Von Banyans Intelligent Messaging zu MS Exchange

Domain-Modell brachte Probleme für Siemens AT

23.07.1999
CW-Bericht Jürgen Hill Der Wunsch nach einem neuen, integrierenden Mail-System auf Basis von "Lotus Notes" oder "Microsoft Exchange" ist schnell geäußert. Was so locker über die Lippen kommt, hat in der Praxis jedoch oft erhebliche Konsequenzen. Das Beispiel des Siemens-Geschäftsbereichs Automobiltechnik verdeutlicht, welche Hürden etwa bei einer Migration zu Exchange zu nehmen sind.

Eigentlich war der Regensburger Siemens-Bereich Automobiltechnik (kurz Automotive) mit seiner Messaging-Plattform auf der Basis von Banyans "Intelligent Messaging" ganz zufrieden. Das System war zwar nicht mehr unbedingt der letzte Schrei, doch es funktionierte zuverlässig.

Allerdings hatte die zeichenorientierte Plattform teilweise Probleme mit Dateianhängen und erwies sich mit den derzeit eingesetzten Applikationen als nicht Jahr-2000-fähig. Ein weiteres Manko war, daß die rund 11000 Benutzer für Anwendungen wie die Terminverwaltung eigene Applikationen benötigten, da die Banyan-Lösung nicht den integrierenden Ansatz heutiger Kommunikations-Tools besitzt. Einen zusätzlichen Minuspunkt bedeutete die Kommunikation mit anderen Bereichen des Siemens-Konzerns. Während innerhalb von Siemens Automotive (AT) die elektronische Post reibungslos klappte, waren Sendungen in andere Unternehmensteile häufig lange unterwegs, bis sie den Weg über die Gateways der unterschiedlichen Mail-Systeme gefunden hatten.

Aufgrund dieser Schwächen bestand Handlungsbedarf. Was auf den ersten Blick nach einer einfachen Mail-Migration aussah, stellte den Bereich Automotive dann jedoch vor eine große Herausforderung, wie sich Projekt-Managerin Viola Frankenbach erinnert: "Wir hatten im Netzwerkbereich ausschließlich Banyan im Einsatz und keinerlei NT-Erfahrung." Die Aufgabe bestand also letztlich darin, in einem ersten Schritt das globale Banyan-Netz auf Windows NT zu migrieren und so die erforderliche Grundlage für Microsoft Exchange aufzubauen. Hier entpuppten sich die Probleme dann im Detail, da sich die Banyan-Struktur nicht einfach im Domain-Modell von NT nachbilden ließ.

"Microsofts NT", so die Erfahrung Frankenbachs, "erfordert eher eine zentralistische DV-Struktur." Siemens Automotive dagegen, das nahezu 70 Standorte in mehr als 20 Ländern unterhält, ist dezentral mit relativ eigenständigen Standorten organisiert. Eine Struktur, die unter Banyan problemlos funktionierte, da das System, von einigen Regeln wie einheitlicher Namens- und Adreßvergabe abgesehen, keine zentralen Schaltstellen zur Administration benötigte. Entsprechend waren die Niederlassungen relativ frei in ihren DV-Entscheidungen. Anders dagegen das NT-Modell: Dieses setzt aufgrund seiner Rechtevergabe eine zentralistische Organisation voraus.

Wegen der Komplexität der Migrationsaufgabe entschloß sich der Bereich AT, eine externe Beratungsfirma einzubinden. Weil die alte Banyan-Welt noch eine Weile weiterbestehen sollte, mußte der Auftragnehmer sowohl über fundiertes Banyan-Wissen als auch über Windows-NT-Know-how verfügen. Einen entsprechenden Partner fand Siemens Automotive in der Aetea GmbH, Neuss. Das Projekt wurde in fünf Stufen unterteilt: Pilot (Machbarkeitsstudie), Feinspezifikation (A30), Prototype (Aufbau der weltweiten Infrastruktur), Pre-Rollout (Quantitätstest) und Rollout. Dabei bilden die Phasen bis einschließlich Pre-Rollout das Projektdesign, während der Rollout, der unter der Leitung von Michael Rippstain erfolgte, die Umsetzung darstellt.

Gemeinsam mit Aetea und Microsoft Consulting stellte das Automotive-Team eine globale Domain-Struktur auf. Das Konzept sah mehrere regionale Account-Domains und eine globale Ressourcen-Domain für die Exchange-Infrastruktur vor. Das Exchange-Site-Design mußte dabei zunächst unter Beachtung der gegebenen Leitungsbandbreiten erstellt werden und unter der Prämisse: sowenig Sites wie möglich, so viele wie wie nötig. Eine Exchange-Site repräsentiert dabei den logischen Verbund von einem oder mehreren Exchange-Servern. Untereinander sind die einzelnen Exchange-Sites über X.400-Konnektoren verbunden. "Eine allgemeingültige Regel, ob jeder Standort einen eigenen Exchange-Server bekommt oder remote angeschlossen wird, gibt es nicht", beschreibt Frankenbach das Konzept.

Die zentrale Replikation (Datensammlung und -verteilung), die verglichen mit der Banyan-Umgebung, in der Microsoft-Welt komplexer ist, erfolgt über sogenannte Hub-Server. "Während Banyan die Replikation automatisch vornimmt, muß das unter Exchange selbst konfiguriert und aktiviert werden", berichtet Gustav Scheel, der als Aetea-Geschäftsführer im Projekt für das technische Design verantwortlich war.

