Zur Notwendigkeit europaeischer Netze

EG-Markt zeigt klare Tendenz zu Deregulierung und Oeffnung

19.03.1993

Der Ausbau und die Modernisierung des europaeischen Telekommunikationsnetzes muss in erster Linie privat, das heisst durch die nationalen Telecomgesellschaften sowie durch private Netzbetreiber finanziert werden. Die Europaeische Gemeinschaft kann jedoch einen subsidiaeren Beitrag zur effizienten Koordinierung sowie zur besseren Anbindung peripher gelegener Gebiete an die Wirtschaftszentren der Gemeinschaft leisten. Dafuer gibt es mehrere gute Gruende.

Information ohne Grenzen

Erstens erhoeht die Vollendung des Binnenmarktes die Notwendigkeit eines grenzueberschreitenden Informationsaustausches ganz betraechtlich. Der innergemeinschaftliche Fernsprechverkehr waechst schon jetzt ueberproportional. Das wird sich in Zukunft noch verstaerken, weil der Nachholbedarf im grenzueberschreitenden Bereich am groessten ist. Sowohl Verwaltungen wie auch Unternehmen werden im Binnenmarkt viel enger als bisher miteinander kommunizieren muessen. Es ist nicht beabsichtigt, neue zentrale europaeische Superbehoerden zu schaffen, die die Einhaltung des Gemeinschaftsrechtes ueberwachen und durchsetzen. Dafuer zustaendig bleiben weiterhin in erster Linie die nationalen Verwaltungen, doch wird es erforderlich sein, mehr Daten grenzueberschreitend auszutauschen und gemeinsame europaeische Informations- und Fruehwarnsysteme einzurichten.

Viele Kontrollen, die bislang noch an den Grenzen stattfinden, werden kuenftig durch eine intensivere Zusammenarbeit der nationalen Verwaltungsbehoerden ersetzt. Dafuer muessen europaeische Netze geschaffen werden, die einen schnellen Informationsaustausch und den gemeinsamen Rueckgriff auf gespeicherte Daten erlauben. Davon koennen durchaus innovative Impulse fuer die Telekommunikation ausgehen, doch dies setzt mutige, zukunftsgerichtete Entscheidungen voraus, fuer die in Europa leider allzuoft der notwendige politische Mut fehlt. Gerade die Telematiknetze sind jedoch ein hervorragendes Beispiel moderner Industriepolitik, bei der es eben nicht darum geht, private Entscheidungen durch staatliche Verantwortung zu ersetzen. Europaeische Telematiknetze sind erforderlich, um oeffentliche Aufgaben effektiv zu erfuellen, und darin liegt auch eine industriepolitsche Herausforderung.

Auch der Informationsaustausch zwischen den Unternehmen wird betraechtlich steigen. Im Binnenmarkt werden mehr Auslandsniederlassungen gegruendet werden, um die Produktionskosten zu senken und naeher am Markt operieren zu koennen. Die EG-weite Ausschreibung oeffentlicher Auftraege zwingt zu grenzueberschreitenden Bietergemeinschaften, was die Ansprueche an europaeische Telekommunikationsnetze erheblich steigert.

Es reicht nicht mehr aus, nur Telefongespraeche oder einfache Netzdienste durchfuehren zu koennen. An die Uebermittlung von Daten, Texten und technischen Unterlagen werden aufgrund der vertieften Arbeitsteilung in der Gemeinschaft immer hoehere Anforderungen gestellt. Dies wird mitentscheidend dafuer sein, ob es der europaeischen Wirtschaft gelingt, das Produktivitaetsgefaelle gegenueber der japanischen Konkurrenz einzuebnen.

Zweitens brauchen wir europaeischen Netze, weil die Telekommunikation eine Schluesselindustrie fuer die Zukunft ist. Der Markt fuer Telekommunikationsdienste ist nach wie vor ein Wachstumsmarkt. Nach vorliegenden Schaetzungen koennte der Umsatz in der EG bis zum Jahre 2010 von derzeit 160 Milliarden auf 680 Milliarden Mark gesteigert werden. Dies setzt allerdings voraus, dass weiter liberalisiert und vor allem kraeftig investiert wird. Die Netzbetreiber muessten real allein waehrend der 90er Jahre rund 880 Milliarden Mark investieren, was einem Anwachsen des jaehrlichen Investitionsbedarfs von 50 Prozent entspricht.

