E-Business or no Business

22.01.2001
Von Gustav Herrlich
Während sich längst ganze Gesellschaftssysteme in Richtung digitale Wirtschaft bewegen, stellt sich die Frage, wie Unternehmen nach der Einführung der Internet-Ökonomie aussehen werden. Daran dürfte auch die jüngste "Flurbereinigung" innerhalb der New Economy nichts ändern. Für das IT-Management heißt es deshalb einmal mehr: Aufgepasst!

Viel wurde über das E-Business geredet in den vergangenen Jahren – manche Kritiker meinen, zu viel. Doch die Zeit der bloßen Lippenbekenntnisse ist vorüber. Für Unternehmen, denen ganze Märkte wegbrechen, sowieso. Aber auch für die IT-Verantwortlichen, die sich (spätestens) jetzt warm anziehen müssen. Das Basteln am eigenen Internet-Auftritt ist passé; in immer mehr Firmen und Konzernen entsteht ein Bewusstsein dafür, dass die Veränderungen, die mit der IT einhergehen, immer weitere Kreise ziehen. In der eigenen Organisation – und längst darüber hinaus.

Auf dem Symposium “IT-Xpo 2000” der Gartner Group im November vergangenen Jahres in Cannes, dem Mekka für europäische IT-Professionals, gab man den mehr als 4000 anwesenden IT-Managern für dieses Problem eine auf den ersten Blick einfache Lösung mit auf den Weg: die Wandlung zum Business-orientierten Manager. Eine weitere Erkenntnis: Sein Job wird nicht einfacher. Mehr als die Hälfte aller IT-Aktivitäten werden sich über kurz oder lang auf Bereiche außerhalb der klassischen Unternehmensgrenzen erstrecken. Gartner-President und -CEO Michael Fleisher stellte in seiner Eröffnungsrede drei Thesen in den Raum, von denen sich alles im Zusammenhang mit dem E-Business und damit der Zukunft der Informationsverarbeitung in Unternehmen ableiten lasse. Entscheidend sei, so Fleisher, nicht die Frage, ob “das Internet die Industrie und die Gesellschaft verändert”. Auch nicht, ob Vorstände und CEOs dieses “machtvolle Instrument nutzen wollen”. Von Belang sei vielmehr ein anderer Aspekt - der nämlich, wer “im Unternehmen neue Technologien erkennt und zum Einsatz bringt”. Und hier sieht es derzeit offenbar für die IT-Verantwortlichen nicht sehr rosig aus. Der Gartner-Chef lieferte die Begründung gleich mit, in dem er den Finger direkt in die Wunde vieler Konferenzteilnehmer legte. “Wen konsultiert Ihr CEO bei E-Business-Projekten?” Antwort: “Sie nicht”. 40 Jahre lang sei, so Fleisher, die IT “bloßer Kostenfaktor” gewesen, jetzt habe sie sich unumkehrbar als “Motor zur Geschäftsentwicklung” etabliert.

 Mit dieser Hypothek belastet hätten die IT-Xpo-Besucher eigentlich wieder ihre Heimreise antreten können. Doch die Gartner-Analysten machten den IT-Managern Hoffnung – unter der Voraussetzung, dass sie den durch die Internet-Wirtschaft ausgelösten “Cultural Change” selbst vorleben, sich quasi an dessen Spitze setzen. Bedingungen für ein Comeback klassischer IT-Professionals als Lenker und Denker in E-Business-Projekten seien eine endgültig neue Definition der Rolle des CIO sowie das “Schlachten einiger heiliger Kühe der IT”. Letzteres dürfte vor allem auch deshalb notwendig sein, weil laut Gartner Group viele Unternehmen in den kommenden zwölf Monaten realisieren werden, dass das “Going E” nicht das automatische Allheilmittel für alle Probleme war, und deshalb ernsthaft an ihren einschlägigen Investitionen zweifeln.

