Digitales Asylverfahren

Ein Weckruf für die föderale IT

23.01.2017
Von 
Hans Königes war bis Dezember 2023 Ressortleiter Jobs & Karriere und damit zuständig für alle Themen rund um Arbeitsmarkt, Jobs, Berufe, Gehälter, Personalmanagement, Recruiting sowie Social Media im Berufsleben.
Auch auf der IT-Seite hatte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) eine Herkules-Aufgabe zu schultern: Innerhalb kürzester Zeit mussten Hundert¬tausende Flüchtlinge registriert werden – und das in einer stark dezentral organi¬sierten Verwaltung, die mit unterschiedlichen IT-Systemen arbeitet.

Im Jahr 2015 wurden beim BAMF insgesamt 476.649 formelle Asylanträge gestellt. Das sind 273.815 Anträge mehr als im Vorjahr -eine Steigerung um über 130 Prozent und zu­gleich die höchste Zahl von Asylbewerberzu­gängen, die Deutschland je verzeichnet hat. In der Regierung entstand daher schnell die An­forderung, das Asylverfahren zu beschleunigen mit dem Ziel, die Wartezeit bis zur Antragstel­lung für Geflüchtete zu verringern und eine schnelle Bearbeitung ihrer Anträge sicherzu­stellen. Hierfür musste die Verwaltung ihre Ab­läufe effektiver gestalten und flächendeckend eine schnelle und vor allem identitätssichernde Registrierung der Asylsuchenden etablieren.

Über das vorhandene IT-System zur Verteilung auf die Bundesländer (EASY-System) wurden 2015 knapp 1,1 Millionen Schutzsuchende re­gistriert. Da das System aber keine personen­bezogenen Daten speichert, waren Mehrfacherfassungen derselben Person möglich. Ein zentraler Datenpool sowie ein verbesserter Datenaustausch aller am Verfahren beteiligten Behörden wurden geschaffen.

Im September 2015 wurde beschlossen, die Digitalisierung des Asylverfahrens voranzutreiben, um den Bearbeitungsaufwand zu reduzieren, die Transparenz zu ver­bessern, die Sicherheit zu erhöhen und den Leis­tungsmissbrauch zu verhindern.
Im September 2015 wurde beschlossen, die Digitalisierung des Asylverfahrens voranzutreiben, um den Bearbeitungsaufwand zu reduzieren, die Transparenz zu ver­bessern, die Sicherheit zu erhöhen und den Leis­tungsmissbrauch zu verhindern.
Foto: BAMF

Dabei ließ sich zunächst nicht ausschließen, dass die staatlichen Stellen Daten der in Deutschland ankommenden Asyl- und Schutz­suchenden mehrfach erhoben und speicherten. Ein Grund dafür lag darin, dass Asylsuchende mit mehreren Behörden auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene in Kontakt kamen. Die einzelnen Behörden aber verwenden IT-Anwendungen, die auf ihr Aufgabengebiet ausgerich­tet und nur selten miteinander verbunden sind. Auch datenschutzrechtlich war eine eindeutige Identifizierung von Asylsuchenden nicht mög­lich, da die zuständigen Ämter Fingerabdrücke zum größten Teil nicht sofort erheben konn­ten, weshalb keine zentrale Speicherung und kein Abgleich der erhobenen Daten erfolgte. Damit einher gingen Risiken insbesondere in Bezug auf Datenqualität, Doppelidentitäten und Möglichkeiten des Leistungsmissbrauchs.

Deutlich verbesserte Transparenz

In dieser Situation waren alle an diesem Vor­haben beteiligten Akteure stark gefordert. So mussten sich IT-Experten und Dienstleister der unterschiedlichen Behörden schnell darüber einigen, was machbar und sinnvoll ist. "Da wir als IT-Dienstleister mit allen föderalen Ebenen des öffentlichen Sektors im Kontakt stehen, haben wir einen Austausch der Beteiligten un­tereinander angestoßen", berichtet Marc Rein­hardt, Leiter Public Sector bei Capgemini Deutschland.

Die Bundeskanzlerin und die Regierungschefs der Länder beschlossen im September 2015 un­ter anderem, gemeinsam die weitere Digitali­sierung des Asylverfahrens voranzutreiben. Der IT-Planungsrat als zentrales Gremium für die föderale Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern in der IT richtete in einer Sondersitzung am 30. November 2015 das Koordinie­rungsprojekt "Digitalisierung des Asylverfah­rens zwischen Bund und Ländern" ein, um ein medienbruchfreies digitalisiertes Asylverfah­ren aufzubauen.

Im Rahmen des Projekts arbeiten Bund, Län­der und Kommunen seitdem eng zusammen. Die Beteiligten tagen alle zwei Monate, Länder und Kommunen stimmen die fachlichen Anfor­derungen ab, die Konzeption und Umsetzung der technischen Lösungen findet beim Bundes­amt für Migration und Flüchtlinge (BAMF), beim Bundesverwaltungsamt (BVA) und beim Bundeskriminalamt (BKA) statt - sämtlich Be­hörden des Bundesministeriums des Inneren.

