Europa auf dem Weg zu einer Silicon AG?

Dr. Werner Knetsch Mitglied der Geschäftsleitung von Arthur D. Little International, Wiesbaden, und Leiter des Beratungsbereichs Informationstechnische Industrie

04.08.1989

Wieder einmal hat die IBM allen publikumswirksam die Show gestohlen: Big Blue hat als erster die Massenproduktion des 4-Megabit-Speicherchips aufgenommen.

Diese Ankündigung hat doch ziemlich überrascht. Als Captive-Halbleiterhersteller, der vorrangig den eigenen Bedarf deckt, taucht IBM in der Hitliste der weltweit größten Mikroelektronik-Hersteller in der Regel gar nicht auf. Vielleicht wurde deswegen allgemein erwartet, daß es zum wiederholten Male die Japaner sein würden, die die Serienproduktion der nächsten Speicherchip-Generation bekannt geben würden. Nun darf jedoch nicht der Eindruck entstehen, als wenn die Söhne Nippons abgehängt wären.

Ganz im Gegenteil: Nach wie vor kontrollieren die japanischen Chip-Produzenten etwa 90 Prozent des DRAM-Chip-Weltmarktes und auch die großen japanischen Halbleiterhersteller werden noch dieses Jahr die Produktion des 4-Megabit-DRAM-Chips aufnehmen. Und es sollte uns nicht überraschen, wenn sie die Produktion mit einer Großserienkapazität aufnehmen, die den zeitlichen Vorsprung der IBM schnell vergessen läßt.

Dennoch, der europäische Marktbeobachter gewinnt in letzter Zeit zunehmend den Eindruck, daß sich in den USA Schritte vollziehen, die durchaus geeignet erscheinen, das globale Wettbewerbsszenario in der Mikroelektronik nachhaltig zu beeinflussen. Nach der Gründung von Sematech durch die maßgeblichen Halbleiterhersteller der USA wurde kürzlich die Gründung der "US Memories Inc." zur Herstellung des 4-Megabit-Chips bekannt gegeben. Schon bei Sematech war IBM die treibende Kraft. Auf der Grundlage einer Lizenz von IBM soll nunmehr das DRAM-Joint-venture mit LSI Logic, National Semiconductor, AMD, Intel, DEC und HP dafür sorgen, daß die amerikanische Industrie ihre Abhängigkeit von den japanischen Chip-Lieferanten abbauen kann.

Die Gründung von "US Memories Inc." wurde begleitet von einer intensiven Diskussion um kartellrechtliche Bedenken. Der europäische Betrachter dieser Entwicklungen soll bitte nicht glauben, daß die Entscheidung, diese hintenan zu stellen, den Amerikanern allzu leicht gefallen ist. Die USA fühlen sich nach wie vor als das Land, in dem freies Unternehmertum seine Kräfte in einem möglichst ungeregelten Wettbewerb zu entwickeln hat. Die treibende Kraft der IBM, der nationale Konsens, Gründe der nationalen Sicherheit vor das Kartellrecht zu stellen sowie die Anerkennung der Spielregeln eines globalen Wettbewerbs, ermöglichen offenbar in den USA derartige Entwicklungen.

Wie steht es mit Europa? Wer ist in Europa die treibende Kraft? Wo ist der Konsens über die wirtschaftliche Bedrohung, die in der Abhängigkeit der europäischen Wirtschaft von den Chip-Lieferungen aus USA und Fernost liegt? Wie laufen unsere Wettbewerbsstrategien für das weltweite Rennen um zukünftige Marktpositionen in der Mikroelektronik?

Alle europäischen Hoffnungen liegen auf Jessi ("Joint European Submicron Initiativ"), dem Acht-Milliarden-Mark-Eureka-Projekt. Ziel von Jessi ist es, der europäischen Industrie angesichts der Vormachtstellung der japanischen Halbleiterindustrie und des harten Wettbewerbs mit amerikanischen Herstellern bis Mitte der neunziger Jahre das erforderliche Know-how und die notwendige Fertigungstechnik für die nächste Speicherchip-Generation, den 64-Megabit-DRAM zur Verfügung zu stellen. Jessi muß als letzte Chance der Europäer gesehen werden, in den globalen Wettlauf um die nächste Chip-Generation überhaupt einzusteigen.