Mit fatalen Folgen, wie Alexander Drobik, Gartner-Vice-President für Business Management Research, in Cannes zu bedenken gab. Denn spätestens jetzt gehe es ans Eingemachte, muss sich der Erstellung eines einfachen Online-Auftritts eine unternehmensweite E-Business-Strategie unter Einbeziehung von Geschäftspartnern, Lieferanten und Kunden anschließen. Mit anderen Worten: Die IT ist gezwungen, den drei wichtigsten Business-Trends Globalisierung, Virtualisierung und Transparenz zu folgen. Auch beim deutschen Management-Beratungshaus Diebold sieht man die Zeichen der Zeit jetzt in einem, wie es heißt, “Realisisierungsstadium”. Die Shakespearschen Worte “Sein oder nicht sein” lässt sich demnach auf die Welt der Informationsverarbeitung übertragen: “E-Business no Business”. Die Informatik sei der “Enabler”. Nur eine weitere Worthülse? Mitnichten. Diebold nennt mindestens acht konkrete Aufgabenfelder, in denen der IT in Zukunft regelrechte Stabsfunktionen zukommen: Demnach steht in ihrem Pflichtenheft die Schaffung von zusätzlichem Kundennutzen, die in Gangsetzung neuer Geschäfte sowie das Überwinden traditioneller Unternehmensgrenzen. Gleichzeitig muss der interne IT-Shop endlich seiner Rolle als effizienter Dienstleister gerecht werden: Er hält das Unternehmen, setzt bei den Mitarbeitern kreative Kräfte frei, ermöglicht bessere und schnellere Entscheidungen, unterstützt die Geschäftsprozesse und senkt gleichzeitig die Kosten.

Doch die Probleme in puncto Anwendungsstrategie sind dadurch, wie die Diebold-Experten konstatieren, nicht geringer geworden. Der Grund hierfür sei einleuchtend: Die Abbildung der Unternehmensprozesse unter Berücksichtigung von E-Business-Technologien generierten zunehmende Komplexität. Neue Wertschöpfungsketten im Unternehmen und möglicherweise unternehmensübergreifende Ketten wie die “Supply Chain” bedingten geradezu den Einsatz neuer Applikationen, wobei die Integration mit den vorhandenen Systemen sowohl hinsichtlich der Technik als auch der Daten meistens noch nicht gegeben sei. Des Weiteren führen schnelle Lösungen zum (vorübergehenden) Verzicht auf Standardisierung. Fazit von Diebold: “Es entsteht zunächst ein Wildwuchs an Applikationen im peripheren Bereich, der mühsam wieder gestutzt werden muss.”

Keine sehr beruhigende Perspektive, wo doch alles nach Anwendungsintegration schreit. Zu besagten heiligen Kühen der IT gehört deshalb, um auf die Thesen der Gartner Group zurückzukommen, in erster Linie das traditionelle Back Office samt mehr oder weniger intelligent implementierter Frontend-Insellösungen. Rein produktbezogen betrachtet bedeutet dies: Ein ERP-System ohne integrierte Supply-Chain-Management (SCM)- und Customer-Relationship-Management (CRM)-Lösung ist künftig so gut wie nichts mehr wert. Gartner-Vice-President Peter Sondergaard zerstörte vor der Zuhörern in Cannes in diesem Zusammenhang mehr als nur eine Hoffnung: “Unterschiedliche IT-Lösungen, die lediglich die Interaktion mit dem Kunden überwachen, werden nicht die gewünschten Einnahmen und Profite bringen.” Gefordert sei vielmehr eine “effektive Anwendungsintegration”, die – zur Erhöhung der Kundenloyalität – der Business- und Marketing-Strategie des Unternehmens angepasst wird und damit den “geschäftlichen Erfolg” sicherstellt.

Einfacher gesagt als getan, denn für die IT-Manager heißt das zunächst: Die ewigen Diskussionen, die Konflikte mit den Business-Verantwortlichen (und Fachabteilungen) finden ihre Fortsetzung dort, wo sie bis dato kaum ein Thema waren – bei den “Mission-critical”-Anwendungen. Und die Gartner-Analysten setzten in Cannes noch einen drauf, indem sie weitere “Major Trends” formulierten. Nur diejenigen Companies, die eine sich an ihrem Business orientierende Anwendungsintegration als Kernstück der Unternehmensstrategie nicht bloß definieren, sondern sie auch bedingungslos umsetzen, werden zu den “künftigen Gewinnern in der Post-E-Business-Ära” zählen.