Der ehemalige CIO der Bundesarbeitsagentur Klaus Vitt, inzwischen Staatssekretär im Bundesinnenministerium und Beauftragter der Bundesregierung für Informationstechnik, kommentiert das Ergebnis monatelanger Ar­beit: "Mit der Digitalisierung des Asylverfah­rens haben wir ein System eingeführt, das die Bearbeitungsdauer und den Bearbeitungsauf­wand deutlich reduziert, die Transparenz ver­bessert, die Sicherheit erhöht und den Leis­tungsmissbrauch verhindert."

Innerhalb kürzester Zeit schuf die Regierung die gesetzliche Grundlage dafür. Am 5. Februar 2016 trat das Datenaustauschverbesserungsgesetz in Kraft. Unter anderem hat es dazu geführt, dass im Kerndatensystem schon von jeher zu speichernde Grundpersonalien wie Namen, Geburtsdatum und -ort sowie Staats­angehörigkeit durch neue Speichersachverhalte ergänzt werden, insbesondere um Fingerabdrücke. Auch wurden die Übermittlungsverpflichtungen an das Ausländerzentralregister (AZR) und die Ermächtigungen zum Abruf von Daten aus dem AZR erweitert.

Parallel zum Gesetzgebungsverfahren planten Bund, Länder und Kommunen in enger Zusam­menarbeit die Umsetzung der Digitalisierung des Asylverfahrens. Sobald das Gesetz in Kraft trat, führte die Politik als ersten Schritt das "Integrierte Identitäts-Management" ein. André Schmode, Leiter des Koordinierungsprojekts im Bundesministerium des Innern, blickt stolz zurück: "Mit einem schnellen, vom Einigungs­willen getragenen Gesetzgebungsverfahren schaffte die Regierung die notwendige Rechts­grundlage, so dass die Behörden unverzüglich im Februar 2016 mit der Einführung des opti­mierten Verfahrens beginnen konnten."

Das integrierte Identitäts-Management setzt sich aus folgenden Kernbestandteilen zusam­men:

1. Registrierung beim behördlichen Erstkontakt,

2. Speicherung der Daten im Kerndatensystem,

3. fälschungssicherer Ankunftsnachweis.

Mit diesem neuen Verfahren registrieren die Behörden alle "Kerndaten" der Asylsuchenden beim Erstkontakt, die unter anderem für die schnelle Integration und Arbeitsvermittlung bei bestehender Bleibeperspektive erforderlich sind. Dazu gehören Fingerabdrücke, das Her­kunftsland, die Kontaktdaten zur schnellen Er­reichbarkeit (Anschrift, Telefonnummern und E-Mail-Adressen, Angaben zur Verteilung) und Informationen zu Gesundheitsuntersuchungen und Impfungen, die nun in einem zentralen Kerndatensystem gespeichert sind und den berechtigten Behörden sofort zur Verfügung stehen.

Keine unnötigen Behördengänge

Das Kerndatensystem basiert auf bestehenden Komponenten insbesondere des Ausländerzen­tralregisters. Dieses betreibt das BVA, das die notwendigen Erweiterungen des Registers und die Schaffung neuer Schnittstellen für Einspei­cherung und Abruf der Daten zeitnah bereit­stellte. Durch die zentrale Speicherung der Fingerabdrücke im Kerndatensystem lässt sich überprüfen, ob eine Person bereits registriert wurde. Dadurch wird laut BAMF das Verwal­tungshandeln effizienter, es lassen sich Mehr­facherfassungen vermeiden sowie Doppeliden­titäten und Leistungsmissbrauch verhindern. Seit dem 1. November 2016 werden zudem ein­gespeicherte und geänderte Anschriften von Flüchtlingen automatisiert zwischen dem AZR und den Systemen der Meldebehörden ausge­tauscht - somit Daten ohne Zeitverzug über­mittelt und den Geflüchteten unnötige Behör­dengänge erspart.

Das integrierte Identitäts-Management erlaubt den behördlichen Stellen die biometriegestützte Identitätsabsicherung der Asylsuchenden vom ersten Kontaktpunkt an und eine Verknüpfung mit Folgesystemen. Gleichzeitig ist es für die Schutzsuchenden formale Voraussetzung für den Leistungsbezug und die Asylprozessbear­beitung, außerdem erleichtert es die erforderli­chen Interaktionen mit Landesbehörden und Kommunen.

Eindeutige ID für Asylsuchende

Als Nachweis der Registrierung erhalten die Geflüchteten ein Papierdokument mit fäl­schungssicheren Elementen, den sogenannten Ankunftsnachweis. Um eine bessere Steue­rung der Asylsuchenden im Bundesgebiet zu erreichen, gibt der Staat den Ankunftsnach­weis nur in der Zielaufnahmeeinrichtung aus. Nur dort und nur mit diesem Ankunftsnach­weis erhalten Asylsuchende die vollumfängli­chen Leistungen nach dem Asylbewerberleis­tungsgesetz. So will der Staat einen Anreiz schaffen, sich registrieren zu lassen.

