, verfolgt das ehrgeizige Ziel der Errichtung eines integrierten Informationsnetzes bis zum Ende der 90er Jahre Große japanische Computerhersteller arbeiten bereits seit längerem einer neuen Computergeneration. Mit ihr wollen sie das Weltmonopol der IBM brechen. Auf dem japanischen Markt konnte Fujitsu bereit im Geschäftsjahr 1982/84 die IBM aus ihrer Führungsrolle verdränge

Eine Auflistung japanischer Güte mit wachsenden Weltmarktanteile der laufenden Spitzentechnologie Vorhaben und der Vielzahl bereit existierender High-Tech-Schaufenster ist nahezu endlos. In Europa nährt sich die Vorstellung technologischer Unterlegenheit und Rückständigkeit. Darüber hinaus begründet sie die Hoffnung, moderne Technologie erweise sich als universell Allheilmittel gegen Wachstum schwäche, Arbeitslosigkeit und soziale Not.

Angesichts der anhaltend hohe Arbeitslosigkeit in der Bundesrepublik und der Debatte um möglich technologische Ursachen verwundert es nicht, wenn der baden- württembergische Ministerpräsident hierzulande einer der eifrigsten Befürworter der Informationsgesellschaft, die These wagt: "Wir haben strukturelle Massenarbeitslosigkeit weil die technologische Umstellung nicht rechtzeitig erfolgt - und nicht weil sie zu schnell gekommen wäre Damit setzt er - wie auch viele andere - auf ein "beschäftigungsfreundliches Gesicht" des technischen Fortschritts. Zwar werde die Computerisierung Arbeitsplätze vernichten, so Lothar Späth, aber man sollte "den Leuten auch sagen, daß dort, wie diese Technologien am schnellstens entwickelt wurden - in Japan und Kalifornien - die Arbeitslosenrat am geringsten ist; dort hat man nämlich plötzlich festgestellt, daß Computer auch programmiert werden müssen und so neue, qualifizierte Arbeitsplätze entstehen."

Wie ist es um die sozialen Folge des technischen Wandels in Japan bestellt? Zeigt er dort das erhofft "beschäftigungsfreundliche Gesicht"? Liefert er Hinweise daraus daß die Skepsis der deutschen Gewerkschaften gegenüber den Chancen des technischen Wandels unbegründet ist? Eine Auseinandersetzung mit diesen Fragen fördert überraschende Erkenntnisse hervor. Danach hat die Auffassung, "strukturelle Arbeitslosigkeit durch informationstechnische Anwendungen wird in Japan nicht - auch nicht von den Gewerkschaften - befürchtet", ihre Gültigkeit verloren.

Die Beschäftigungsentwicklung in Japan kann die Behauptung, der technische Fortschritt verfüge über einen innewohnenden Mechanismus des Beschäftigungsausgleichs, nicht länger rechtfertigen. Die Zahl der in der informationstechnischen Industrie neu entstandenen Arbeitsplätze gibt keinen Anlaß zu Optimismus: Im weltweit größten Zentrum der Chip/ Produktion, auf Kyushu, arbeiten weniger als vier von hundert aller Beschäftigten der informationstechnischen Industrie in Japan. Daneben künden sich die ersten Anzeichen eines "jobless growth" an. So ist die Zahl der Beschäftigten im verarbeitenden Gewerbe in ihrer Gesamtheit t längerem rückläufig.

Eine Untersuchung des japanischen Arbeitsministeriums macht auf Zusammehänge zwischen dem Einsatz der Mikroelektronik und der Beschäftigungsentwicklung aufmerksam. Danach hat sich bei rund 40 Prozent der befragten 10 000 Unternehmen die Zahl der Beschäftigten im Anschluß an die Einführung der Mikroelektronik verringert; eine Zunahme war nur bei wenigen Betrieben zu verzeichnen. Ebenso ging die Zahl der Neueinstellungen zurück. Dort, wo noch Neueinstellungen vorgenommen wurden, bezogen sie sich zumeist nur auf Universitätsabsolventen technisch-naturwissenschaftlicher Fachrichtungen.

