Auch die volle Delegation an einen kompetenten Stab ist nicht zulässig:

einführung komplexer Systeme ist in erster Linie Chefsache

10.06.1988

Ein PPS-Konzept zu erarbeiten und zu verwerfen kostet ein paar tausend Mark. Von einem eingeführten PPS-System auf ein anderes umzusteigen, kostet die meisten Unternehmen Jahrzehnte der Entwicklung. wenn nicht sogar die Existenz. Es lohnt sich deshalb, nicht nur die Konzepte zwei- oder dreimal aufzustellen, sondern auch die Auswahl mehrfach zu durchdenken, am besten mit unterschiedlichen Teams.

Rechnergestützte Produktionsplanung- und -steuerung war noch vor zehn Jahren eine Domäne von Groß- und Mittelbetrieben. Nur sie konnten sich die aufwendige Hard- und Software leisten. Diese Situation ist heute gänzlich anders: Die Hardware, die früher eine Million Mark kostete, ist heute für weniger als hunderttausend Mark zu haben und mit der Software verhält es sich genauso.

Wer heute nicht in PPS investiert, verschläft die Zukunft. Denn wer erst morgen anfängt, sieht sich Konkurrenten gegenüber, die alle bereits über das erforderliche Know-how verfügen .

Bleibt die Frage nach der Bedeutung der Wirtschaftlichkeit. Nachdem Praktiker schon jahrelang die Überbewertung der Wirtschaftlichkeitsrechnungen angeprangert haben, haben sich zwischenzeitlich auch die Hochschulen und Beratungsinstitute diesen Argumenten erschlossen: Die Einführung so komplexer Systeme wie PPS-Systeme können nicht allein mit vordergründigen Wirtschaftlichkeitsrechnungen erklärt werden. An erster Stelle steht der strategische Aspekt. Der wirtschaftliche Aspekt muß sekundärer Aspekt bleiben.

Der Grund liegt einfach darin, daß die Vielzahl der Faktoren in der Komplexität des Gesamtsystems mit den gängigen Wirtschaftlichkeitsrechnungen nicht hinreichend berücksichtigt werden kann. Wirtschaftlichkeitsrechnungen werden so eher ein taktisches Instrument, um solche komplexen Vorhaben abzublocken, als ein Instrument zur Überprüfung der Rationalität. Gleichwohl sollen hier die traditionell genannten und zum Teil auch bewertbaren Wirtschaftlichkeitsargumente aufgezeigt werden:

- Drastische Reduzierung des administrativen Durchlaufs für den Auftrag, zum Beispiel von vier Wochen auf eine Woche im Angebotswesen, von sechs Wochen auf zwei Tage in der Disposition.

- Deutlich bessere optische Darstellungsfähigkeit (Balkengrafik, 3-D).

- Verbesserung der Qualität und vor allen Dingen der Gleichmäßigkeit des qualitativen Niveaus: Keine Montagsautos.

- Abbau der Wissensmonopole einzelner Mitarbeiter durch allgemeine Zugänglichkeit der Informationen.

- Deutliche Erhöhung der Planungs- und Steuerungsflexibilität und damit der Reaktionsfähigkeit auf Marktereignisse.

Aus Gründen der Ausgewogenheit müssen auch die Nachteile solcher Systeme genannt werden:

- Reduzierung der Handlungsflexibilität für den einzelnen Mitarbeiter.

- Schaffung neuer Abhängigkeiten, zum Beispiel von Herstellern und auch von Mitarbeitern mit Know-how.

- Neue Gefahren: Risiko einer Doppelorganisation und bedeutendes Risiko des EDV-Ausfalls.

Diese Gefahren zu bagatellisieren oder beiseite zu schieben, wäre grundfalsch. Man muß sie akzeptieren und absichern. Über allen diesen Erwägungen stehen die strategischen Überlegungen, die in ihrer Qualität von der essentiellen Erkenntnis ausgehen müssen, daß sich hochentwickelte Unternehmen in der Zukunft ebensowenig von Hand steuern lassen, wie NC-Maschinen, Bearbeitungszentren oder flexible Fertigungssysteme.

