Auf dem Prüfstand: Brokat Infosystems AG

E-Finance-Anbieter auf der Suche nach dem Weg aus der Kostenfalle

01.12.2000
MÜNCHEN - Der Einstieg in den M-Commerce-Markt hat die Verluste bei der Brokat Infosystems AG in den letzten Monaten unerwartet stark in die Höhe getrieben. Zur Frage, wann nach den teuren Investments erstmals Gewinne in Aussicht sind, äußern sich die schwäbischen E-Finance-Spezialisten jedoch immer noch sehr vage. Von Andrea Goder*

Die Stuttgarter Softwareschmiede räumt mit dem Klischee der sparsamen Schwaben auf. Nicht Kleckern, sondern Klotzen ist in der Brokat-Zentrale seit Monaten angesagt. In den ersten drei Quartalen des laufenden Geschäftsjahres 2000 türmte das Unternehmen inklusive Goodwill-Abschreibungen und Aufwendungen für Mitarbeiter-Beteiligungsprogramme einen Fehlbetrag von 132,2 Millionen Mark auf (vergleichbarer Vorjahreswert: 47 Millionen Mark). Im selben Zeitraum lagen jedoch die Umsätze mit 138,6 (Vorjahr: 66,2) Millionen Mark nur geringfügig über dem Ergebnis.

Von Verlusten in dieser Größenordnung zeigten sich selbst gut unterrichtete Analystenkreise überrascht. "Brokat hatte in den letzten Monaten ein ernsthaftes Problem, seine Ausgaben zu steuern" ,meint beispielsweise West-LB-Analyst Wolfgang Fickus, der die ausgewiesene Bruttomarge als "herbe Enttäuschung" kommentierte. Dass dem Vorzeigeunternehmen der viel zitierten deutschen New Economy, das seit seiner Gründung im Jahre 1994 noch keine nennenswerten schwarzen Zahlen geschrieben hat, zuletzt die Kosten doch etwas aus dem Ruder gelaufen sind, bestreitet auch Vorstandschef Stefan Röver nicht.

"Um M-Commerce-Projekte realisieren zu können, haben wir im Dienstleistungsbereich Fremdleistung eingekauft", erklärt der 35-jährige CEO. Im dritten Quartal stammten laut Brokat bereits 18 Prozent der Einnahmen aus diesem Business-Bereich. Ein wichtiger Kunde konnte mit T-Motion, der auf mobile Internet-Services spezialisierten Telekom-Tochter, gewonnen werden.

Mit der seit August dieses Jahres forcierten M-Business-Strategie versuchen die Stuttgarter offenbar vor allem, einen weiteren Absatzmarkt für ihr Schlüsselprodukt "Twister", eine modulare E-Services-Plattform für Finanzdienstleister, zu erschließen. Brokat hat zu diesem Zweck im September eine strategische Kooperation mit der Siemens AG geschlossen. Gemeinsam wollen beide Unternehmen so genannte E-Payment-Produkte entwickeln, die das Bezahlen mit dem Mobiltelefon in Echtzeit ermöglichen. Im Gegenzug beteiligte sich der Münchner Elektronikgigant mit drei Prozent an Brokat, was für die Stuttgarter eine Kapitalspritze in Höhe von 141 Millionen Mark bedeutete.

Warum sich die schwäbischen E-Finance-Spezialisten seit einigen Monaten auf den M-Commerce-Markt einschießen, dem Marktforschungsinstitute wie Dataquest hohe Steigerungsraten prognostizieren, verdeutlicht auch der Blick auf die unlängst vorgelegten Neun-Monats-Zahlen. So ist die Wachstumskurve im Lizenzgeschäft (also primär "Twister") seit Jahresbeginn im Abflauen. Lagen die Softwareverkäufe gemessen am Umsatz im ersten Quartal 2000 noch bei knapp 50 Prozent, waren es zuletzt nur mehr 39 Prozent. Zudem ist die Portfolio-Erweiterung von Brokat auch vor dem Hintergrund des schwierigen US-Geschäfts zu sehen. In den Staaten hat die E-Finance-Lösung "Twister" bis heute nicht groß eingeschlagen, obwohl es das Produkt seit nunmehr zwei Jahren gibt. Hier sind es vor allem Anbieter wie Bea, IBM, Tibco oder S1, die das Rennen unter sich ausmachen. Nach dem Wegfall der US-Restriktionen bei der Ausfuhr von 256-Bit-Verschlüsselungssoftware seit März dieses Jahres muss Brokat zu allem Überfluss jetzt auch in Europa mit dem schärferen Gegenwind seitens der Wettbewerber aus Übersee rechnen.

Um technologisch vorne mit dabei zu sein, vor allem aber einen Fuß in den US-Markt zu bekommen, haben sich die Stuttgarter in den zurückliegenden Monaten teure Akquisitionen geleistet. Auf der Übernahmeliste stand beispielsweise im Juni das kalifornische Unternehmen Blaze Software Inc., ein Anbieter von personalisierten Transaktionslösungen für das E-Business. Mit der in Beaverton, Oregon, ansässigen Gemstone Systems Inc. kauften sich die Schwaben Know-how im Bereich Java-basierter Applikations-Server zu. Ein Blick auf die Eckdaten der Unternehmen verdeutlicht den Stellenwert der Mergers. Beide Firmen erzielten im letzten Jahr insgesamt 42 Millionen Dollar Umsatz, was in etwa den gesamten Einnahmen von Brokat im vergangenen Kalenderjahr entspricht. Unabhängig davon erwarten Analysten für das Jahr 2000 bei Brokat ein organisches Wachstum von rund 50 Prozent.

