DV-Geschichte/DV bei der Bundesanstalt fuer Arbeit Ein Pionier in Sachen offene Systeme und Client-Server-DV

20.10.1995

Seit Anfang der 50er Jahre setzen die Bundesanstalt fuer Arbeit (BA) beziehungsweise einzelne Arbeitsaemter DV ein. Mitte der 70er Jahre beschleunigte sich die IT-technische Modernisierung unter dem Druck wachsender Aufgaben betraechtlich, eine Entwicklung, die bis heute anhaelt. Nicole Winkler* gibt einen geschichtlichen Ueberblick.

"Mitte der 70er Jahre ging es bei der Bundesanstalt fuer Arbeit mit der DV so richtig los", erinnert sich Arthur Decker, seit 1991 Leiter Informationsverarbeitung (IV) bei der Nuernberger Behoerde. Ziel war es damals, die dezentrale Datenverarbeitung in den Arbeitsaemtern durch den Einsatz von "intelligenten Bildschirmgeraeten und Datenfernuebertragung" so zu verbessern, dass sich Leistungen wie Arbeitslosen- und Kindergeld ohne Zeitverlust durch Post oder Bahn verwalten und ausbezahlen liessen.

Die ersten Anfaenge der DV fielen bei der BA freilich in die 50er Jahre, als nach einer Loesung gesucht wurde, die die Arbeitsablaeufe rationalisieren half. Eines der Projekte lief im Bereich des Landesarbeitsamtes Schleswig-Holstein. Hier wurde versucht, fuer die Abrechnung der Zahlungen an Arbeitslose ein Hollerith- Verfahren zu entwickeln. Das Arbeitsamt Luebeck richtete zu diesem Zweck eine Lochkartenstelle ein, die jedoch bereits 1953 wieder aufgeloest wurde.

Doch einige Jahre spaeter fuehrte ein erneuter Versuch zum Erfolg. Ende 1958 kam es mit zwei Herstellern, IBM und Bull-Exacta, zu ersten praktischen Versuchen in den Arbeitsaemtern Nuernberg (IBM) und Frankfurt (Bull-Lochkartenmaschinen). Im Rahmen des Versuchs mit Bull-Maschinen erledigte die Rechenvorgaenge ein Elektronenmultiplizierer, der mit einer Tabelliermaschine verbunden war. Dieses Rechengeraet war das Produkt einer damals kaum bekannten kleinen Firma mit dem Namen "Labor fuer Impulstechnik". Inhaber war Heinz Nixdorf. Die Firma hatte ihren Sitz in Essen, 1959 verlegte sie ihn nach Paderborn.

Nach Auswertung der Erkenntnisse und Modifizierung des Verfahrens konnten drei Arbeitsaemter die Zahlungen mit Hilfe von Lochkarten anstelle des bis dahin verwendeten Zahlbogens vorbereiten und abrechnen. Ein Jahr spaeter schon hatte sich das Verfahren auf die meisten Arbeitsaemter in Nordbayern ausgedehnt und die manuelle Ermittlung des Einheitslohnes ergaenzt. So wurde ab 1959 die Informationsverarbeitung (IV) zum unentbehrlichen Hilfsmittel in der Bundesanstalt.

Datenfernuebertragung per Bundesbahn

Problematisch war allerdings, dass die Lochkarten per Bahn am Vorabend des Zahltages an das jeweilige Arbeitsamt und am folgenden Tag nach erfolgter Auszahlung sowie etwaigen handschriftlichen Aenderungen der einzelnen Karten von dort wieder an die Lochkartenstelle in Nuernberg zurueckzusenden waren. Eine guenstige Zugverbindung war also Voraussetzung fuer termingerechte Abwicklung. Erst die Einfuehrung der unbaren Zahlung im Jahr 1968 verhalf zu mehr Unabhaengigkeit. Sie brachte fuer die Arbeitslosen eine erhebliche Erleichterung: Das Schlangestehen beim Arbeitsamt entfiel.

Die Lochkartenstelle bekam laufend weitere Aufgaben uebertragen: 1960 die Aufbereitung der Berufsberatungsstatistik, 1961 das Erstellen von Zins- und Tilgungsplaenen, 1962 die Statistik der offenen Stellen sowie 1964 die Abwicklung der Zahlung von Berufsausbildungsbeihilfen.

Viele Freiheiten fuer die DV-Pioniere

Das Entwicklerteam genoss viel gestalterische Freiheit, und Faszination fuer die neuen technischen Moeglichkeiten war den DV- Pionieren gemein. Doch unumstritten war die Abteilung innerhalb der Bundesanstalt nicht. So murrten Kritiker, dass es wohl wenig sinnvoll sei, in Zeiten starker Arbeitslosigkeit vorhandene und verfuegbare menschliche Arbeitskraft durch Maschinen zu ersetzen.

