IT in der Medienbranche/Online-Journalismus in der Orientierungsphase

Drahtseilakt zwischen Glaubwürdigkeit und Anbiederung an den Kommerz

13.10.2000
Im Internet schießen Online-Publikationen wie Pilze aus dem Boden. Ungeachtet der Frage, ob sich die zugrunde liegenden Business-Modelle überhaupt rechnen, haben die Initiativen im Netz einen weit reichenden Effekt: Sie rütteln heftig am journalistischen Berufsverständnis. Welche Potenziale das Internet für die neuen Medien eröffnet und wie sich dies auf die Arbeit von Online-Journalisten niederschlägt, hat Winfried Gertz* untersucht.

Eine der berufsethischen Säulen der schreibenden und funkenden Zunft ist die strikte Trennung von Werbung und Journalismus. Mit Argusaugen wachen "Gatekeeper" darüber, dass weder Anzeigenverkäufer noch andere "geheime Verführer", die ihre umsatz- und imagestiftenden Botschaften "platzieren" wollen, sich einen Weg durchs Nadelöhr bahnen. Doch das bislang gut funktionierende Wächtermodell hat ein Problem: Im Internet, dem tonangebenden Massenmedium des erblühenden dritten Jahrtausends, drohen nicht nur Inhalte, sondern auch die klaren Abgrenzungen zur Reklame zu verschwimmen.

"Verzweiflungstaten" erwartet Christoph Neuberger, Medienwissenschaftler der Universität Eichstätt, wenn mit "sauberen" Methoden arbeitenden Internet-Redaktionen plötzlich der Geldhahn zugedreht wird. Nach der Devise "Was kümmert uns das Geschwätz von gestern?" könnten journalistische Überzeugungen unvermittelt in absatzorientierten Opportunismus abdriften. Die Zauberworte des neuen Business-Modells von Online-Publikationen lauten denn auch "Syndikat" und "Provision".

Wenn Magazine am Verkauf der neuesten Modern-Talking-CD mitverdienen, wenn Surfer nur einen Klick benötigen, um vom Webzine in den virtuellen Supermarkt zu wechseln, hat das nur noch wenig mit Journalismus zu schaffen. Neuberger: "Der Verdacht liegt nahe, dass die redaktionelle Autonomie im Internet gegenüber kommerziellen Interessen stark gefährdet ist." Im E-Commerce locken neue Einnahmequellen: Was Verlage und Sender bisher an Anzeigen und Spots verdienen, hängt nur von ihrer Werbeleistung ab. Durch Provisionen aber haben sie plötzlich ein Interesse daran, dass der Partner guten Umsatz macht und sie mitverdienen. Wessen Leser im E-Commerce eifrig zulangen, der erwirtschaftet die größten Einnahmen. Tomorrow Internet kassiert bei Luxusgütern bereits Provisionen von über 30 Prozent. Alles in den Schatten stellen Verträge mit so genannter Life-Time-Value: Hat der Online-Verleger dem Händler einen neuen Kunden zugeschanzt, kassiert er für alles, was der in seinem Leben dort kauft, mit ab.

Unter solchen Vorzeichen müssen sich Journalisten nicht nur fragen, wie es um ihre Überzeugungen bestellt ist, sie müssen sich auch neu orientieren. Fakt ist: Das Internet greift tief in ihren Berufsstand ein. Schon sind vielerorts Wanderbewegungen zwischen Print- und Online-Titeln zu beobachten, und möglicherweise lässt der viel zitierte Kannibalisierungseffekt nicht mehr lange auf sich warten.

Prinzipien wie Sorgfaltspflicht oder Unabhängigkeit wirken wie aus einer anderen Welt, wenn pseudojournalistische Laien auf ihrer Website unbehelligt Informationen über Amokläufe bis zu maltesischer Politik ins Netz schaufeln oder sich Hinz und Kunz in Communities wie "Shortnews.de" (Slogan: "die Nachrichtenagentur der Zukunft"), "Dooyou.com" oder "Ciao.com" zu Wort melden.

Andererseits entzünden sich Diskussionen über journalistische Normen immer wieder an spektakulären Ereignissen. Wer würde heute in Frage stellen, dass beispielsweise die Clinton-Lewinsky-Affäre ihre eigentliche Zugkraft gerade durchs Internet entfaltet hat?

Bisher hatte der Journalismus ein weit reichendes Monopol. Als Gatekeeper kontrollierten Redaktionen den Zugang zur Öffentlichkeit. "Im Internet hingegen", erläutert Neuberger, "emanzipieren sich die Rezipienten, schlüpfen in neue Rollen und treten sogar selbst als Kommunikatoren auf." Auf der Internet-Plattform Shortnews posten Zigtausend "Web Reporter" knapp gefasste Neuigkeiten. Welche Themen gerade populär sind, darüber entscheidet nicht ein Einzelner, sondern die gesamte Community. Statt "Gängelung und Nachrichtenauswahl durch redaktionelle Schleusenwärter", so der O-Ton, gelte das Prinzip "viele für viele".