Es gibt über hundert PPS-Systeme und über tausend Kriterien, nach denen diese zu bewerten sind. Die Vielzahl der Kriterien überfordert fast jeden Anwender. Ein gutes Hilfsmittel ist die Gliederung der Kriterien nach einem Schema, wie es die Abbildung 1 zeigt. jeder, der eine solche Gliederung aufstellt, stellt fest, daß die Kriterien, die sich auf die jeweilige Funktion (zum Beispiel PPS) beziehen, bei weitem nicht so umfangreich und auch bedeutend sind, wie es sich aus der Innenperspektive der PPS-Szene vermuten läßt. Es bestätigt sich vielmehr, daß die anwendungs-allgemeinen und anwendungs-neutralen, ja sogar EDV-neutralen Kriterien ein erhebliches Gewicht besitzen. So bestehen beispielsweise die von den Mitarbeitern oft verteufelten "politischen" Entscheidungen zu Recht: Es hat ja keinen Sinn, ein gutes System einzukaufen, wenn dahinter eine marode oder wackelige Firma steht.

Eine von der Universität Kassel durchgeführte Umfrage ergab, daß die "kleinen" PPS-Systeme heute durchaus einsatzfähig sind. Die Meinung, daß hiermit nur Planung und Steuerung in der zweiten Wahl betrieben werden könne, ist falsch. Die Kleinsysteme folgen den großen dicht auf und sind in manchen Funktionen sogar leistungsfähiger. Insbesondere erstaunt die Integrationsfähigkeit zu anderen Anwendungsgebieten. Eine "Macke" ist allerdings noch häufig festzustellen: Die Bedarfsermittlung erfüllt meist nur mittlere Ansprüche. Es ist zu erwarten, daß die kommenden Versionen der nächsten Jahre diesen Mangel korrigieren.

Allerdings sind Auswahl und Einführung zwei Paar Schuhe. Ebenso sind auch die Auswahlkriterien und die Kriterien der Einführung als zwei völlig unterschiedliche Kataloge zu betrachten. Gleichwohl kann die Gliederung bei den Einführungskriterien ähnlich vorgenommen werden wie bei der Auswahl, und auch die Schlußfolgerungen können ähnlich aussehen: Es wird schnell erkennbar, daß die allgemeinen Anforderungen zur Einführung von erheblicher Bedeutung sind und den Erfolg oft stärker beeinflussen, als komfortable Einzelfunktionen. Im Unterschied zu den Auswahlkriterien (Abb. 1) wird bei den Einführungskriterien lediglich in der letzten Instanz nach Hauptfeld und Umfeld der Einführung gegliedert. Damit wird deutlich gemacht, daß die Einführung neuer Systeme das Umfeld hinreichend beachten muß.

Wer sich mit Akribie nur auf die PPS-Seite stürzt, der wird nach der Einführung feststellen müssen, daß die erwartete Effizienz bei weitem nicht erreicht wird, weil die Mängel der umgebenden Organisation die Entfaltung des Nutzens im PPS-System verhindern. Nachfolgend sind die wesentlichen Kriterien zur PPS-Einführung in zehn Thesen zusammengefaßt.

Seien Sie kritischer Realist: Es ist verhängnisvoll zu glauben, daß mit der Einführung eines PPS-Systems sämtliche Probleme des Betriebes behoben wurden, die mit dem Ablauf zu tun haben. Der Druck der Kunden auf die Termine bleibt ebenso, wie die Lieferprobleme der Lieferanten. Die Motivation der Mitarbeiter wird eher schwieriger und die eigene Einsichtsfähigkeit in die Zusammenhänge der PPS-Systeme eher geringer. Nur wer diese Tatsachen richtig einschätzt, kann aus den Vorteilen der schnelleren Information und der ungleich besseren Reaktionsfähigkeit Nutzen ziehen.

Akzeptieren sie die Unvorstellbarkeit der faktoriellen Komplexität: In einem komplexen System wie dem PPS, hängt jedes Teilelement mit jedem zusammen. Gerade daraus erwächst der Vorteil eines solchen Systems: Aus einer Wirkung an einer Stelle werden nahezu beliebig viele Folgewirkungen abgeleitet. Diese Komplexität und ihre Auswirkungen, die im mathematischen Sinne faktoriell wirken, sind praktisch nicht vorstellbar. Nur wer das weiß, wird auch seriöse Abschätzungen über Einführungszeiträume von ein bis fünf Jahren mit Sicherheitsfaktoren versehen, die in der Größenordnung von zwei liegen. Nur wer das weiß, wird die Hilferufe der Mitarbeiter bei der Systemhandhabung richtig einschätzen, ohne das System zu verdammen.

Deligieren Sie nicht die PPS-Kompetenz: PPS ist eine so komplexe und schwierige Sache, daß sie in keinem Unternehmen, welcher Größenordnung auch immer, nur an Mitarbeiter delegiert werden kann. Auch die volle Delegation an einen kompetenten Stab ist hier nicht zulässig. Die Geschäftsführung muß intensives Wissen um EDV und um PPS besitzen. Dieses Wissen muß ebenso gut und tief verankert sein, wie das Wissen um Vertrieb und um die eigenen Produkte. Das PPS ist eine "Supermaschine", die das ganze Unternehmen nachhaltig beeinflußt.