"Diese Grundfrage hat bis weit in die 60er Jahre hinein alle Mechanisierungsvorhaben der BA begleitet und beeinflusst", weiss Decker, der 1975 zu der Nuernberger Behoerde kam, aus Gespraechen mit Kollegen. Erst dann war klar, dass - unabhaengig von der Arbeitsmarktlage - die auf dem Markt angebotenen technischen Moeglichkeiten im Interesse der BA und ihrer Kunden in wirtschaftlich vertretbarem Umfang konsequent zu nutzen waren.

Als 1961 die Zahlung von Kindergeld fuer das zweite Kind eingefuehrt wurde, bekam die BA eine weitere Aufgabe. Das neue "Rechenzentrum der Kindergeldkasse" entstand mit arbeits- und kostensparenden Bueromaschinen. Als der Gesetzgeber der BA 1964 auch die Zahlung von Kindergeld fuer dritte und weitere Kinder uebertrug, reichten die Lochkartenmaschinen nicht mehr aus. Zwei IBM-1401-Computer wurden angeschafft, die Programme von BA-Mitarbeitern entwickelt.

1970 wurde das Zentralamt der BA in Nuernberg gegruendet und das Rechenzentrum als Abteilung Datenverarbeitung dieser neuen Dienststelle eingegliedert. Gleichzeitig wechselte die BA vom Hersteller IBM zu Siemens.

Bis weit in die 70er Jahre wurden Computer bei der BA ausschliesslich zentral genutzt. Nur so waren die teuren Systeme wirtschaftlich sinnvoll einzusetzen, zumal in der Behoerde die Abwicklung von Massen- und Routinearbeiten im Vordergrund stand. Problematisch war allein die Erfassung der in den einzelnen Dienststellen anfallenden Daten.

Vor allem die in den Arbeitsaemtern anfallenden alphabetischen Daten, und hier besonders der Adressen, machten Schwierigkeiten. Sie mussten zentral und manuell gelocht werden. Maschinelle Belegleser schafften 1974 endlich Abhilfe.

"Ohne diese moderne Erfassungsart waere die Uebernahme der Kindergeldzahlungen ab 1975 mit einer Verdreifachung der Anspruchsberechtigten kaum moeglich gewesen", erlaeutert IV-Chef Decker. In dieser Zeit wurde es zum Ziel, die dezentrale Datenverarbeitung durch den Einsatz von intelligenten Bildschirmgeraeten zu optimieren und fuer jeden Sachbearbeiter zugaenglich zu machen.

1978 war es soweit: Erstmals installierte man 8850-Rechner von Nixdorf, zuverlaessige und robuste Systeme, die sich bewaehrten. Von jetzt an bekam die Datenerfassung quasi Fluegel: Fehler liessen sich vor Ort erkennen und auf dem Bildschirm sofort korrigieren.

Waehrend frueher im Belegleseverfahren die Fehlerrate bei annaehernd fuenf Prozent gelegen hatte, sank sie durch Bildschirmerfassung mit maschineller Fehlerpruefung auf etwa ein Prozent. Alle dezentral erfassten Daten wurden seit dieser Zeit jeweils nachts rechnergesteuert und vollautomatisch bei den Dienststellen abgerufen sowie per DFUE an die Zentrale uebertragen.

Ein Heimspiel fuer Nixdorf und Siemens

1980 hatte die IT in der BA eine neue Qualitaet erreicht: Erstmals liess sich am Arbeitsplatz Computerleistung in Anspruch nehmen. Mit dem Essen kam der Appetit. So wurden die Moeglichkeiten des Datenerfassungssystems auch fuer die Abwicklung von Fachaufgaben geprueft.

Doch die Leistungsfaehigkeit des Nixdorf-Systems setzte einer umfangreicheren Nutzung Grenzen. Als Nachfolgesystem befanden die DV-Experten Targon/32-Rechner von Nixdorf unter Unix fuer gut. Sie loesten nach und nach die 8850-Modelle ab. "Allerdings ist auch dieses System fuer grosse Arbeitsaemter nicht leistungsfaehig genug", schraenkt Decker ein.

Infolgedessen setzte das Arbeitsamt Frankfurt ab 1984 nach entsprechender Erprobung BS2000-Systeme von Siemens ein. Auf die Anwender hatte die unterschiedliche Hardware - Targon beziehungsweise BS2000 - nur minimalen Einfluss, denn die Benutzeroberflaechen beider Systeme waren nahezu identisch. 1986 waren fast 10 000 Bildschirme in Arbeitsaemtern installiert.