Überhaupt mußten die rund 45 am "GoXchange"-Projekt beteiligten Mitarbeiter die eher leidvolle Erfahrung machen, daß in der Microsoft-Welt das Rad teilweise neu zu erfinden ist. So hatten sich die DV-Strategen, unter Banyan von einem einfachen Administrationsmodell verwöhnt, nun mit User Manager, Domain Manager, Server Manager, Exchange-Administrator etc. herumzuschlagen. Ein weiteres Hindernis bei der Migration war die unterschiedliche Namensvergabe in Banyan und Windows NT. Während Banyan mit seinen drei Hierarchiestufen eine an der Organisation orientierte Namensvergabe für die User unterstützt, beherrscht NT lediglich eine flache Namensvergabe.

Fehlendes Directory als Migrationshindernis

"Das fehlende Directory in Windows NT entpuppte sich als eines der größten Hindernisse bei der Migration", skizziert Scheel die Schwierigkeiten. Derzeit hat die Münchner Konzernzentrale ein Projekt für ein Global Resource Directory initiiert, dessen Verwirklichung steht jedoch mit der wiederholt verschobenen Win- dows-2000-Auslieferung in den Sternen. "Selbst Novell brauchte mit seinen NDS vier Jahre, bis sie funktionierten", zweifelt der Aetea-Geschäftsführer an einer schnellen Praxistauglichkeit des Active Directory. Aus diesem Grund dient zum Teil, de facto bis zur vollständigen NT-Umstellung, der Banyan-Verzeichnisdienst "Streettalk" als Master Directory. Um im Online-Betrieb die erforderliche Synchronisation zwischen Banyan und Exchange zu verwirklichen, entwickelte Aetea ein entsprechendes Synchronisationsprodukt.

Darüber hinaus war das Team, wie Viola Frankenbach berichtet, noch in anderer Hinsicht gefordert: "Wir wollten während der Migration die Interoperabilität von Banyans Intelligent Messaging und NT-Exchange gewährleisten, um ein Erreichbarkeitsloch zu vermeiden." Weil beide Plattformen dies nicht automatisch erlauben, mußte zum einen ein Tool zur Adreßsynchronisation entwickelt werden, zum anderen war ein hochkomplexes Routing-Konzept nötig, das in Zusammenarbeit mit Georg Hoerner erstellt wurde.

Aufgrund der geforderten Kompatibilität erwies sich schließlich auch die eigentliche Migration eines Users auf NT als äußerst komplex. Bei ersten Versuchen betrug die Migrationszeit bis zu vierzig Minuten, eventuelle Nacharbeiten nicht eingerechnet. Ein Zeitaufwand, der bei 11000 Mail-Benutzern nicht hinnehmbar war. Entsprechend hatten die Beteiligten auch hierfür eine eigene Lösung zu programmieren. Das gelang - "heute brauchen wir mit unserem Migrations-Tool ,MigimexÈ vier bis sechs Minuten pro Anwender", zieht Managerin Frankenbach Resümee.

Neben diesen technischen Fallstricken hatten die IT-Verantwortlichen laut Projektleiter Rippstain noch eine andere Hürde zu nehmen: "Wir mußten in den Standorten regelrecht Marketing für unser Exchange-Projekt betreiben." Weil die NT-Struktur, wie eingangs beschrieben, einen gewissen Zentralismus bedingt, konnte die Migration nur in Teamarbeit mit den Standorten zum Erfolg führen. Wie schnell eine fehlende zentrale Koordination zum Chaos führen kann, zeigte den Automotive-Mitarbeitern ein Vorfall: Als zwei Lokationen unkoordiniert das Service Pack 4 für Windows NT einspielten, brachte dies die Wins-Replikation ziemlich durcheinander. Um solche Schwierigkeiten zu vermeiden, stellte das Central Team (zentrales Projektteam) ausführliche Installationsregeln auf und informierte die Mitarbeiter der einzelnen Niederlassungen in sogenannten Kick-off-Veranstaltungen über das Migrationsvorhaben. Zudem betreuen mehrere Rollout-Teams die Niederlassungen bei der Umstellung. Die Migration vor Ort, inklusive der Outlook-Schulungen, übernimmt dabei der Rollout-Partner Compunet.

Bei allen technischen und organisatorischen Schwierigkeiten hatten die DV-Mitarbeiter zumindest eine Bestätigung ihrer Arbeit: Wenn die Benutzer nach der Exchange-Schulung an ihren migrierten Arbeitsplatz zurückkehren, nehmen sie die neue Mail-Oberfläche Outlook mit Begeisterung an. Für den Durchschnitts-User, der von den Stolpersteinen bei der Migration nichts ahnt, hat sich der Arbeitsablauf vereinfacht. Zudem verfügt er mit Outlook über ein integrierendes Kommunikations-Tool, das ihm künftig Terminplanung und Workflow-Funktionalität bereitstellt.

Siemens Automotive

Der Siemens-Bereich Automobiltechnik beschäftigt weltweit rund 25000 Mitarbeiter an nahezu 70 Standorten. Im Geschäftsjahr 1997/98 (Ende: 30. September) erwirtschaftete der Bereich einen Umsatz von 5,6 Milliarden Mark, nach 4,5 Milliarden im Jahr zuvor. Am Standort Regensburg beschäftigt Siemens Automobiltechnik rund 4300 Mitarbeiter. Drei Viertel der Beschäftigten sind außerhalb Deutschlands tätig. Unter den Automobilzulieferern zählt der Siemens-Bereich zu den Großen der Branche. Die Produktpalette im Autobereich reicht von der Steuerungstechnik über Airbags, Bremssysteme und Motorsteuerungen bis hin zu GPS-Systemen.