Eine unvorhersehbare Zukunft: Chance oder Bedrohung?

20.04.1990

Professor Dr. Dr. h. c. Jürgen Timm, Rektor der Universität Bremen

Was wird aus der Forschung im nächsten Jahrtausend? Mit diesem Thema wenden wir uns dem vielleicht wichtigsten, dem eigentlichen Motor der gesellschaftlichen, kulturellen, ökonomischen und ökologischen Entwicklung und den Veränderungen unserer Welt zu: Der Forschung, die unser Zeitalter - jedenfalls die letzten Hunderte von Jahren - geprägt hat und diese Rolle, so glaube ich, jedenfalls im nächsten Jahrtausend sicher behalten wird.

Wenn man einen Blick in die Vergangenheit wirft, wird man feststellen, daß im Mittelalter eine große Forschungsfeindlichkeit herrschte, die erst in der Neuzeit überwunden wurde: eine ablehnende Haltung, die mit Augustinus auf den Punkt gebracht wurde, als er sagte, daß Forschung als krankhafte Neugier des Menschen eines der wichtigen Laster sei, das ausgerottet werden müsse.

Im Gegensatz dazu hat sich in der Neuzeit mit Rückgriff auf frühe griechische Anfänge, mit Rückgriff zum Beispiel auf Aristoteles und andere griechische Vordenker eine ganz andere freie Forschung entwickelt. Sie wurde geschaffen von Menschen, die sich von den theologischen Ansätzen des Augustinus gelöst haben. Und in der Tat sind durch diese entscheidende Wende am Ende des Mittelalters und am Anfang der Neuzeit Entwicklungen in Gang gekommen, die unsere Welt in der Weise geändert haben, wie es damals und in den Jahrhunderten danach noch immer undenkbar war.

Keine der großen technologischen und auch technischen Entwicklungen, die wir seitdem erlebt haben, keine der durchgreifenden kulturellen Entwicklungen in den Hunderten von Jahren, keine der großen ökonomischen Entwicklungen und auch keine politischen Veränderungen, die wir seit dem Mittelalter erlebt haben, wäre so verlaufen oder auch nur so möglich gewesen ohne die Entfaltung einer modernen Wissenschaft: einer Wissenschaft in allen ihren Unterteilungen und Zweigen durch exponentiell ansteigende Forschungstätigkeit und Forschungsleistungen und durch eine exponentiell ansteigende Menschenzahl, die sich mit diesen Fragen beschäftigt.

In den letzten Jahrhunderten haben sich die menschlichen Lebenschancen drastisch verbessert. Die Lebenserwartung hat sich verdoppelt, die großen Infektionskrankheiten sind praktisch besiegt. Statt einigen hundert Millionen kann die Erde heute über fünf Milliarden - und ich denke in einigen Jahren auch zehn Milliarden Menschen - ernähren. Die Menschen sind damit potentiell aus dem Zwang befreit, nur für ihre physische Existenz zu arbeiten. Der Ausdruck "Proletariat" hat in seiner Notwendigkeit, daß 99 Prozent der Bevölkerung Proletarier sein müssen, seinen Sinn verloren.

Freiheit, Luxus, Bildung und Mitgestaltungsmöglichkeiten, die sich daraus ergeben, eröffnen sich in den modernen Industriegesellschaften unserer Welt nicht mehr nur der kleinen Elite von einigen Promille der Bevölkerung, sondern der großen Mehrheit der Bevölkerung. Und diese Mehrheit fordert all dies auch ein. Die Entwicklung,die die meisten von uns mit der Öffnung der DDR-Grenzen im Fernsehen miterlebt haben, zeigt, daß das völlig unabhägig vom politischen System eingefordert wird und sich durchsetzt.