Europa kämpft um die Erhaltung wichtiger Industriezweige und um seine Optionen auf die Wachstumsfelder der Zukunft mit wirtschaftlich mächtigen Wettbewerbern aus den USA und Japan. Dabei geht es um so vielversprechende Märkte wie das hochauflösende Fernsehen (HDTV), ein Markt, der bis zum Jahr 1993 weltweit ein Volumen von 20 Milliarden Dollar überschreiten wird und bis 1995 auf 50 Milliarden Dollar wachsen kann. Es geht um das paneuropäische digitale Mobilfunknetz, das nach unseren Erwartungen gegen Ende der neunziger Jahre in Europa einen Massenmarkt von über 10 Millionen Teilnehmern geschaffen haben wird. Weltweit kann bis zum Jahr 2010 allein bei geschäftlichen Anwendern ein Marktpotential von bis zu 75 Millionen Teilnehmern erschlossen werden. Nicht zuletzt geht es um den Wachstumsmarkt ISDN und das Endgerätegeschäft.

Die Position Europas in der Auseinandersetzung um die Zukunftsmärkte ist jedoch nach wie vor geschwächt durch ungenügende Koordination des Gegenangriffs, dessen Wirksamkeit darüber hinaus eingeschränkt ist durch nationale Märkte, durch eine diffuse Infrastruktur und divergierende Interessen bei den wichtigsten Beteiligten. Wenn sich die Beteiligten an Jessi schon über so vergleichsweise einfache Dinge wie Standortentscheidungen über Wochen und Monate nicht einigen können, so muß die Frage gestattet sein, ob hier die richtigen Perspektiven und Standpunkte eingenommen werden.

Es wird Zeit daß der Erkenntnis über die Bedrohung, die in der Abhängigkeit der eigenen Industrie von nicht-europäischen Halbleiterherstellern liegt, Taten folgen. Die Amerikaner sind da offenbar weiter. Robert Noyce, Präsident von Sematech, spricht davon, daß dem rasanten Vormarsch der Japaner auf dem Terrain der elektronischen Bauelemente mit einer abgestimmten Aktion entgegengetreten werden müsse, wenn verhindert werden wolle, daß die USA morgen vor dem Scherbenhaufen ihrer Industrie stehen.

Was für die USA gilt, ist für Europa um so wichtiger. Die europäische Halbleiterindustrie ist - verglichen mit der japanischen und amerikanischen - gerade aufgewacht. Das reicht jedoch nicht. Gefordert ist nunmehr schnelles Aufstehen und konsequentes Handeln, denn bei allen Bemühen und Verbündete wird Jessi einen nicht gewinnen: die Zeit .

Wenn die EG-Komission mittlerweile ihre Bereitschaft zum Ausdruck gebracht hat, Jessi mit finanziellen Mitteln zu unterstützen, so wurde dies höchste Zeit. Auch die Kommission mußte bei genaueren Hinsehen der Tatsache Rechnung tragen, daß eine Teilnahme der europäischen Hersteller am globalen Wettlauf um die nächsten Chip-Generationen ohne eine Förderung der EG für die europäischen Halbleiterhersteller von vornherein ohne Chance wäre. Das wäre etwa so, als würde beim Autorennen ein Privatfahrer gegen Werksteams von Daimler Benz oder Honda antreten. Jetzt sind die europäischen Nachbarn Frankreich, Großbritannien, Italien und die Niederlande gefordert ihre Zusage, dem Rennteam beizutreten, schnellstens einzulösen.

Wir sollten uns jedoch nichts vormachen. Auch optimale Bedingungen für Jessi und das Erreichen der gesteckten Ziele werden die Japaner nicht aufhalten. Die von den Dataquest-Marktauguren prognostizierte Renaissance des Alten Kontinents in der Mikroelektronik zeigt dem auch mehr mögliche Chancen auf, als daß von konkreten Entwicklungen die Rede sein könnte.

Konzentration der Ressourcen und Kooperation allein auf dem Gebiet der Forschung und Entwicklung sind zwar im Moment wichtig, auf lange Sicht gesehen aber nicht ausreichend. Erforderlich sind Kooperationen, die die Produktion und Vermarktung neuer Chip-Generationen umfassen. Erforderlich ist eine strategische Aufgabenteilung zwischen den europäischen Herstellern und eine Konzentration einzelner Hersteller auf Komponenten für spezielle Applikationsgebiete. Nicht jeder europäische Hersteller muß ISDN-Bauelemente oder Chips für das hochauflösende Fernsehen (HDTV) entwickeln und produzieren, damit der Bedarf der europäischen Industrie gedeckt werden kann.

Warum ist die Gründung einer European Silicon AG als Pendant zur US Memories Inc. so undenkbar? Wir müssen realisieren, daß nationales Kartellrecht zu kurz angelegt ist, um globalstrategische Fragen dieser Art beantworten zu können. Herrn Kaske von Siemens ist unbedingt Recht zu geben, wenn er ein Überdenken und Umdenken in der Wettbewerbspolitik fordert. Jessi kann und darf nur ein erster Schritt zur Konzentration der Aktivitäten Europas in der Mikroelektronik sein.