Bruessel verfolgt eine behutsame Oeffnungspolitik

Die Liberalisierung darf daher die Finanzkraft der oeffentlichen Telekommunikationsunternehmen nicht schwaechen. Dies schliesst mehr Wettbewerb in den Netzen jedoch keineswegs aus, denn der Eintritt neuer privater Anbieter, etwa im Mobilfunk, wirkt mobilisierend. Trotzdem wird Bruessel weiterhin eine behutsame Oeffungspolitik betreiben muessen, um die ehrgeizigen Investitionsplaene zum Aufbau europaeischer Netze verwirklichen zu koennen.

Naechster Schritt wird die Liberalisierung des grenzueberschreitenden Telefonverkehrs sein, auf den zwar nur vier bis fuenf Prozent der Ertraege entfallen, der aber fuer die Verbesserung der europaeischen Kommunikation von grosser Bedeutung ist. Ein Aufpreis fuer das Ueberschreiten nationaler Grenzen verstoesst nicht nur gegen die Binnenmarktidee, sondern kann durchaus auch als Monopolmissbrauch angesehen werden. Die EG stellt zwar das oeffentliche Fernsprechmonopol nicht grundsaetzlich in Frage, aber um so entschiedener muessen Missbrauchsfaelle bekaempft werden. Dies nuetzt gleichzeitig auch dem Aufbau grenzueberschreitender Netze und Dienste. Hohe Gebuehren wirken nachfragedaempfend und erhoehen damit die Rentabilitaetsschwelle fuer Netzinvestitionen. Fuer die nationalen Telefongesellschaften lohnen sich solche Investitionen ohnehin kaum. Es reicht daher nicht aus, nur die Gebuehren auf einen eventuellen Monopolmissbrauch hin zu ueberpruefen, es ist auch zu ueberlegen, wie zusaetzliches Investitionskapital fuer den Aufbau grenzueberschreitender Netze geschaffen werden kann.

Drittens sind europaeische Kommunikationsnetze ein Instrument zur Beseitigung des Wohlstandsgefaelles in der EG.

Moderne Telekommunikationsnetze sind unbestritten ein wichtiger Standortfaktor. Der Vertrag von Maastricht erkennt die Kohaesion ausdruecklich an, insbesondere die Notwendigkeit, "insulare, eingeschlossene und am Rande gelegene Gebiete mit den zentralen Gebieten der Gemeinschaft zu verbinden". Im neuen Finanzrahmen der Gemeinschaft (Delors II) sind deshalb auch zusaetzliche Mittel zur Unterstuetzung transeuropaeischer Netze vorgesehen. Der Rat hat dem allerdings noch nicht zugestimmt. Es ist zu hoffen, dass die vorgesehenen Mittel moeglichst bald freigegeben werden. Dies waere auch ein wichtiges wachstumspolitisches Signal.

Das Erreichen der ehrgeizigen Konvergenzkriterien zwingt viele Mitgliedstaaten zu einem harten Stabilitaetskurs. Die Gemeinschaft befindet sich augenblicklich in einer Schuldenfalle, aus der einige Laender allein nur schwer herauskommen werden. Deshalb ist eine europaeische Wachstumsinitiative erforderlich, um zusaetzliches oeffentliches und privates Kapital fuer die Netze zu gewinnen. Die Kommission hat dafuer eine EG-Anleihe von zirka zehn Milliarden Mark, die fuer europaeische Infrastrukturinvestitionen in den Mitgliedstaaten zur Verfuegung gestellt werden soll, vorgeschlagen. Dies wuerde es insbesondere den hoeher verschuldeten Mitgliedstaaten erlauben, weiter in die Zukunft investieren zu koennen, ohne die Konvergenzkriterien zu verfehlen. Verglichen mit den enormen Auslandsinvestitionen etwa der deutschen Telekom ist eine solche Gemeinschaftsinitiative ohnehin nur ein Tropfen auf den heissen Stein. Trotzdem ist es sinnvoll, dass die Gemeinschaft hier ein positives Signal setzt, nicht nur fuer die suedlichen Mitgliedstaaten, sondern auch fuer eine Anbindung Mittel- und Osteuropas an das europaeische Telekommunikationsnetz.

