DV-Training/Projekt- und Lernkulter sind in Unternehmen Fremdwoerter

22.09.1995

Neue Verfahren und Arbeitsweisen der Anwendungsentwicklung, insbesondere eine kooperative Entwicklungspartnerschaft mit den Anwendern, haben das Berufsbild des Anwendungsentwicklers stark veraendert. Schnelles Lernen und eine effiziente Kooperation in Projekten sind ueberlebensnotwendig und machen projektbegleitende Kurse notwendig.

Von Guenther Thoma*

Unternehmensorganisation, Fuehrungskonzepte, Produktionsstrukturen und die Nutzung moderner Technologien muessen permanent gruendlich ueberdacht werden. In diesem Prozess des Wandels nimmt die Informationstechnologie eine zentrale Rolle ein. Sie ist zum Lebensnerv aller grossen Unternehmen geworden, wirkt aber haeufig sehr hinderlich, statt den notwendigen Veraenderungsprozess aktiv und zielgerichtet mitzugestalten.

Fuer die Informatik bedeutet dies eine besondere Herausforderung und eine verantwortungsvolle Aufgabe, denn ohne sie wird sich dieser Prozess in der Zukunft nicht gestalten lassen. Insbesondere die Anwendungsentwicklung ist fuer die Umsetzung strategischer Unternehmensziele in leistungsfaehige Informationssysteme verantwortlich. Bei dieser Umsetzung erkennen die Unternehmen zunehmend die wechselseitige Abhaengigkeit von Informationstechnologie, Unternehmensorganisation und Qualifikation der Mitarbeiter.

In den vergangenen Jahren war das Bemuehen, Produktivitaet und Qualitaet in der Anwendungsentwicklung zu steigern, sehr stark von technischen Massnahmen wie der Einfuehrung neuer Werkzeuge gepraegt. Die Ziele bei der Gestaltung und Nutzung neuer IT-Anwendungen werden jedoch nach wie vor nicht erreicht.

Kostenbudgets und Entwicklungszeiten ueberschreiten oft den vorgegebenen Rahmen; zudem scheiterten Projekte in zunehmenden Masse. Grosse, international renommierte Unternehmen waren seit der Einfuehrung neuer Entwicklungswerkzeuge (CASE-Systeme) nicht in der Lage, ein einziges Informatikprojekt zufriedenstellend abzuschliessen.

Mitarbeiter einseitig technisch ausgebildet

Fuer sie wird es Zeit, die fundamentalen Probleme zu loesen. Das liegt weniger an einem Mangel der Methoden und Werkzeuge als an der einseitig technischen Qualifikation der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, an fehlender Projekt- und Lernkultur oder dem Beharren auf ueberkommenen Ideen ueber das Gestalten und Fuehren komplexer Entwicklungsprozesse.

Aktuelle Aufgabenstellungen der betrieblichen Anwendungsentwicklung sind:

1. Systementwicklung in einer kooperativen Entwicklungspartnerschaft zwischen Informatik- und Fachabteilung unter Nutzung flexibler und produktiver Entwicklungsplattformen und

2. Systemintegration verschiedener Anwendungssysteme und Standardsoftware, dabei

3. Umsetzung neuer Organisationsformen und Ausrichtung der gesamten IT an den strategischen Unternehmenszielen, gepraegt durch

4. Optimierung und Restrukturierung von Geschaeftsprozessen.

Die besondere Herausforderung liegt dabei im Gestalten und Management dieser Aufgaben als komplexe sozio-technische Prozesse. Sie stellen einen drastischen Wandel im Berufsbild des klassischen Software-Entwicklers dar.

In einer effizienten Anwendungsentwicklung haben sich die Aufgaben vieler Mitarbeiter und damit die Qualifikationsanforderungen erheblich geaendert. Sie uebernehmen die Rolle des Prozessmoderators oder Prozessmanagers in strategischen Reorganisationsprozessen. Ihre Arbeit ist nicht nur durch methodisch-technische Fragestellungen, sondern auch durch die Entwicklungsdynamik sozialer Prozesse bestimmt.

Dies erfordert neben den vorhandenen IT-Fach- und Anwendungskompetenzen zusaetzliche Faehigkeiten wie solche zur Prozessgestaltung oder zum Lernen und Veraendern. Erst das synergetische Zusammenwirken dieser Faehigkeiten fuehrt zu einer Handlungskompetenz, mit der die zuvor geschilderten Aufgaben in eine tragfaehige und wirtschaftliche Loesung muenden koennen.