Extrapolieren wir solche Entwicklungen, so wird uns die Forschung im nächsten Jahrtausend neue Entwicklungen und neue Verbesserungen unserer Lebensbedingungen bringen, die ebensowenig im einzelnen vorhersehbar sind, und wir werden mit Sicherheit viele Krankheiten besiegen. Wir werden das Wissen der Welt jederzeit auf unseren Schreibtisch, auf unseren persönlichen Computer rufen können - was das bedeutet, macht man sich heute noch nicht klar. Wir werden noch schneller, noch günstiger an jeden Ort der Erde kommen. Doch wir werden es nicht mehr nötig haben, weil die Kommunikationstechniken und -möglichkeiten so verbessert werden, daß eine physische Reise in vielen Fällen unnötig sein wird. Wir werden die Energieprobleme der Welt lösen durch die Einführung der Fusionstechnologie und durch die Möglichkeit, orbitale Sonnenkraftwerke im Weltraum zu installieren, die uns die Energie auf die Erde zurückbringen. Wir werden neue Werkstoffe erfinden und entwickeln, die wir uns heute noch nicht vorstellen können und die die Produkte, die wir bisher entwickelt haben, unnötig machen.

Wir werden körperliche Arbeiten - und wahrscheinlich die meisten geistigen Arbeiten, vielleicht 99 Prozent - automatisieren und vom Menschen lösen. Wir werden frei sein von all diesen Arbeiten, Freiheit im Überfluß haben, und uns werden alle Mittel zur Verfügung stehen, Freiheit auch zu nutzen und sie angenehm zu verleben. All dies ist, so glaube ich, eine realistische Zukunftsprognose, wenn man an das nächste, an das dritte jahrtausend denkt.

Die verschiedensten globalen Prognosen -jeweils mit wissenschaftlicher Akribie erstellt - stimmen immer in einem Punkt überein: Schreibt man die bisherige Entwicklung jeweils fort, so droht eine Katastrophe. Kurzfristig droht die problematische Erwärmung der Erdatmosphäre durch Verbrennung fossiler Brennstoffe, langfristig aber auch durch jeden Energieeinsatz - nach thermodynamischen Grundsätzen. Es droht die Vernichtung des Schutzes der Ozonschicht mit noch völlig unvorstellbaren Konsequenzen für das menschliche Leben. Es droht die Erosion und die chemische Belastung von Böden, die damit auch für Ackerbau und Viehzucht nicht mehr brauchbar sind. Es droht der Zusammenbruch des Wasser. kreislaufs, wie wir ihn bisher kennen, durch die Vernichtung der tropischen Regenwälder, durch die Brandrodungen und die Jagd nach Stämrnen von interessanten Hölzern. Alles dies stört das ökologische Gleichgewicht auf das Empfindlichste. Das Wachstum der Erdbevölkerung wird weitere, heute noch nicht erkennbare, prinzipiell unbeherrschbare Folgeprobleme heraufbeschwören.

Es darf und kann also im nächsten Jahrtausend nicht so weitergehen wie bisher. Insofern sind alle Prognosen, die wir kennen, falsch, weil sie ja immer von dem bestehenden Trend ausgehen. Daher ist vermutlich auch falsch, was ich Ihnen als Prognose der heilen Welt der Wissenschaft am Anfang gesagt habe.

Die Dynamik und die Veränderung unserer Lebensumstände führt dazu, daß die Menschen sich ihre Zukunft und die ihrer Kinder nicht mehr vorstellen können. Hermann Lübke formulierte es einmal so - und ich finde, das ist ein ganz wichtiger Aspekt, der immer wieder untergeht: "Die schwarze Wand der Zukunft, nämlich jener Zukunft, die prinzipiell nicht erkannt werden kann, rückt seit Generationen immer dichter an den Augenblick des Erlebens heran." Vor einigen hundert Jahren konnte sich jeder Mensch noch vorstellen wie er und seine Kinder und seine Kindeskinder leben werden: Sie werden den Acker so pflügen, wie er das gemacht hat, mit ähnlichen Instrumenten lebene eine ähnliche Lebenserwartung haben wie er; es wird ebenso dasselbe sein in fünfzig, in sechzig, in siebzig Jahren. Vor wenigen Generationen konnte man dies jedenfalls noch für die,nächsten 20 bis 30 Jahre sagen. In unserem Jahrhundert rückt diese Zeitspanne, innerhalb derer wir in die Zukunft blicken können, vielleicht auf 20 Jahre zusammen. Und wenn es weiter geht wie bisher, kann es sein, daß die schwarze Wand der unvorhersehbaren Zukunft nur noch wenigejahre vor uns liegt.