Ob die Käufe allerdings den Rekordpreis von 1,5 Milliarden Mark rechtfertigen, darüber gehen die Meinungen auseinander. "Die Akquisitionen waren günstig. Beim Vergleich aller Kennziffern ergibt sich ein Preis-Umsatz-Multiple", behauptet CEO Röver. Die via Aktientausch abgewickelten Deals bargen jedoch von Anfang an Zündstoff. Nach Abschluss der Verträge verlor der Nemax-50-Titel bis heute zwei Drittel seines Wertes; seit ihrem Allzeithoch im März hat die Brokat-Aktie sogar rund 80 Prozent eingebüßt und notiert Ende vergangener Woche bei nur mehr 40 Euro. Für Aktionäre trat damit - vorsichtig formuliert - ein Verwässerungseffekt ein. "Damit wurde ein Worst-Case-Szenario vorweggenommen. Mit dem heutigen Aktienkurs wären solche Merger überhaupt nicht mehr machbar", gibt sich West-LB-Analyst Fickus noch vergleichsweise zurückhaltend. Man kann es auch anders darstellen: Viele Anleger und Analysten sind bis heute der Meinung, dass sich die Brokat-Verantwortlichen mit diesen Zukäufen finanziell und organisatorisch zu viel zugemutet haben. Der erhoffte Erfolg auf dem Schlüsselmarkt USA dürfte jedenfalls in den kommenden Monaten stark davon abhängen, ob es den Schwaben gelingt, beide Akquisitionen zu verdauen - sprich: die Mitarbeiter zu halten und ihre Neuerwerbungen (Blaze wies im vergangenen Jahr 26 Millionen Dollar Verlust aus) in die Gewinnzone zu steuern.

Nicht zuletzt aufgrund der teilweise bereits konsolidierten Einnahmen von Blaze und Gemstone konnte der Auslandsanteil am Umsatz in den ersten neun Monaten dieses Jahres auf 55 Prozent hochgefahren werden. 21 Prozent davon entfielen auf den US-Markt, wo Brokat heute über 500 der etwas mehr als 1300 Mitarbeiter beschäftigt. "Die USA sind unser größter nationaler Markt", betont Röver, der allerdings auch einräumen muss, dass es sich hier überwiegend um externes Wachstum handelt.

Davon abgesehen ist es jedoch für ein deutsches Midcap-Unternehmen zunächst ein wichtiger Etappensieg, in den Staaten überhaupt wahrgenommen zu werden. Das Bostoner Beratungs- und Forschungsunternehmen Celent Communications katapultierte Brokat in einer kürzlich veröffentlichten Studie sogar auf Platz eins in der Kategorie E-Banking-Lösungen für mobile Endgeräte. Genauer unter die Lupe genommen wurden dabei Features wie Backend-Konnektivität, Skalierbarkeit, Multichannel-Unterstützung und Implementierungsaufwand. Die Autoren des Celent-Reports weisen jedoch auch darauf hin, dass mobile E-Business-Lösungen in Zukunft auch CRM-fähig sein müssen, was bedingt, dass sie auch ein breites Spektrum an Kundenbeziehungs-Management- und Beratungs-Tools beinhalten. Doch auch im M-Commerce-Markt spielen die Schwaben nicht im luftleeren Raum. Aufgrund bislang fehlender Standards für mobile digitale Signaturen gibt es heute in Deutschland eine Reihe von E-Payment-Solution-Anbietern. In Übersee sind es vor allem Mitbewerber wie Tantau Software, 724 Solutions und Financial Solutions, die derzeit von sich reden machen.

Weitere Verlustesind programmiertAuch für die Zukunft schließt Röver, um mit der technischen Entwicklung Schritt zu halten, weitere Akquisitionen nicht aus. "Unsere Anleger erwarten von uns, strategisch wichtige Möglichkeiten gezielt anzugehen", verteidigt der Brokat-Chef den ambitionierten Expansionskurs. Dieser wird den Stuttgartern nach Einschätzung von Analysten jedoch nicht nur in diesem Jahr, sondern auch noch 2001 Verluste im dreistelligen Millionenbereich bescheren. Allein für eine im Frühjahr 2000 platzierte zehnjährige hochverzinsliche Anleihe (11,5 Prozent) in Höhe von 250 Millionen Mark muss Brokat pro Jahr 28 Millionen Mark Zinsen aufbringen.

Die Softwerker, die nach momentaner Planung erste Gewinne nicht vor 2002 erwarten, gehören damit zu den größten Cash-Burnern am Neuen Markt. Parallelen zu den derzeit die Schlagzeilen beherrschenden insolvenzgefährdeten Companies am Neuen Markt weist Röver jedoch strikt von sich. "Die Liquidität reicht bei Brokat noch sehr lange. Wir haben 400 Millionen Mark in der Kasse", lässt sich der Firmenchef in die Karten sehen. Liquide Mittel in bar werden die Stuttgarter auch brauchen, denn nach dem heftigen Kursrutsch an den Börsen hat die Akquisitionswährung Aktie deutlich an Attraktivität verloren.

*Andrea Goder ist freie Journalistin in München.

Abb: Teure Expansion: Weitere Akquistionen dürften die Brokat-Bilanz auch im kommenden Jahr trüben. Quelle: WestLB