Gewissermaßen als Katalysatoren wirken sich dabei neben den Entwicklungen im Internet die Technologieschübe in der mobilen beziehungsweise drahtlosen Kommunikation aus – vor allem in Europa. Hier sei, wie es in Cannes hieß, “eine Art Revolution” zu beobachten, die einen sichtbaren Markt schaffe, bei dem der Kunde “die Führungsposition einnimmt”. Als Konsequenz rät Gartner den Unternehmen daher – neben der erwähnten Verzahnung von IT- und Business-Strategie –, auf absehbare Zeit mindestens die Hälfte ihrer laufenden IT-Investitionen für kundenfokussierte Anwendungen auszugeben. Was umso bedeutsamer ist, als Gartner in den kommenden zehn Jahren einen Anstieg der herkömmlichen IT-Bugdets in Anwenderfirmen von derzeit fünf bis sieben Prozent des Umsatzes auf mindestens zehn Prozent prognostiziert.

Folgt man diesem Credo, dürfte künftig eine Menge Geld in Applikationen und Dienstleistungen fließen, die in ihrer Dimension heute zum Teil nur in Ansätzen erkennbar und abschätzbar sind: ERP-Systeme der “zweiten Generation” “intelligente” und “transparente” CRM- und SCM-Lösungen, das mobile Endgerät mit Internet-Zugang als künftige IT-Zentrale – nicht nur beim bestellenden Kunden, sondern auch beim Lieferanten und Auftragnehmer, wo beispielsweise der Vertriebs-mitarbeiter via Handy, PDA oder Notebook direkten Zugriff auf die gesamte Prozess- und Logistikkette seines Unternehmens hat. Gartner kleidet dieses Szenario in den etwas missverständlichen Begriff einer “Net Liberated Organisation”.

Firmen werden demzufolge in absehbarer Zeit keine separaten E-Business-Aktivitäten mehr an den Tag legen, sondern E-Business ganz einfach “leben”. Das Internet befreie dann als wichtigster Faktor Organisationen von Einschränkungen hinsichtlich Zeit (wann Geschäfte getätigt werden), Ort (wo Geschäfte getätigt werden), Hierarchien (wie Personen miteinander agieren), Besitz (wem gehören die eingesetzten Vermögenswerte beziehungsweise Produktionsmittel) und Informationen, hieß es in Cannes etwas pathetisch. Doch die Gartner-Analysten ließen diesen hehren Worten konkrete Prognosen folgen: Bereits in fünf Jahren werden demnach 90 bis 95 Prozent der dann weltweit noch existierenden Top-2000-Unternehmen diese “Net-Liberated”-Geschäftsphilosophie als vorrangiges Organisationsmodell nutzen. Und was noch wichtiger sein dürfte: Dieser “Avantgarde” winkt laut Gartner nicht nur ein entsprechender Imagegewinn, sondern eine Verbesserung der Gewinnspanne um fünf bis 25 Prozent.

Unabhängig davon müssen IT-Verantwortliche aber auch in Zukunft ihre täglichen Hausaufgaben lösen können. Die technische beziehungsweise taktische Empfehlung, wonach das Thema Anwendungsintegration in den kommenden Jahren der Bereich sein dürfte, der den größten Einfluss auf die Business-Strategie haben wird, hilft dabei aber nur bedingt weiter. Grundsätzlich gehören nach Ansicht der Gartner Group nicht nur “heilige Kühe” wie das Back Office oder der laufende Betrieb von Legacy-Applikationen, sondern jedes neue IT- respektive E-Business-Projekt auf den Prüfstand. Man müsse immer öfter den Mut haben zu sagen: “Das können andere besser.”

Eine neue Generation an Dienstleistern ist also gefragt. Laut Gartner Group können und werden nur Application Service Provider (ASPs) der Schlüssel für diese Herausforderungen sein. Kein einzelner E-Business-Consultant, Anwendungsanbieter oder IT-Solution-Provider sei in der Lage, erfolgreich ein Projekt im Bereich “E-Business-Transformation” ohne “das Element ASP” zu betreiben. Anwendern könne man daher nur raten, auf so genannte One-Stop-Shop-Lösungen zu verzichten und einen kompetenten ASP in die Strategie einzubinden. Bei dieser Partnersuche sei allerdings große Vorsicht und damit eine “Ausweichstrategie” angebracht.