Schon etwas frueher, 1982, begannen in der DV der BA Planungen fuer eine dezentrale, integrierte und die zentralen Verfahren nutzende Computerunterstuetzung der drei Fachbereiche Arbeitsvermittlung, Berufsberatung und Leistungsgewaehrung. Die Entwicklungslinie "Cosima" (Computersysteme im Arbeitsamt) sollten die noch nebeneinander laufenden Verfahren "Computerunterstuetzte Arbeitsvermittlung" (CoArb), das "Computerunterstuetzte Ausbildungsvermittlungssystem" (Compas) und die "Computerunterstuetzte Leistungsgewaehrung" (CoLei) zusammenfuehren.

Ziel war, die dezentralen Anwendungen auf der Basis leistungsfaehiger Hardware voranzutreiben und jeden Arbeitsplatz mit Computerleistung zu unterstuetzen. "Nur so konnten wir unsere Serviceleistung weiter ausbauen", betont IV-Leiter Decker. Buergernaehe und Buergerfreundlichkeit waren ein wesentlicher Aspekt der Zielsetzung.

Fachlich und regional war CoArb am weitesten gediehen. Erstmals liessen sich ohne den bis dahin hohen Verwaltungsaufwand Grenzen der Berufsbereiche und Regionen ueberspringen. Jeder Arbeitsvermittler konnte auf die Daten zu jeder Stelle und jedem Bewerber zugreifen.

Am 1. Oktober 1988 waren bereits 19 710 Bildschirme in den Arbeitsaemtern installiert. "In dieser Zeit herrschte bei der Steigerung der Arbeitslosenzahlen, der Vermittlungszahlen und auch bei der Zunahme der Computernutzer in den Arbeitsaemtern ein Wahnsinnstempo", erinnert sich Decker. "Jedes Jahr konnten wir im RZ-Bereich mit einer Kapazitaetsverdoppelung rechnen."

Mitte 1989 erhielt das Zentralamt ein neu erbautes, allen Sicherheitsanforderungen entsprechendes Rechenzentrum. Betriebssicherheit und Verfuegbarkeit waren keine Probleme mehr. Zur Diskussion stand jetzt vielmehr die "Zwei-Hersteller-Politik", denn bei grossen Arbeitsaemtern liefen aufgrund hoeherer Leistungsanforderungen der DV-Anwendungen BS2000-Systeme, bei den kleinen und mittleren Targon-Unix-Rechner.

Seit Ende der 80er Jahre Unix plus Client-Server

Diese Situation hatte einen gravierenden Nachteil: Alle Anwendersoftware war doppelt zu entwickeln. Der Ausweg sollte eine einheitliche Umstellung auf Unix sein. Diesbezueglich betrachten sich die Datenverarbeiter der Nuernberger Behoerde als Vorreiter. Doch als solche fanden sie sich mit dem Problem konfrontiert, dass Unix damals bei weitem kein so einheitliches Betriebssystem war, wie es propagiert wurde. Denn alle Anbieter hatten es mit spezifischen Erweiterungen versehen. Internationale Standards gab es nur in Teilbereichen.

1989 eilten die DV-Profis in Nuernberg in einem weiteren Punkt ihrer Zeit voraus. Sie planten, auf der Basis von Unix das bisherige DV-Konzept durch eine Client-Server-Architektur abzuloesen.

Wesentliche Kennzeichen des neuen Modells sind sehr leistungsfaehige multifunktionale Arbeitsplatzsysteme (Clients) und Hintergrundsysteme, die als Server fungieren. Das neue Konzept sollte es ermoeglichen, im Laufe der naechsten Jahre die Hardwarekonfiguration in den dezentralen Rechenzentren zu aendern, alle installierten Terminals auszutauschen und die Anwendersoftware neu anzupassen.

Doch es kam erst einmal anders: 1989/90 hatte sich die Welt fuer die BA wesentlich veraendert. Vor allem zwei Ereignisse waren die Ursache: die Wiedervereinigung und der Zusammenschluss von Siemens und Nixdorf zur SNI. Beide Vorgaenge erforderten alle Kraft der BA- Datenverarbeiter. Waehrend einerseits ein schneller Aufbau der DV- Strukturen in den ostdeutschen Arbeitsaemtern notwendig war, galt es auf der anderen Seite, mit dem Wegfall bestimmter Produkte, unterschiedlichen Liefervertraegen und neuen Ansprechpartnern zurechtzukommen.

"Dies war ein Kraftakt ohnegleichen", erinnert sich Decker. Wie dramatisch die Entwicklungen im Osten waren, erlaeutert der DV- Leiter anhand der Arbeitslosenzahlen in den neuen Bundeslaendern: 1990 betrug der Stand 100000, keine sechs Monate spaeter war die Zahl bereits auf eine Million Arbeitslose und 1,2 Millionen Kurzarbeiter hochgeschnellt. "Diese Menschen erwarteten zu Recht eine ebenso unkomplizierte und korrekte Abwicklung ihrer Belange, wie es im Westen gang und gaebe war." Ausserdem war das Kindergeldzahlungssystem fuer 1,9 Millionen Empfaenger einzufuehren.

