DV-Training/Kulturpessimisten haben noch allzuoft das Sagen Paedagogische Provinz blockiert den Wachstumsmarkt Multimedia

22.09.1995

Von Peter Glotz*

Wer sich einbildet, kuenftig ohne Multimedia im Aus- und Weiterbildungsumfeld auszukommen, erliegt einer "platten Illusion", meint Medienexperte Peter Glotz*. Er beantwortet die Frage: Wieviel Multimedia braucht die Bildung?

Von Diane Ravitch, einer renommierten Paedagogin der amerikanischen Brookings-Stiftung gibt es eine beruehmte Aeusserung. "Wenn Klein Eva nicht schlafen kann", hat sie gesagt, "kann sie statt dessen Algebra lernen. An ihrem Lerncomputer kann sie sich mit einer Serie von interessanten und kindgemaessen Problemen auseinandersetzen, die in einem interaktiven Medium praesentiert werden, wie bei Videospielen." In Deutschland loesen solche Ueberlegungen in der Regel kulturkritische Wutanfaelle aus. "CD-ROM- Kinder" sind fuer viele deutsche Paedagogen Produkte der Wohlstandsverwahrlosung. Wie Adolf Muschg, der beruehmte Schweizer Schriftsteller, Jean Paul gegen das Internet ausspielt - geschehen vor wenigen Wochen bei den Frankfurter Roemerberg-Gespraechen -, so neigen viele Kulturpolitiker, Lehrer und Paedagogikprofessoren dazu, das Toben im Matsch oder die "Reise nach Jerusalem" gegen den Computer in Stellung zu bringen. Sie verkennen dabei, dass jede Erziehung auf Vielseitigkeit, Filterfaehigkeit, Media-Mix draengen muss (auch tagelanges - durchaus "natuerliches" - Onanieren ist nicht notwendigerweise persoenlichkeitsbildend). Und sie vermehren ihre bildungsoekonomischen Probleme. Es ist eine platte Illusion, sich einzubilden, dass die notwendigen Aus- und Weiterbildungsprozesse der Zukunft ohne "Distant Education" oder "Tele-Teaching" (also Lernprogramme, die eine Kombination von Text, Daten, Bild und Bewegtbild auf der Basis mikroelektronisch gesteuerter Digitalsysteme darstellen) bewaeltigt werden koennten.

Natuerlich bedarf die Benutzung des (die Medien integrierenden) Computers in der Schule - vor allem bei Klein Eva - der klugen Anleitung und Einbettung. Der Algorithmus ist nur eine Art der Weltbewaeltigung; Kinder muessen lernen, dass es verschiedene gibt. Auch sind Multimedia-Lernkurse keine Allheilmittel. Sie koennen Lehrer, Ausbildende, Trainer, persoenliche Kommunikationspartner nie ersetzen; und eignen sich - wie neuere Untersuchungen zeigen - eher fuer die Vermittlung von Faktenwissen als fuer Strukturwissen, eher fuer elaborierende als fuer Problemloesungsaufgaben.

Die Hartleibigkeit der deutschen paedagogischen Provinz aber blockiert nicht nur einen Wachstumsmarkt - die Umsatzerwartungen fuer "Erziehung/Training" liegen fuer 1995 weltweit in der Groessenordnung von fuenf Milliarden US-Dollar, also ueber Branchen wie "Werbung" oder "Design/Simulation": Sie blokkiert vor allem die Koepfe. Wenn Schule und Universitaet in Deutschland sich gegenueber dem "Zusammenwachsen" der Medien Computer, Fernseher und Telefon weiterhin passiv verhalten wie in der Vergangenheit, wird die "Computer and Media Literacy" im Land der Dichter und Denker bedenklich zurueckbleiben. Die Folgen waeren explosiv: vermehrte Arbeitslosigkeit, kulturelle Kolonisierung, die Abkopplung unnoetig grosser kommunikativer Unterschichten in gewaltbestimmte Traum- und Spielwelten usf.

In der Weiterbildung wird Multimedia laengst ueppig genutzt. Die gelbe Post hat - um ein einziges Beispiel zu nennen - 10000 PC- Selbstlernplaetze, an denen 40 000 Schalterkraefte geschult werden. Die Wirtschaft kann gar nicht anders. Zwischen 1970 und 1990 sind die Bildungskosten von vierzig auf 155 Milliarden Mark gestiegen. Davon traegt die Wirtschaft 50 Milliarden Mark. Ganz abgesehen von lernpsychologischen und berufspaedagogischen Ueberlegungen muessen die Unternehmen - schon aus Kostengruenden - auf mediale Loesungen setzen. Sie waeren sonst ausserstande, ihre Leute weiterzuqualifizieren.

Aber ist der Staat in einer prinzipiell anderen Lage? Man betrachte die Universitaet. Taeglich fuellen sich Parkplaetze mit Tausenden von Autos, die Menschen zu Informationen bringen sollen, die zum grossen Teil nicht aus innovativen Inhalten bestehen, Basisinformationen zum Beispiel, standardisiertes Wissen. Frontalunterricht vor einem ueberfuellten Auditorium in einem Klima der Enge, des Leistungsdrucks, des Geldmangels praegt die Wissensvermittlung. Waere da die "virtuelle Universitaet" nicht eine bessere (Teil-)Loesung? Die Ausruestung eines Lernarbeitsplatzes (mit PC, CD-ROM-Laufwerk, MPEG 1, Decoder-Karte und Aktivboxen) wuerde nicht viel mehr als 3000 Mark kosten.

Auf 50 Schueler kommt ein Rechner

Der entscheidende Durchbruch muss allerdings in der Schule erfolgen. In Europa kommt im Schnitt auf 50 Schueler ein Rechner; in amerikanischen Grundschulen ist das Verhaeltnis zehn zu eins. In Deutschland ist der Computer noch allzuoft in ein Spezialfach ("Informatik") eingesperrt; seine vielfaeltige Nutzbarkeit (von der Mathematik ueber die Geographie bis zum Kunstunterricht) wird verkannt. So entsteht die Computer Literacy der Kids an Spielekonsolen statt in der Schule. 16 Millionen davon stehen in deutschen Haushalten schon herum. Das heisst das Pferd vom Schwanz aufzuzaeumen. Ein wichtiges Element der "Alphabetisierung" der Menschen muss neben der oeffentlichen Schule, im halb und halb verachteten Bezirk des Vergnuegens, erworben werden. Das ist unsinnig.

Wieviel Multimedia braucht also die Bildung? Die Antwort lautet: Viel interessanter und wichtiger als viel beredete Anwendungen wie "Near video on demand" oder "Video on demand" waere Lernen mit Multimedia. Schon vor sieben Jahren ueberschrieb das Office of Technology Assessment, die Technologie-Agentur des amerikanischen Kongresses, einen Bericht ueber dieses Arbeitsfeld mit den Worten "Power on". In Deutschland steht der Umstellung der Signale auf "Power" noch allzuoft der Kulturpessimismus und die Unbeweglichkeit der Verantwortlichen im Wege. Wo ist der deutsche Al Gore?

* Dr. Peter Glotz ist SPD-Bundestagsabgeordneter und Medienprofessor in Muenchen.