Vielfalt entdeckt man vor allem in den Grauzonen. Immer mehr Unternehmen locken mit "journalistischen Inhalten" auf ihre Sites. Direktbanken wie Consors oder Comdirect bieten Wirtschaftsnachrichten, Analystenmeinungen und Börsenkurse. Public-Private-Partnerships wie die "Wuppertaler Lokalseiten", ein Verbund aus 60 Vereinen, Parteien, Kirchen und weiteren Institutionen, verbreiten unbearbeitete PR-Mitteilungen. Auch das Informationsangebot von "Berlin.de", ein von Primus-Online und dem Berliner Senat gemeinsam betriebener Online-Dienst, hält kaum journalistischen Ansprüchen stand.

Wie Neuberger am 17. September auf den "Fränkischen Pressetagen" in Nürnberg ausführte, verstoße auch der Online-Buchhändler "Amazon.de" gegen journalistische Normen. Thema: Leser empfehlen Bücher im Internet. Demnach weigere sich die "Redaktion" von Amazon.de, ein Buch vorzustellen, das die Leser nicht weiterempfehlen würden. Darüber hinaus fragt Neuberger, wie es zu bewerten sei, wenn "Spiegel online" exklusiv für den Buchhändler "libri.de" ein Literaturmagazin betreibe? Wenn die Zeitschrift "Eltern" und ein Spielehändler ein gemeinsames "Beratungscenter" (www.mytoys.de) unterhielten, das im Design der Zeitschrift gestaltet ist? "Internet oder Kaufhaus?", nennt Neuberger weitere Beispiele, etwa wenn "Petra" mit einem "Trendshop" oder "Tomorrow" mit einem "Media Shop" dem Verbraucher ins Portemonnaie langen.

Kaum noch zu überblickende Informationsangebote hier, Mangel an Transparenz in Sachen journalistische Standards dort. Grund genug für den Eichstätter Lehrstuhl für Journalistik, in 187 Internet-Redaktionen aus Presse und Rundfunk einmal nach dem tatsächlichen Einsatz von Online-Journalisten nachzufragen. Soviel vorweg: Allein in den Online-Redaktionen von Tageszeitungen ist demzufolge bereits jeder Fünfte mit der inhaltlichen Gestaltung von Werbung, Anzeigen oder E-Commerce befasst. Genauso viele bastelten in Publikumszeitschriften Web-Seiten nach Kundenwunsch. Wer es nicht glauben mag: Mehr als die Hälfte der befragten Redaktionsleiter hält es für wichtig, dass Bewerber ein offenes Ohr für die Wünsche von Werbekunden und Verkaufspartner mitbringen.

Kein Wunder, schließlich gaben nur sehr wenige Befragte an, mit ihrem Online-Angebot bereits die Kosten zu decken. Zugeständnisse an Provider-Kunden und E-Commerce-Partner scheinen also das Gebot der Stunde. Verständlich, dass ein Drittel der Tageszeitungen und die Hälfte der Rundfunkanbieter Einnahmen aus dem Online-Handel erzielen. Neben der Bereitschaft, sich auch für werbetreibende Kunden nützlich zu machen, hat eine weitere Internet-Größe Einfluss auf die Anpassung der journalistischen Aufgaben: der unmittelbare Kontakt zum Leser. Die Befragten stimmen nahezu völlig überein, dass von Lesern an die Redaktion gerichtete E-Mails unmittelbar zu beantworten sind. Ebenfalls nicht umstritten ist die Ausweitung der Sorgfaltspflicht auf Chats, Foren, Archive sowie externe Links. Cookies sollten indes nur dann Verwendung finden, sofern der Surfer ausdrücklich sein Placet erteilt.

Geburt eines neuen Journalismus?Noch lässt die Geburt eines völlig neuen Journalismus im Internet auf sich warten. Doch zeichnet sich laut Neuberger durchaus ab, dass Video, Audio und Hypertext neue Erzählstrukturen ermöglichen und durch Interaktivität auch eine größere Publikumsnähe erzielt werden könne. Das Potenzial sei beachtlich: Glaubwürdigkeit, eine qualitative Voraussetzung für die Leserbindung, würde im Internet durch Linkstrukturen und genaue Quellenangabe geradezu forciert. Die positive Wirkung auf den Leser, der sich in die "Geschichte hinter der Geschichte", also in den Rechercheweg, einklicken kann, um tiefer in ein Thema einzusteigen, sei sicherlich genauso unbestritten wie die Chance zu unmittelbarem Feedback etwa im Rahmen eines Diskussionsforums. Andererseits, hat Neuberger beobachtet, lassen Online-Publikationen vielfach die gebotene Transparenz vermissen. Hier fehle ein Impressum mit den Namen der Verantwortlichen, dort sei ein Werbebanner nicht als solches gekennzeichnet. Und wenn dann noch ein Verbrauchertipp gleich neben dem bunt flatternden "Kauf mich!" postiert werde, habe man viel Glaubwürdigkeit verspielt.*Winfried Gertz ist freier Journalist in München.