E-Procurement und Marktplätze verschärfen den Wettbewerb

12.01.2001
Nach den zahlreichen Dotcom-Pleiten des vergangenen Jahres ist die Versuchung groß, das Thema E-Commerce etwas gemächlicher anzugehen. Mit der Aktivierung der von internationalen Großkonzernen gesponserten Marktplätze beginnen jedoch insbesondere für Unternehmen der Zulieferindustrie turbulente Zeiten. Mit Andy Kyte, Vice President and Research Director Business Management Group bei Gartner, sprach CW-Redakteur Robert Gammel.

CW: Für welche Firmen oder Branchen ist E-Procurement zum gegenwärtigen Zeitpunkt interessant?

KYTE: Beim E-Procurement muss man unterscheiden, wer vom Einkauf und wer vom Verkauf profitiert. Den größten Nutzen werden zweifelsohne die großen internationalen Organisationen haben, die gegenwärtig mit hochfragmentierten und damit uneffektiven Einkaufsprozessen kämpfen. Sie versuchen mittels E-Procurement, ihren BeschaffungsCW: Ist die Zeit für den Online-Handel mit komplizierten und erklärungsbedürftigen Produkten noch nicht reif?

KYTE: Die Einkaufsabteilungen versuchen in erster Linie den administrativen Aufwand für den Einkauf geringpreisiger Produkte zu vermindern. Unternehmen werden noch eine geraume Weile brauchen, bis sie ihre gesamten Beschaffungsprozesse mittels E-Procurement organisieren können. Es gibt keinen Sinn, mit komplizierten, konfigurierbaren Produkten zu beginnen. Firmen sollten mit einfachen Sachen anfangen, sich mit den notwendigen Änderungen der internen Prozesse auseinander setzen und lernen, mit der Software umzugehen.

CW: Ist es für Großunternehmen schwierig, ihre Zulieferer vom E-Procurement zu überzeugen?

KYTE: Gegenwärtig sind die großen Einkaufsorganisationen dabei, ihre Zulieferer zu erziehen. Die Probleme rühren daher, dass die Vorteile anfangs eindeutig auf der Beschaffungsseite liegen. Also müssen die Einkäufer die Zulieferer ermutigen und manchmal auch klarstellen, dass es künftig einfach so laufen wird. Die Zulieferer sollten hier gut zuhören, auch wenn sie große Bedenken haben. Sie müssen sich bemühen, da E-Procurement definitiv kommt.

CW: Sind die Ängste der Zulieferer nicht begründet?

KYTE: Zweifellos ja. Ihnen stehen erhebliche Investitionen bevor. Außerdem ist grundsätzlich die ganze Art, wie die Networked Economy funktioniert, dazu geeignet, Gewinnmargen zu reduzieren. Aber sich hier zu verweigern ist keine Gewinnerstrategie. Entscheidend ist, dass im globalen Markt der Wettbewerb zunimmt. Zulieferer, die sich dem nicht aussetzen wollen, haben keine Chance zu überleben. Es ist nicht das "E", das diese Entwicklung auslöst; es ist die Globalisierung, die Reduzierung von Zollgrenzen und die Schaffung zunehmend offener Märkte. E-Procurement ist nur ein kleiner Teil des Puzzles.

CW: Bedeutet das, dass die Zulieferer ihre IT-Investitionen erhöhen müssen?

KYTE: Insbesondere in der Automobilbranche werden die Zulieferer innerhalb der nächsten drei Jahre signifikant mehr Geld für IT ausgeben müssen. Viele der Hersteller in diesem Bereich stehen ständig vor der Wahl, entweder mit einer neuen Software die Effizienz zu erhöhen oder doch lieber ein neues Werkzeug für die Fertigung zu beschaffen. Viele Betriebe entscheiden sich für die neue Maschine. In der globalisierten Wirtschaft können Entscheidungen so nicht mehr getroffen werden. Diese Firmen müssen viel stärker in die Verbindung zur Außenwelt investieren.