Als Beispiele fuer wichtige nichttechnische Qualifikationen sind zu nennen:

-Prozessgestaltungsfaehigkeit: Entwicklungsprozesse ohne Zielkonstanz regulierend gestalten; Zyklizitaet und Rueckkopplungen als Methoden der Entwicklung nutzen, soziale Prozesse in ihrer Dynamik verstehen sowie Interessen und Widersprueche als Motor der Entwicklung nutzen koennen.

-Lern- und Veraenderungsfaehigkeit: Den eigenen beruflichen Weg als einen staendigen Lern- und Veraenderungsprozess zu begreifen, neuen Anforderungen aufgeschlossen und neugierig zu begegnen, selbstgesteuert das jeweils erforderliche Wissen zu erwerben und anzuwenden sowie sich flexibel den jeweiligen Projektgegebenheiten anzupassen, ohne die eigene Identitaet zu verlieren.

Eine Qualifizierung von Mitarbeitern fuer diese neuen Anforderungen muss insbesondere Handlungskompetenzen beruecksichtigen, die unmittelbar fuer die Projektarbeit noetig sind. Handlungskompetenzen lassen sich aber nicht vermitteln, wenn fachliche Inhalte wie Systemmodellierung (etwa Datenmodellierung) unabhaengig von Themen wie Kommunikation und Kooperation in der Projektarbeit geschult werden.

Insbesondere die Integration kommunikativer Kompetenzen ist in herkoemmlichen Schulungskonzepten vernachlaessigt worden. Die von fachlichen Inhalten isolierte Vermittlung kommunikativer Kompetenzen ist in der Regel nur wenig effektiv.

Die Qualifizierung von Mitarbeitern darf sich deshalb nicht auf Schulungen allein beziehen. Das Lernen muss vielmehr Gegenstand der Projektarbeit sein, und die Selbstlernkompetenz der Mitarbeiter ist zu foerdern, um ein dauerhaftes Schulungsdefizit zu vermeiden.

Ein Human Resource Development (HRD) begleitet die Einfuehrung neuer Verfahrensweisen (zum Beispiel objektorientierte Modellierung) und neuer Entwicklungswerkzeuge in Projekte der Anwendungsentwicklung. Es ist ein Massnahmenbuendel, das zu einer Verbesserung von Produktivitaet und Qualitaet erheblich beitraegt und das Risiko von Projektfehlschlaegen verringert.

Aufstiegschancen fuer Informatiker verbessern

In Projekten hat "Step" das Human Resource Development mit folgender Zielsetzung eingefuehrt:

- ganzheitliche Qualifizierung durch Verbinden von fachlicher, methodischer und sozialer Kompetenz zu einer anwendungsbezogenen Handlungskompetenz;

- besondere Betonung der Schluesselqualifikationen "Selbstlernkompetenz" und "Teamlernen";

- organisatorische Verankerung von Lernprozessen im Projektmanagement der Anwendungsentwicklung;

- Etablierung eines internen Kunden-/Lieferanten-Bewusstseins;

-mehr Motivation und Spass an der Arbeit durch verbesserte Entwicklungsmoeglichkeiten der Informatikmitarbeiter.

Die Konzeption und Umsetzung des HRD geschieht in der Regel in einer Kooperation zwischen der Informatik, dem Schulungsbereich und der Personalentwicklung. Basis des HRD-Gesamtkonzepts sind die Identifizierung und Beschreibung der kuenftig notwendigen Qualifikationen und eine transparente Darstellung der Zielgruppen.

Darauf aufbauend und in Abstimmung mit der konkreten Planung neuer Anwendungs-Entwicklungsprojekte werden Massnahmen konzipiert, die sich zielgruppenorientiert und projektbegleitend durchfuehren lassen. Folgende vereinfachte Struktur (siehe auch Abbildung) zeigt eine zielgruppenorientierte Durchfuehrung von HRD-Massnahmen in der Anwendungsentwicklung eines grossen kommerziellen DV- Anwenders (Finanzdienstleistung und Versicherungswirtschaft). Das betroffene Unternehmen stand vor der Aufgabe, eine neue Software- Entwicklungsumgebung einzufuehren und mehrere, fuer das Unternehmen ueberlebenswichtige Software-Entwicklungsprojekte abzuwickeln.

Entscheider: Alle Mitarbeiter und Fuehrungskraefte, die fuer die Projekte, die Informatik- beziehungsweise Anwendungsentwicklungsstrategie, fuer die Weiterentwicklung der Mitarbeiter und fuer die Umsetzung einer Projekt-Management-Kultur verantwortlich sind. Dies sind Abteilungsleiter und Gruppenleiter, Projektkommisionsmitglieder, Projektleiter.