Es ging schnell: Bis Ende 1991 gab es in den neuen Bundeslaendern bereits 38 neue Arbeitsaemter mit 161 Nebenstellen, die eine flaechendeckende Betreuung sicherstellten. Die Ziele Infrastrukturaufbau (Telefon, Computeranschluss), puenktliche und korrekte Zahlungen sowie eine funktionierende Arbeitsvermittlung waren nach kuerzester Zeit erreicht. "In dieser Zeit war klar, dass wir keine Luft mehr zum

Experimentieren hatten", so Decker. "Wir griffen auf Bewaehrtes und tausendfach Erprobtes zurueck - die Zeit war unser einziger Gegner."

Alle Arbeitsaemter mit Nuernberg verbunden

Nur sieben Monate nach der Wiedervereinigung verfuegten bereits alle Arbeitsaemter ueber ausreichende Datenerfassungskapazitaet. 66 Systeme waren installiert und 900 Erfassungskraefte eingestellt. Nach zwoelf Monaten waren fast alle Arbeitsaemter auch mit Nuernberg verbunden. "Dies bedeutete praktisch Vollausstattung mit dem gleichen Funktionsangebot wie im Westen." Anfang 1992 standen in den ostdeutschen Arbeitsaemtern 5000 Bildschirme. Die BA war die erste oeffentliche Verwaltung, die in den neuen Bundeslaendern volle Funktionsfaehigkeit erreichte.

Jetzt endlich kamen die Nuernberger wieder dazu, sich um die Abloesung der Targon/32 sowie der BS2000-Anlagen zu kuemmern. Geplant ist nun, im dritten Quartal 1995 eine einheitliche Systemarchitektur auf der Basis von SNI-Unix-Maschinen (RM 600) zu errichten. Weiter wollen BA-DV-Experten die Daten der Berufsberatung, von Geldleistungen und Verwaltung - heute noch in getrennten Datenbanken gehalten - zusammenfuehren und harmonisieren.

Mit dezentraler DV naeher an die Buerger

Ziel ist ein ganzheitliches Konzept, das eine staerkere Kundenorientierung erlaubt. "Grosse Aemter hatten schon immer eine abschreckende Wirkung auf die Menschen", begruendet IV-Chef Decker die beabsichtigten Aenderungen. "Aus diesem Grund moechten wir gerne verstaerkt dezentralisieren und mit Stadtteilarbeitsaemtern naeher an den Buerger ruecken". Ein erstes Stadtteilarbeitsamt entsteht in Hamburg. Weitere werden folgen.

Weiter ist geplant, Dienstleistungen wie etwa die Arbeitsvermittlung direkt bei Industrie und Handel anzubieten. Hier koennte etwa ein Vermittler mit seinem Handheld vor Ort die Daten aus der Zentrale abrufen und flexibel beraten.

Vor allem aber soll das Neudesign der Anwendungen nach dem Client- Server-Modell anlaufen. "Hier koennen wir an unsere Experimente Ende der 80er Jahre anknuepfen", freut sich Decker. Die Umsetzung dieses Konzepts firmiert unter dem Titel "Arbeitsamt 2000".

Informationsverarbeitung in den Arbeitsaemtern

1959: Lochkartenstelle zur Auszahlung von Arbeitslosengeld im Landesarbeitsamt Nordbayern

1961: Rechenzentrum der Kindergeldkasse

1967: Eingliederung der Lochkartenstelle in das RZ

1970: Gruendung des Zentralamtes der BA in Nuernberg mit RZ

1972: Nutzung der Datenfernuebertragung bei der computerunterstuetzten Arbeitsvermittlung

1974: Errichtung von Datenstellen in den Arbeitsaemtern, Datenerfassung mit Hilfe der OCR-Beleglesung

1978: Bildschirmgestuetzte dezentrale Datenerfassung

1980: Bildschirmunterstuetzung am Arbeitsplatz durch Buerocomputer

1984: Erstinstallation eines Universalrechners fuer integrierte Dialoganwendungen im Arbeitsamt Frankfurt

1986: Aufbau einer DV-Organisation in allen Arbeitsaemtern der BRD

1990: Aufbau der DV-Infrastruktur in den neuen Bundeslaendern

1992: Harmonisierung der Systemlandschaft in allen Arbeitsamts- Rechenzentren auf Unix-Basis

* Nicole Winkler ist freie Journalistin in Muenchen.