Schicken Sie die Leute in Pension, die nicht programmieren können: PPS-Systeme sind EDV-Systeme. Nur wer die Eigenarten der EDV kennt, kann solche PPS-Systeme richtig einschätzen und bei Problemen richtig reagieren. Die vorgenannte These soll der Unternehmensführer auch auf sich selbst anwenden. Die These gilt natürlich nur für die, die mit dem PPS System zu tun haben.

Schaffen Sie nur Dauerlösungen: Es ist ein immer noch verbreiteter und absolut verhängnisvoller Irrtum, zu glauben, man könne irgendein System schnell installieren, um einen Nutzen zu bekommen, in der Gewißheit, man könne morgen dafür ein anderes und besseres System einsetzen. Systeme der Art eines PPS sind so komplex und verästeln sich so stark im Betrieb, daß sie eher den Niedergang der Firma bewirken, als daß man sie aus der Firma wieder herausreißen könnte. PPS-Konzepte müssen deshalb unbedingt langfristig angelegt werden. Hier ist jede Wurstele streng untersagt.

Die Gewohnheit ist auch beim PPS der beste Rationalisierungsfaktor: Wenn die Mitarbeiter bei jeder Handlung überlegen müßten, ob sie richtig ist oder nicht - was sie bei einer Umstellung zweifellos tun müseen - so kämen Sie nicht "zu Potte". Denken Sie deshalb daran, die Umstellungen in den einzelnen Phasen der Einführung beim PPS zielsicher und möglichst nur einmal vorzunehmen.

Denken Sie an die Integration: Die Integration muß sowohl innerhalb, wie außerhalb des PPS gewahrt werden. Ein PPS, das keine interne Integration sicherstellt - diese Systeme bilden heute die Ausnahme - kann nur in besonderen Fällen akzeptiert werden. Denken Sie aber auch zeitig daran, daß die Verbindung zu den kaufmännischen Aufgabengebieten ebenso wichtig ist, wie die Verbindung zu CAD, CAP und CAM.

Aequivalenz geht vor Spitzenlösung: Es macht absolut keinen Sinn, in irgendeinem Bereich des PPS eine besonders gute Lösung zu erreichen - sei es bei BDE, bei der Kapazitätswirtschaft oder im Lager. Das PPS bringt nur dann seinen Nutzen, wenn es auf der ganzen Breite in gleicher Weise (Aequivalenz) effektiv werden kann. Denken Sie deshalb insbesondere an die "Randgebiete" des PPS, wie Montage, Beschaffung, Betriebsmittelkonstruktion oder Betriebsdatenerfassung.

Gehen Sie schrittweise vor: Unter der Beachtung des Grundsatzes der Aequivalenz müssen Sie gleichwohl Schritt für Schritt in den einzelnen Teilbereichen vorgehen. Sie müssen in jedem Teilbereich einen Schritt tun, und dann in allen Teilbereichen den nächsten - nicht nur in einem Bereich einen Schritt nach dem anderen. Das heißt also, in den einzelnen Funktionen Vertrieb, Entwicklung, Fertigungsvorbereitung, Lagerung, Beschaffung, Fertigung müssen Sie die Einführungsvorhaben jeweils in Teilschritten vornehmen. Wie groß die Schritte sind, hängt wesentlich von dem Umfang der Funktionen ab, und der wesentlich von der Größe der Firma. Kleine Firmen können die Schrittweite entschieden größer wählen als große.

Schaffen Sie zuerst eine richtige manuelle Organisation und führen Sie dann PPS ein: Zu glauben, daß die organisatorischen Mängel mit einem PPS-System behoben würden, ist ein Irrtum. Ein PPS-System ist nur so gut, wie vorher die manuelle Organisation war. Schaffen Sie deshalb in jedem Bereich, in dem Sie PPS einführen, zunächst eine schlüssige manuelle Organisation, wenn diese nicht vorhanden ist. Das heißt also, in der Fertigungssteuerung zunächst eine schlüssige Steuerung über Karteien beziehungsweise Termintafeln zu etablieren, bevor sie an die EDV-Lösung gehen. Das gleiche gilt für Beschaffung, Materialwirtschaft, für Stückliste oder Arbeitsplan.

- Prof. Dr. Uwe Geitner ist Leiter des Fachgebietes Produktionsorganisation im Fachbereich Maschinenbau der Gesamthochschule Kassel Universität.