CW: Die Vorteile liegen also auf Seiten der großen Einkäufer, und die Zulieferer zahlen den Preis?

KYTE: Stimmt. Dabei muss man aber folgendes bedenken: Zulieferer, die den Ansprüchen ihrer Kunden besser genügen, werden einen höheren Marktanteil erlangen. Diejenigen, die dazu nicht willens oder in der Lage sind, werden vom Markt verschwinden. Es geht hier schlichtweg um Wettbewerb. Jeder will E-Procurement als Einkäufer nutzen, aber niemand will es als Zulieferer mitmachen. Sogar große Zulieferer, die ihren Kunden kein E-Procurement bieten wollen, würden es gerne mit ihren eigenen Zulieferern einführen.

CW: Ist es für die kleineren Betriebe nicht schwierig, gleichzeitig in viele verschiedene Supply Chains eingebunden zu sein?

KYTE: Sie sind bereits jetzt in verschiedene Lieferketten eingebunden. Das betrifft ja auch in erster Linie die Zusammenarbeit der großen dominierenden Konzerne und deren direkte Zulieferer. Darauf wird zunächst der Fokus liegen. Aber dann wird es auf die nächstniedrigeren Levels gehen. Man darf sich E-Procurement und B-to-B auch nicht nur als die einfache Verbesserung bestehender Lieferketten vorstellen. Es werden vielmehr revolutionäre Veränderungen ausgelöst. Wir sehen schon die ersten Anzeichen. Benötigt beispielsweise ein Konstrukteur eine bestimmte Komponente aus Aluminium, kann er einen Schritt in der Lieferkette weitergehen, das Aluminium selbst ordern und seinerseits seinem direkten Zulieferer verkaufen. Dem Supplier wird dann gesagt: "Für uns braucht ihr keine Einkaufsabteilung für Rohstoffe, weil wir die mit unserer Einkaufsmacht günstiger bekommen."

CW: Für den direkten Zulieferer der ersten Ebene ist das ja nicht ungefährlich. Er wird immer stärker an seinen Auftraggeber gebunden, trägt aber dennoch das gesamte geschäftliche Risiko.

KYTE: Daher müssen sich Unternehmen mehr mit Risiko- und Beziehungs-Management beschäftigen. Sie müssen verstehen, dass sich viele der bewährten Geschäftsregeln ändern werden.

CW: Aber ist es nicht so, dass die großen Player eine Marktmacht besitzen, die es ihnen erlaubt, eigene Regeln aufzustellen?

KYTE: Deswegen beobachten ja die Federal Trade Commission (FTC) in den USA und die europäische Kartellrechtsbehörde die Aktivitäten dieser Player und die von der Industrie gestarteten Marktplätze sorgfältig. Sie wollen Monopolbildungen verhindern. Gegenwärtig kommen sie zu dem Schluss, dass die Gefahr nicht gegeben ist. Covisint haben beispielsweise beide Behörden genehmigt. Aber jeder neue Marktplatz wird natürlich von allen Seiten - von den Wettbewerbern wie den Aufsichtsbehörden - aufmerksam beobachtet. Wenn die Märkte unfair sind, werden sie nicht mehr funktionieren. Marktstrukturen müssen dem Bedarf aller Teilnehmer genügen. Man kann die Zulieferer nicht auspressen, bis sie erledigt sind, weil sie dann nicht mehr in neue Technik investieren und so keine Innovation mehr stattfindet. Die mächtigen Player müssen also darauf achten, dass die Margen der Zulieferer groß genug bleiben.

CW: Auch unter den verschiedenen Marktplätzen herrscht ein scharfer Wettbewerb. Welche Art dieser Foren hat die besten Chancen, eine bevorstehende Konsolidierungsphase zu überleben?