Doch noch führt der Einsatz neuer Technologien in Japan zumeist nicht zu direkten Entlassungen. Dies zeigt sich beim Roboter-Einsatz besonders deutlich. Er hat dazu geführt, daß die Zahl der eingesetzten Arbeitskräfte in den davon betroffenen Abteilungen zwar deutlich abnahm, nämlich in einem Drittel der untersuchten Fälle, dennoch blieb die Zahl der insgesamt beschäftigten Arbeitskräfte in rund zwei Dritteln der Fälle auf Unternehmensebene gleich. Lediglich bei rund zehn von Hundert der Unternehmen ging die Beschäftigung infolge des Roboter-Einsatzes zurück.

Gründe für die begrenzte Verringerung der Beschäftigung infolge des Roboter-Einsatzes liegen der Untersuchung zufolge in der Entlassung weiblicher Arbeitskräfte, in der innerbetrieblichen Versetzung von vorwiegend jüngeren Arbeitern und in der Versetzung zumeist älterer Arbeiter in Tochterunternehmen. Hieran zeigen sich zugleich Besonderheiten des dualen japanischen Arbeitsmarktes. Über die Stammbelegschaften hinaus beschäftigen viele Unternehmen zusätzliche Zeit- und Leiharbeitskräfte. Zahlenmäßig machen sie häufig mehr als ein Drittel der Stammbelegschaften aus. Diese werden weder zu den Beschäftigten eines Unternehmens gezählt, noch werden ihre Interessen bislang von den Betriebsgewerkschaften wahrgenommen.

Damit verfügen die Unternehmen über ein flexibles Arbeitskräftepotential, mit dem sie produktions- und rationalisierungsbedingte Beschäftigungsveränderungen ausgleichen konnten. Mittlerweile werden jedoch auch älter Angehörige der Stammbelegschaften von Rationalisierungsmaßnahmen betroffen. Eine Versetzung in Tochterunternehmen oder gar eine "Vermietung" an Zulieferunternehmen schützt sie zwar vor Arbeitslosigkeit, sie müssen dafür jedoch hohe Einkommensverluste und verschlechterte Arbeitsbedingungen hinnehmen.

Angesichts dieser Entwicklung erstaunt es nicht, daß sich mittlerweile zahlreiche Betriebsgewerkschaften um die Vereinbarung von Rationalisierungsschutzabkommen bemühen. Darin werden sie von den Dachverbänden intensiv unterstützt. Neben den Beschäftigungswirkungen des Einsatzes neuer Techniken spielt die Veränderung der Arbeitsbedingungen eine große Rolle. Als besonderes Problemfeld erweist sich dabei die Tätigkeit an Bildschirmarbeitsplätzen.

Klagen seiner Mitglieder nahm der Gewerkschaftsdachverband Sohyo zum Anlaß, die bisher ehrgeizigste wissenschaftliche Untersuchung über Probleme der Bildschirmarbeit durchzuführen. Ein zu diesem Zweck ausgearbeiteter Fragebogen wurde Voll mehr als 13 000 Arbeitnehmern beantwortet. Mehr als die Hälfte von ihnen verrichtete seit über zwei Jahren Bildschirmarbeit. Die große Mehrzahl von ihnen empfand diese Tätigkeit zunächst als "Star-Job". Aber ihre Begeisterung hielt nicht lange an. Der Untersuchung zufolge plagten sich schon bald 35 Prozent der Befragten mit dem Gedanken die Bildschirmarbeit aufzugeben - eine unerhörte Vorstellung für Angehörige der Stammbelegschaften japanischer Unternehmen.

Ihre Gründe: Streß und mentale Belastungen, Augenmüdigkeit, Verspannungen von Hals- und Nackenmuskeln, zeitweilige Erschöpfung und soziale Isolation während der Arbeit. Auffällig war ferner, daß insbesondere jüngere Befragte überdurchschnittliche Klagen wegen unzureichender Arbeitsbedingungen geltend machten. Es überrascht daher nicht, daß sich in Japan mittlerweile ein "Komitee zum Schutz der Beschäftigten gegenüber der Computerisierung" gebildet hat. Zweifel am vermeintlichen Segen der "mikroelektronischen Revolution" machen sich auch in den Reihen der japanischen Gewerkschaften breit. Sie fordern seit einiger Zeit die lnstitutionalisierung einer Technikfolgen-Abschätzung.