Das Integrierte Identitäts-Management wurde von Mitte Januar bis Mitte Februar 2016 erfolg­reich pilotiert und anschließend sukzessive in die Länder ausgerollt. Hierfür wurden die Auf­nahmeeinrichtungen der Länder sowie die Außenstellen des BAMF mit "Personalisierungsinfrastruktur-Komponenten", kurz: PIK, ausge­stattet. Es handelt sich um Erfassungsstationen mit Fingerabdruckscanner, Kamera, Passprüf­gerät und Ausweisdrucker. PIKs ermöglichen die Registrierung der Asylsuchenden und die Ausstellung des Ankunftsnachweises.

Pilotprojekt in Baden-Württemberg

In Heidelberg fand der erste Testlauf statt, der die Ausgabeprozesse des Ankunftsnachweises für Flüchtlinge überprüfte. Ein Modellversuch testete die räumliche, personelle und zeitliche Bündelung zur zügigen Ersterfassung der Ge­flüchteten bis hin zur Asylantragstellung im zentralen Registrierungszentrum mit 5000 Un­terbringungsplätzen. Heidelberg teilte hierfür die Asylsuchenden in vier Gruppen (Clusterung), abhängig von den voraussichtlich nötigen Ver­fahrensschritten. Weitere Bausteine des Modellverfahrens verringern den Zeitaufwand bei der Bearbeitung: Dolmetscher unterrichten Grup­pen von Asylsuchenden in extra eingerichteten Räumen über ihre Rechte und Pflichten.

Alle Seiten profitierten davon, dass sämtliche Schritte des komplexen Verfahrens der Flücht­lingsaufnahme und -registrierung an einem Ort vereint sind: von der erkennungsdienstlichen Behandlung über die Gesundheitsuntersuchung bis hin zur Asylantragstellung und zum Asyl­bescheid. "Mit dem Konzept des Heidelberger Modells haben wir gemeinsam mit dem Bund die Aufnahme von Flüchtlingen optimiert", so Stefan Krebs, Beauftragter der Landesregierung für Informationstechnologie in Baden-Württemberg und einer der Sieger im Wett­bewerb "CIO des Jahres 2016". Das Heidelberger Modell sei so erfolgreich, dass es Pate stehe für zahlreiche weitere Ankunftszentren, die bun­desweit aufgebaut wurden.

1500 Registrierstationen in kurzer Zeit

Die bundesweite Einführung des Integrierten Identitäts-Managements konnte Ende Mai 2016 erfolgreich abgeschlossen werden. Damit steht nun die Infrastruktur für die frühzeitige und einheitliche Registrierung von Asylsuchenden flächendeckend zur Verfügung. "Der An­kunftsnachweis und das Kerndatensystem sind beispielhaft für behördliche Zusammenar­beit auf Bundes-, Landesebene und in Kommu­nen", erklärt Markus Richter, Abteilungsleiter Infrastruktur und IT im Bundesamt für Migra­tion und Flüchtlinge. Innerhalb weniger Mona­te baute das BAMF 1500 Registrierstationen in ganz Deutschland auf. Damit gestalte sich die Registrierung von Geflüchteten "deutlich effi­zienter und sicherer als früher". Das System sei Grundlage für die Digitalisierungsagenda des BAMF. Darin sind 28 IT-Projekte verankert, die die Kommunikation zwischen den beteilig­ten Behörden weiter vereinfachen.

Inzwischen registrierten die Behörden mittels dieser Infrastruktur etwa 182.000 Personen und stellten 155.000 Ankunftsnachweise aus (Stand 22. November 2016). Die Nachregistrie­rung der sich bereits in Deutschland aufhalten­den Asylsuchenden, die nicht sofort in das förmliche Asylverfahren eintreten konnten, ist abgeschlossen.

Ziel bürgerfreundliche Verwaltung

Bund, Länder und Kommunen beraten im nächsten Schritt gemeinsam über die weitere technische und organisatorische Umsetzung insbesondere zur Anbindung weiterer Behörden an das Kerndatensystem über standardisierte Schnittstellen. Zudem hat die Verwaltung mit der Entwicklung einer Gesamtdokumentation begonnen, mit der die Prozesse einer Flücht­lingserfassung von der Registrierung bis zur Integration beziehungsweise Rückkehr trans­parent gemacht werden. Beispiele hierfür sind die Informationen zur Lebenslage eines Ge­flüchteten, die für die schnelle Integration und Arbeitsvermittlung erforderlich sind (Daten über Schulbildung, Berufsausbildung, sonstige Qualifikationen).

Auf jeden Fall zieht Klaus Vitt jetzt schon ein positives Fazit: "Eines hat sich deutlich ge­zeigt: Bei der Digitalisierung der Asylverfahren sind Bund, Länder und Kommunen in der Zu­sammenarbeit einen entscheidenden Schritt vorangekommen. Das zeigt, dass wir in einer Krisensituation sehr gut und sehr effizient zu­sammenarbeiten können. Diese Erfahrungen wollen wir nutzen, um auch in anderen Berei­chen, wo es keine Krisensituation gibt, eine moderne und bürgerfreundliche Verwaltung zu schaffen."