Die Telekomgesellschaften gehoeren zu den groessten Auftraggebern in der Gemeinschaft. Nicht nur oeffentliche Verwaltungen, sondern auch staatliche Monopolunternehmen muessen kuenftig ihre Auftraege gemeinschaftsweit und im Wettbewerb vergeben. Die Zeit nationaler Hoflieferanten geht damit allmaehlich zu Ende. Noch ist allerdings die grundlegende EG-Richtlinie nicht in allen Mitgliedstaaten umgesetzt. Die Geraetehersteller ueben erheblichen Druck aus, um das Inkrafttreten der Regelung weiter zu verzoegern. Stein des Anstosses ist vor allem die darin vorgesehene Reziprozitaetsklausel.

Nach der Richtlinie kann ein Angebot aus den Vereinigten Staaten oder Japan nur zurueckgewiesen werden, wenn der einheimische Fertigungsanteil weniger als 50 Prozent und die Preisdifferenz nicht mehr als drei Prozent betraegt. Dies gilt zumindest so lange, wie die europaeischen Anbieter auf dem amerikanischen und japanischen Markt weiterhin benachteiligt werden. Der Industrie reicht eine solche Reziprozitaetsklausel allerdings nicht aus. Befuerchtet wird, dass durch sie die Preise in Europa unter Druck geraten, ohne dass sich die Tueren zum Weltmarkt oeffnen. Doch mehr als eine Kann-Klausel ist in der EG nicht durchsetzbar und waere auch industriepolitisch verfehlt.

Was in der TK-Branche national schon nicht zum Erfolg gefuehrt hat, naemlich der protektionistische Schutz der vor internationaler Konkurrenz, ist auch auf europaeischer Ebene zum Scheitern verurteilt. Zum einen laesst sich die Weltmarkenkonkurrenz auf Dauer kaum vom eigenen Markt fernhalten. Jede Einfuhrschranke kann irgendwie uebersprungen werden, sei es durch Beteiligung an einheimischen Firmen oder durch Erreichen eigener Fertigungskapazitaeten unter fremder Flagge. Zum anderen macht es im Binnenmarkt immer weniger Sinn, wirtschaftliche Betaetigungsmoeglichkeiten von der Eigentumsfrage abhaengig zu machen. Was ist schon ein europaeisches Unternehmen? Dies gilt um so mehr, als strategische Allianzen mit den Weltmarktkonkurrenten oft der einzige Weg sind, um technologische Abhaengigkeiten zu vermeiden und Rueckstaende aufzuholen. Ohne Wettbewerb im eigenen Markt entstehen nur Technologieriesen, die nie auf eigenen Fuessen stehen, sondern immer am staatlichen Tropf haengen werden.

Der direkte Zugang zu den Gerichten ist wichtig

Nicht nur die Geraetehersteller muessen im Binnenmarkt umdenken. Auch den staatlichen oder halbstaatlichen Telecom-Gesellschaften faellt es immer noch schwer, sich in dem neuen Wettbewerbsumfeld zurechtzufinden. Das zeigt sich auch bei der Umsetzung der Liberalisierung des Beschaffungsmarktes fuer Telekommunikation. Die EG-Richtlinie sieht nicht nur eine gemeinschaftsweite Ausschreibung der Auftraege vor, sondern raeumt den Bietern auch weitreichende Informations- und Klagerechte ein. Damit der unterlegene Bieter seine Ansprueche tatsaechlich geltend machen kann, muss er sie notfalls auch einklagen koennen. Einen solchen subjektiv einklagbaren Rechtsanspruch will man in Deutschland offensichtlich nicht einraeumen. Auch fuer die sogenannten ausgeschlossenen Sektoren wie die Telekommunikation soll die Umsetzung der EG-Richtlinie im Rahmen eines "Haushaltsgrundsaetzeaenderungs-Gesetzes" erfolgen. Damit wuerden die oeffentlich-rechtlichen Vergaberegeln auch auf die privaten Telecomgesellschaften uebertragen, das heisst die Privatwirtschaft buerokratischer Kontrolle unterworfen. Das ist fuer die EG- Kommission kaum akzeptabel. Auf die Moeglichkeit eines direkten Zugangs zu Gerichten, etwa um Schadensersatzansprueche geltend zu machen, kann nicht verzichtet werden. Dies um so weniger, als die EG- Kommission ihre bisherige Schiedsrichterrolle im Binnenmarkt wegen Arbeitsueberlastung kaum noch effektiv ausueben kann.

*Dr. Reinhard Buescher, EG-Kommission, Bruessel.