KYTE: Es wird eine Reihe von horizontalen, katalogbasierten Marktplätzen geben. Das wird jedoch ein von starkem Wettbewerb geprägtes Geschäft sein, wo sich nur wenige Anbieter durchsetzen können. Voraussetzung für den Erfolg sind geringe Transaktionsgebühren und hohe Umsätze. Wir schätzen, dass in der Euro-Region vier bis sechs große horizontale Marktplätze überleben werden.

Vertikale Marktplätze haben vor allem da gute Chancen, wo das Verhältnis von Angebot und Nachfrage unausgeglichen ist. Sowohl bei knappen als auch bei überschüssigen Waren bestehen für solche Plattformen aufgrund ihrer dynamischen Preisfindungsmechanismen gute Chancen. Ob diesen Sektor jedoch Dotcom-Marktplätze oder die großen, von der Industie betriebenen Exchanges besetzen, wird sich erst in den nächsten zwei bis fünf Jahren herausstellen.

CW: Haben die Dotcom-Marktplätze hier überhaupt eine realistische Chance?

KYTE: Ja, die haben sie. Beispielsweise hat der Automobilhersteller Ford, der ja ein Mitglied von Covisint ist, auch eine Allianz mit E-Steel abgeschlossen, um darüber seinen Stahlbedarf abzudecken. Marktplätze, die hochspezialisierte Nischenmärkte bedienen, haben also günstige Aussichten, sofern sie sich auf Services konzentrieren, die spezielle Formen von Einkaufsprozessen unterstützen. Die meisten vertikalen Marktplätze werden sich jedoch gegen die mit riesigen Investitionen ausgestatteten Marktplätze der Großindustrie nicht durchsetzen können.

CW: Wie machen erfolgreiche Marktplätze Profit?

KYTE: Marktplätze werden in erster Linie an Value-Added-Services verdienen. Das Modell, dass Marktplätze nur Transaktionen erleichtern und einen gewissen Prozentsatz vom Umsatz als Gebühr einstreichen, ist die Ausnahme. Freemarkets.com ist beispielsweise ein Business-Service-Provider, der unter anderem Reverse-Auctions organisiert. Freemarkets.com stellt nicht nur eine Internet-Site als Transaktionsplattform. Das Unternehmen bringt ein Expertenteam zusammen, bietet Beratungsleistungen, überprüft die Bieter und verwaltet den gesamten Auktionsprozess.

Diese Services stellt Freemarkets.com in Rechnung. Wir glauben, dass die Marktplätze, die sich auf Value-Added-Services konzentrieren, am erfolgreichsten sein werden.

CW: Business-Service-Provider werden also die transaktionsfokussierten Marktplätze verdrängen?

KYTE: Business-Service-Provider können Prozesse, die einzelne Unternehmen selbst organisieren, effektiver, günstiger und mit einer höheren Qualität abwickeln. So muss beispielsweise jede Einkaufsabteilung ihre Zulieferer genau beurteilen. Das heißt, dass man jeden Zulieferer einmal im Jahr oder alle zwei Jahre dahingehend überprüfen muss, ob seine Qualitätsstandards in Ordnung sind, ob die ISO-9001-Registrierung noch gilt, ob der Zulieferer insgesamt überlebensfähig ist. All das sind Aufgaben des Risiko-Managements. Alle Einkaufsabteilungen der an Covisint beteiligten Autohersteller nehmen diese Bewertungen vor, obwohl sie teilweise bei den gleichen Zulieferen einkaufen. Da gibt es doch Sinn, wenn der Marktplatz einen Service anbietet, der sämtliche Zulieferer beurteilt und sich dafür bezahlen lässt.

CW: Bislang arbeiten die industriegesponserten Marktplätze wie Covisint, von einigen PR-Broschüren abgesehen, weitgehend im Verborgenen. Wie lange noch?

KYTE: 2001 müssen diese Marktplätze beginnen, Services anzubieten. Dieses Jahr waren die Investoren noch geduldig. Das sind große Unternehmen, die sehr viel Geld auf den Tisch gelegt haben. Wir reden hier von Beträgen in Milliardenhöhe.

