Eine Datenkasse macht noch kein POS-System

06.05.1977

Walter Lönneke, Betriebswirt (VdB), EDV-Fachjournalist

Als der amerikanische Krämer Clarence Saunders im Jahre 1916 auf die Idee kam, seine Waren in Selbstbedienung anzubieten, leitete er eine Entwicklung ein, die den Handel bis heute zur stärksten Wirtschaftsmacht werden ließ. Mit seinem kurz vor dem ersten Weltkrieg eröffneten "Piggly Wiggly Store" kam er zu reichen Pfründen: Innerhalb weniger Jahre errichtete er in seiner Heimatstadt Memphis (Tennessee) die erste Filialkette und wurde in wenigen Jahren ein reicher Mann. Diese im Handel allgemein als "erste Revolution" gefeierte Pioniertat wird in diesem Jahrzehnt von einer "zweiten Revolution überholt - "Datenkassen" schicken sich an, das Bild vieler Super- und Verbrauchermärkte, Kauf- und Warenhäuser, C&C-Betriebe und Fachgeschäfte zu verändern.

Gleichwohl machen sich Handelsverbände, POS-Hersteller und Anwender das Leben sauer. Die für die Verwaltung und Verteilung der neuen 13stelligen EAN-Artikelnummer zuständige und mit Vertretern aus Industrie und Handel paritätisch besetzte CCG in Köln, der Bundesverband der SP-Warenhäuser und Datenkassen-Hersteller hatten plötzlich Schwierigkeiten mit der Kompetenzverteilung. Während die Warenhäuser auf eine rasche Artikelnummernvergabe drängten, begründete die CCG ihr Stillhalten mit mangelnden hardwaretechnischen Voraussetzungen bei den Datenkassen.

Während der Handel guter Dinge ist und die Industrie noch abwartet, befinden sich die POS-Hersteller im Zugzwang. Zu viele Konzepte und Hardware-Systeme haben breite Anwenderkreise in den letzten Jahren verunsichert. Zwar gibt es im 7. Jahr der POS-Zeitrechnung etwa 14 einsatzfähige Systeme - gleichwohl weiß niemand genau, welche hardwaretechnischen Modifikationen (durch branchenpolitische Entscheidungen) noch auf sie zukommen.

Die ersten sieben Jahre standen für Datenkassen-Hersteller nicht immer unter einem günstigen Stern. In den Anfangsjahren - etwa 1971 bis 1974 - mußte sich der potentielle Anwender mit einer exotischen Angebotspalette auseinandersetzen. Neben erfahrenen Kassenherstellern wie NCR und Anker kamen auch reine Computerhersteller auf den lukrativen Handelszweig - so IBM und Nixdorf; daneben traten Hersteller auf, denen das Geschäft mit Datenkassen und Elektronik nur wenig vertraut war (Adrema Pitney Bowes). Diese Situation verlangte eine Marktbereinigung, die auch prompt eintrat: Pitney Bowes, Olivetti, Zellweger, Bunker Ramo - alles Datenkassen-Hersteller der "ersten Stunde" - und später, freilich aus anderen Gründen, auch Anker warfen das Handtuch.

Gleichzeitig traten neue Wettbewerber an. Data General kreierte im Herbst 1976 ein Supermarkt-System auf dem bundesdeutschen Markt, Gier-Electronics hatte jüngst Premiere, und Univac hält - zunächst nur für den amerikanischen Markt - ein System bereit. Dazu entstand eine "gelbe Gefahr": Drei Japaner schicken sich an, den bundesdeutschen Markt mit billigen elektronischen Registrierkassen - die allerdings nicht systemfähig sind - zu überschwemmen.

Und dieser Markt ist attraktiv: Bis 1980, so prognostizierten Marktforscher von Frost & Sullivan, werden Datenkassen im Wert von 742 Millionen Dollar in Europa installiert sein; weltweit - so konstatieren sie - dürfte sich der Wert der bis 1979 eingesetzten Datenkassen auf über eine Milliarde Dollar belaufen und innerhalb des kommenden Jahrzehnts auf insgesamt zehn Milliarden Dollar anwachsen. Diebold schätzt, daß der bundesdeutsche Handel bis zum Ende dieser Dekade elektronische Kassenterminals im Wert von 750 Millionen Mark installiert haben wird, und die "International Data Corporation" (IDC) ermittelte eine bundesdeutsche Marktführerschaft in Westeuropa: 25 Prozent aller Datenkassen - so die Marktforscher aus Waltham in Massachusetts - stehen bereits heute in der Bundesrepublik. IDC: "Bei den 8500 europäischen Online-POS-Terminals hat NCR einen Marktanteil von über 50 Prozent, nahezu fünfmal so viel wie IBM."

Gleichwohl nimmt IBM den Kampf um die Krämerzunft auf. Mit integrierten Softwarelösungen sollen Groß-EDV-Anwender auch im Datenkassen-Geschäft bei der Stange gehalten werden. Mit IBM haben vor allem auch die aus dem Computergeschäft kommenden POS-Anbieter erkannt: Datenkassen sind nur zu vermarkten, wenn dem Handel auch geeignete Applikations-Software angeboten wird. Denn eine Datenkasse macht noch kein POS-System.

Die Warenwirtschaft steht heute im Mittelpunkt der Rationalisierungsarbeit im Handel; nicht zuletzt, weil hier noch erhebliche Reserven stecken. Datenkassen sollen dem Einzelhandel nämlich nicht nur die Einzelpreisauszeichnung einsparen, sondern vor allem ein qualitatives Berichtssystem, betriebswirtschaftliche Kennziffern und Statistiken liefern. Sie sollen beispielsweise die Transparenz bestimmter Werbeaktionen erhöhen, eine exakte - artikelindividuelle - Warenein- und -ausgangskontrolle ermöglichen, die Lagerbestände optimieren und die Personalkontrolle erleichtern.

Um jedoch alle Warenbewegungen in einem Supermarkt erfassen zu können, reichen Datenkassen, die nur den Verkauf am POS registrieren und auswerten, nicht mehr aus, um auch den Wareneingang mit einzubeziehen und das Sortiment zu überwachen, muß der Handel ein "Warenwirtschaftssystem" aufbauen. Ein Warenwirtschaftssystem stellt die höchste Form der Integration von Datentechnik und Warensortiment im Einzelhandel dar.

Gleichwohl: Würden die Waren in Deutschlands Selbstbedienungsläden noch wie zu "Tante Emmas Zeiten" - also in Bedienung - verkauft, müßten sie wegen der höheren Personalkosten im Durchschnitt um sechs Prozent teurer sein. Von den Datenkassen erwartet man einen vergleichbaren Rationalisierungseffekt; darüber hinaus werden diese Systeme die volkswirtschaftliche Stellung des Einzelhandels festigen. Datenkassen - so konstatieren besorgte Makroökonomen derweil - werden die Macht des Handels potenzieren.