Multiplikatoren: Alle Mitarbeiter, die im Rahmen der Projektarbeit besonders geeignet sind, die Einfuehrung einer neuen "Projektkultur" mitzutragen. Sie haben aufgrund ihrer Position im Projekt und ihrer Qualifikation eine erhebliche Verantwortung fuer das Gestalten der Entwicklungssprozesse in der Projektarbeit. Multiplikatoren sind zum Beispiel Projektleiter, Methoden-/Tool- Berater, Informations-Manager, Fachbereichskoordinatoren etc.

Methoden-/Tool-Berater: Die Methoden-/Tool-Berater (M/T) haben die Funktion, die Einfuehrung und die praktische Anwendung der neuen Methoden und Werkzeuge zu unterstuetzen. Die Anwendung bedeutet fuer die meisten Projektmitarbeiter eine neue Arbeitsweise. Dieses neue Verstaendnis muss durch die M/T-Berater in Gruppenarbeiten, Workshops, Schulungen, Einzelberatungen und in enger Zusammenarbeit mit dem Projektleiter begleitet werden.

Projektteams: Konkrete Anwendungsentwicklungsprojekte, die entsprechend den neuen Verfahrensweisen arbeiten muessen.

Einzelne: Alle Mitarbeiter, Projektleiter oder auch Fuehrungskraefte, die im Umfeld der neuen Projekte ihre individuelle Einflussnahme auf den Arbeitsprozess optimieren wollen oder eine sie persoenlich betreffende Problematik aus dem Projektumfeld durch eine gezielte Einzelberatung bearbeiten moechten.

Seminar Projektmanagement und Prozessgestaltung: Gibt einen Einblick in die Gestaltung von Projekt- und Teamarbeit als "Lernprozess". Es wird die Rolle der Teilnehmer als Prozessgestalter reflektiert und entwickelt. Es dient als Vorbereitung dafuer, dass die Teilnehmer zum Beispiel in der Lage sind, ein Kick-off-Meeting fuer den Projektstart zu planen und durchzufuehren.

Seminar Beratungskompetenz fuer M/T-Berater: Das Seminar fungiert zum einen als Kick-off fuer das M/T-Beratungsteam, zum anderen soll hiermit ein Prozess zur Foerderung der Beratungskompetenz der M/T- Berater beginnen. Inhaltlich werden Beratungsgespraeche, Moderation in der Systemmodellierung und das Vermitteln von Methoden- beziehungsweise Werkzeugwissen trainiert.

Seminar Teamentwicklung und Projektarbeit: Das Seminar stellt den Rahmen fuer einen Teamentwicklungsprozess dar. Es werden typische Rollenverhalten der Teammitglieder reflektiert, die Staerken und Schwaechen des Projektteams transparent gemacht und Methoden fuer eine wirksame Kommunikation und Kooperation in der Projektarbeit eingefuehrt.

KVP-Massnahmen und Qualitaetszirkel: In regelmaessigen freiwilligen Treffen fuer unterschiedliche Zielgruppen, begleitet durch eine neutrale Moderation, sind bestimmte Themen, insbesondere Qulitaetsprobleme, Probleme mit Arbeitsverfahren oder der Zusammenarbeit zu diskutieren. Es werden Vereinbarungen fuer eine Verbesserung getroffen und somit ein kontinuierlicher und ganzheitlicher Verbesserungsprozess in die Wege geleitet und aufrechterhalten.

Coaching: Individuelle Entwicklung von Projekt-Management- Verhalten, Beratungsverhalten, Prozessgestaltungskompetenz und Staerkung persoenlicher Ressourcen der Mitarbeiter zum Bewahren der Arbeitsfaehigkeit in einem komplexen und neuen Arbeitsumfeld.

Die Massnahmen sind inzwischen fester Bestandteil einer Projektunterstuetzung, die sich in einer deutlich verbesserten Arbeitszufriedenheit manifestierte. Die formale Aufbauorganisation mit verschiedenen Gremien und Kontrollinstanzen hat sich erheblich vereinfacht und wurde durch eine verstaerkte Selbstorganisation ausgeglichen. Der wirtschaftliche Nutzen ist weniger in Mark und Pfennig auszudruecken als vielmehr durch die Gewissheit, dass die Projekte ohne HRD-Massnahmen nicht erfolgreich durchgefuehrt werden koennten.

* Guenther Thoma ist geschaeftsfuehrender Gesellschafter von Step Prozessmanagement Sutterlueti & Thoma und Lehrbeauftragter in Informatik-Fachbereichen verschiedener Hochschulen.