Die menschliche Psyche ist so geartet, daß sie eine unvorhersehbare Zukunft nicht als Chance, sondern als Bedrohung empfindet. Und insofern entwickeln immer mehr Menschen Zukunftsängste, fürchten sich vor der Zukunft, obwohl diese auch umgekehrt Chancen und Möglichkeiten bietet. Wenn wir etwas nicht erkennen, dann muß es nicht schlecht sein. Die Mehrheit der Bevölkerung und die Gesellschaft sind aus diesem Grunde - so meine ich - heute eher forschungsfeindlich.

Wir haben uns als Wissenschaftler noch nicht klar gemacht, was das bedeutet, daß innerhalb der letzten 20 Jahre die Stimmung der Bevölkerung umgekippt ist: Vom Fortschrittsglauben zur Zukunftsangst. Die Mehrheit der Bevölkerung glaubte vor 20 oder 25 Jahren, daß durch Forschung und Wissenschaft ein Fortschritt in der Entwicklung - auch für ihre persönliche Entwicklung möglich wäre.

Heute glaubt die Mehrheit der Bevölkerung vielmehr, daß die weitere Forschung eher kritisch und problematisch einzuschätzen ist. Das hat komplizierte und weitreichende Konsequenzen für uns. Die Gesellschaft akzeptiert nicht mehr, was uns Wissenschaftlern selbstverständlich erscheint: Das Primat der freien Forschung oder der Freiheit der Forschung, was auch im Grundgesetz verankert ist. Diese fehlende Akzeptanz ist in der Konsequenz den meisten noch nicht klar. Die Gesellschaft fragt, und ich meine, unter den vorhin genannten Umständen mit Recht, nach den Folgen von Forschung. Die zentrale Frage von Forschungspolitik und von Forschung in der Zukunft wird deshalb weniger sein, was wir erforschen können, sondern sie wird sein: "Was sollte erforscht werden?" Und auch immer: "Was sollte nicht erforscht werden?" Und schließlich: "Was muß erforscht werden, damit die Menschheit überleben kann?"

Stehen wir an der Schwelle um dritten Jahrtausend also vor der bangen Frage, ob wir die ökonomische Katastrophe oder die ökologische Katastrophe wählen sollen?

Ich persönlich glaube nicht an eine solche Alternative, sondern halte eine Weiterentwicklung der technisch-wissenschaftlichen Kultur für möglich und notwendig, die die ökonomischen und ökologischen Postulate miteinander vereinigt und die Forschungsanstrengungen gerade auf die Lösung dieses Problems, auf die Lösung der ökologischen Probleme mit ressourcenschonenden, mit kreislauforientierten Hochtechnologien richtet. Diese Entwicklung und diese Lösung halte ich für richtig, für notwendig und auch machbar. Wir müssen es aber ernsthaft wollen. Wir müssen es anpacken und damit sofort beginnen. Denn das nächste Jahrtausend ist nicht mehr weit hin, und - das wird meistens vergessen - wir müssen es der Mehrheit unserer Bevölkerung, aller Bevölkerungen der Industriestaaten, plausibel machen, und auch diese müssen es mit der Mehrheit wollen, sonst wird es nicht realisiert.

Einleitung zur Broschüre "2. Bremer Universitätsgespräch" vom 10. November 1989 in Bremen; Bremen 1990; Herausgeber: Friedrich Cordewener und Rolf Speckmann