Schon bis 2004 dürften mehr als 80 Prozent der heute in diesem Bereich existierenden Dienstleister entweder durch Konsolidierung oder durch Scheitern vom Markt verdrängt werden. Apropos Konsolidierung: Sehr pointiert setzte sich die Gartner Group in Cannes mit dem derzeitigen “Mega-Hype” um Internet-Marktplätze auseinander. Einerseits sei hier nach wie vor mit einem kräftigen Anstieg von Umsätzen, vor allem im B-to-B-Sektor, zu rechnen. Gartner prognostiziert hier beispielsweise alleine für Europa bis 2004 ein Marktvolumen rund einer Billion Dollar; weltweit könnte es dann schätzungsweise mehr als 7000 solcher digitalen Basare (inklusive einschlägige B-to-C-Aktivitäten) geben. Diese Zahl wird sich Gartner zufolge mittelfristig aber wieder deutlich reduzieren – vor allem dürften 95 Prozent aller B-to-B-Dotcoms, die im Windschatten dieses Trends segeln, wieder von der Bildfläche verschwinden.

Nach dem 1999 in Cannes vorhergesagten Shake-out bei Internet-Startups im B-to-C-Bereich, der wenige Monate später Realität wurde, erwarten die Marktforscher demnach eine weitere Marktbereinigung. Die Zukunft werde nicht nur im B-to-B-Sektor gemischten, also “click-and-mortar”-orientierten Geschäftsmodellen gehören. Reine Dotcom-Companies müssten “ihre Nachteile in puncto Markenidentität, Effektivitätszuwachs und Produktivität durch Mehrwert in anderen Bereichen ausgleichen”. Dort, wo man innerhalb der viel zitierten New Economy dazu nicht in der Lage war, hat man in den zurückliegenden Monaten sein Lehrgeld gezahlt – an der Börse und an der Kundenfront. Doch an der Zukunft der Internet-Ökonomie läßt sich deshalb nicht rütteln. Auffällig ist nur, dass jetzt wieder vernünftigere Töne Einzug halten.

 In Cannes hörte sich das beispielsweise so an: “Traditionelle Unternehmen sind durchaus in der Lage, neue Modelle und die Vorteile von E-Business-Strategien zu adaptieren, während sie gleichzeitig ihre wirtschaftlichen Vorteile bewahren können.” Das könnte, nein muss auch in Zukunft das Motto des IT-Managements sein. “Re-Defining the role of the CIO” war eines der weiteren Schlagworte, das durch zahlreiche Vorträge der IT-Xpo geisterte. Mit dem Unternehmensvorstand kommunzieren, eigene Management-Teams aufstellen, jedes Projekt mit einem individuellen Business-Plan versehen – Kontrolle des jeweiligen Returns on Investment inklusive. Das Pflichtenheft, das die Gartner Group hier aufstellte, ist alles andere als neu. Jetzt kommen neben diesen Selbstverständlichkeiten aber noch neue Aufgaben hin-zu. IT-Manager und CIOs müssten im Zeitalter des E-Business Initiativen und Strategien (mit) anstoßen, mit Hilfe neuer Technologien neue Geschäftsfelder erschließen, entsprechende interne und externe Ressourcen managen und über allem das wachende Auge des Controlling haben.

Dabei gibt es nur “Hopp oder Top: Scheitert man an dieser anspruchsvollen Stellenbeschreibung, ist möglicherweise ein jähes Ende der CIO-Karriere vorgezeichnet”. Gelingt es den IT-Verantwortlichen indes, sich mit ihrer neuen Rolle zu arrangieren, die “Leadership” in E-Business-Projekten vom Vorstand, vom Marketing oder Vertrieb zurückzuerobern, dürfte in absehbarer Zeit eine vom heutigen Blickwinkel aus betrachtet noch revolutionäre Frage zulässig sein: “Warum sollte ein CIO nicht die Chance erhalten, zum CEO aufzusteigen?”