CW: Wie viel war das beispielsweise bei Covisint?

KYTE: Ich weiß es nicht, wir glauben jedoch, dass die meisten großen Initiativen der Industrie mit einem Investitionsvolumen von 200 bis 300 Millionen Dollar allein im ersten Jahr ausgestattet sind. Die können auch noch neun bis zwölf Monate an der Entwicklung von Services weiterarbeiten, aber sie müssen auch bald etwas liefern. Andernfalls dürften die Investoren sehr ärgerlich werden. Wir glauben daher, dass die von der Industrie gesponserten Marktplätze im ersten Quartal 2001 beginnen, Services zu liefern, und aggressiv in die Lieferketten eingreifen werden.

CW: Was werden die ersten Veränderungen sein, die sich in den Lieferketten abzeichnen?

KYTE: Als Erstes werden wir sehen, dass die Zulieferer, die sich momentan mit E-Procurement und vertikalen Marktplätzen beschäftigen, ihre Aufmerksamkeit den industriegesponserten Marktplätzen zuwenden werden. Deren Betreiber werden sehr fordernd auftreten, da sie ein riesiges Einkaufspotenzial repräsentieren. Zulieferer sollten also besser heute als morgen untersuchen, ob ihre Großkunden in solchen Marktplätzen engagiert sind, und gegebenenfalls so schnell wie möglich mit ihnen in einen entsprechenden Dialog treten, um zu verstehen, wie man unter den veränderten Bedingungen effektiv zusammenarbeiten kann. Diese Entwicklungen kommen definitiv. Da bringt es nichts, den Kopf in den Sand zu stecken.

CW: Am meisten wird derzeit die Situation der Automobilbranche diskutiert. In welchen Branchen werden sich von der Industrie gesponserte Marktplätze am schnellsten durchsetzen?

KYTE: Die Automobilbranche ist besonders schwierig. Hier wird es lange dauern, bis sich gravierende Änderungen abzeichnen. Schneller passiert das in der Hightech-Branche, beispielsweise bei Herstellern von Computern und Telekommunikations-Equipment, da es hier sehr kurze Produktzyklen gibt und das Supply-Chain-Management bereits jetzt aggressiv eingesetzt wird. Die haben auch die Technologie, um das schnell zum Laufen zu bringen.

Eine große Rolle wird Trade-Ranger.com spielen. Das ist der große industriegesponserte Marktplatz der Energie-, Öl- und petrochemischen Industrie, der eine enorme Einkaufsmacht darstellt. Ein weiteres Schwergewicht ist der Marktplatz der Bergbauindustrie (Quadrem, Anm. d. Red.), der unter anderem von Rio Tinto, Anglo American und DeBeers aus der Taufe gehoben wurde. Aber auch Handels- und Konsumgüter-Marktplätze werden anfangen, Services zu bieten und die Funktionsweise von Lieferketten verändern.

Am meisten wird sich jedoch der Hightech-Sektor wandeln. Hier ist es derzeit noch sehr ruhig. Das wird sich allerdings schnell ändern.

Was Zulieferer tun können ...

... um nicht von der Marktplatz- und E-Procurement-Welle überrollt zu werden:

- Beobachtung der Großkunden: Sind diese an Marktplätzen beteiligt, oder planen sie derartige Schritte?

- In Dialog treten, um auch unter veränderten Bedingungen gut zusammenarbeiten zu können.

- Rücklagen für notwendige IT-Investitionen schaffen.

- Risiko- und Beziehungs-Management verbessern.

- Prüfen, ob sich die eigenen Produkte für die Aufnahme in elektronische Katalogsysteme eignen. Mit einfachen Produkten beginnen, um den Umgang mit der Software zu erlernen.

- IT-Infrastruktur überprüfen: Ist das eingesetzte System den neuen Anforderungen gewachsen?