Disruptive Geschäftsmodelle wichtiger als Technik

Digitalisierung der Werkshalle

19.10.2016
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Werner Rieche verfügt über mehr als 20 Jahre Erfahrung in der IT-Branche. Nach seinem erfolgreichen Studium der Elektrotechnik/Nachrichtentechnik an der FH Niederrhein war er in mehreren leitenden Positionen in ICT-Unternehmen tätig. Seit Juli 2015 ist er Geschäftsführer der SAG Deutschland GmbH, einer 100-prozentigen Tochter der Software AG. Er ist für die gesamten Vertriebs- und Marketingaktivitäten des Konzerns in Deutschland und Österreich zuständig und verantwortet seit Januar 2018 als Regional President DACH die gesamte DACH-Region.
Welche Folgen hat die Digitalisierung für die industrielle Fertigung? Wie kann es gelingen, dem wachsenden Wettbewerbsdruck im Zeitalter von IoT und Industrie 4.0 standzuhalten? Ein anschauliches Beispiel liefert die kunststoffverarbeitende Industrie.
Sensoren zur Erfassung von Produktionsdaten und zur Prozesssteuerung sind für die kunststoffverarbeitende Industrie bereits Alltag. Dennoch gerät die Branche unter Digitalisierungsdruck.
Sensoren zur Erfassung von Produktionsdaten und zur Prozesssteuerung sind für die kunststoffverarbeitende Industrie bereits Alltag. Dennoch gerät die Branche unter Digitalisierungsdruck.
Foto: Baloncici/Shutterstock.com

Verglichen mit anderen Branchen des Verarbeitenden Gewerbes weist die kunststoffverarbeitende Industrie seit jeher einen hohen Automatisierungsgrad auf. Bereits vor Jahrzehnten wurden elektronisch gesteuerte Maschinen in die Fertigung eingeführt und IoT-Ideen bereits realisiert: Sensoren zur Erfassung von Produktionsdaten und zur Prozesssteuerung. Dennoch lastet auf der mittelständisch geprägten Branche ein hoher Digitalisierungsdruck. Dieser kommt aus zwei Richtungen: Auf der einen Seite stehen große Rohstofflieferanten, die den Unternehmen vermehrt abverlangen, das Rohstoffmanagement selbst zu gestalten - vom Self-Billing bis zur Lagerhaltung. Auf der anderen Seite stehen Kunden, die neue Leistungen einfordern und wachsende Ansprüche an die Transparenz der Produktion stellen. Unternehmen müssen das Potenzial der Technik nutzen, um nicht hinter der Konkurrenz zurückzufallen.

Prototypen aus dem 3D-Drucker

Massenware wie Legosteine lassen sich schnell und kostengünstig per Spritzguss herstellen.
Massenware wie Legosteine lassen sich schnell und kostengünstig per Spritzguss herstellen.
Foto: cjmacer/Shutterstock.com

Ein konkretes Beispiel liefert das Spritzgussverfahren: Bei dieser Fertigungsmethode wird verflüssigter Kunststoff in Formwerkzeuge gespritzt. Auf diese Weise lassen sich Kunststoffteile, die in großer Menge benötigt werden, schnell und kostengünstig herstellen - etwa Legosteine oder Smartphone-Gehäuse. Für jedes neue Teil wird jedoch ein neues Formwerkzeug benötigt, dessen Fertigung viel Zeit und Geld kostet. Die initialen Investitionen sind somit hoch, Ingenieure müssen oft mehrere Monate auf die ersten Prototypen warten. Außerdem besteht wenig Raum für Änderungen und Korrekturen: Bereits für das erste produzierte Teil muss das fertige Werkzeug vorliegen, nachträgliche Formveränderungen sind nicht möglich. Die Produktentwicklung gestaltet sich daher denkbar unflexibel und ist mit einem hohen Aufwand verbunden.

Abhilfe schaffen die Technologien des digitalen Zeitalters: Prototypen kommen heute aus dem 3D-Drucker, die Anfertigung von Einzelstücken ist somit kein Problem mehr. Das für die Massenfertigung benötigte Formwerkzeug wird erst hergestellt, wenn das Bauteil den nötigen Feinschliff erreicht hat. Auch muss ein Ingenieur nicht mehr lange auf einen Prototyp warten - seinen Entwurf kann er bequem über ein Webformular als CAD-Datei hochladen, der Drucker übernimmt vollautomatisch die rasche Ausführung. Ist der Kunde mit dem Ergebnis unzufrieden, kann er seinen Entwurf flexibel anpassen und den nächsten Testlauf starten.

Teuer ist jedoch die Herstellung der Spritzgussformen.
Teuer ist jedoch die Herstellung der Spritzgussformen.
Foto: alterfalter/Shutterstock.com

Das neue Verfahren ist geeignet, die Produktentwicklung durch eine schnelle Verfügbarkeit komplexer Prototypen zu beschleunigen und qualitativ zu verbessern. Es reduziert außerdem das Risiko, viel Geld in Formwerkzeuge zu investieren, die dann unvollkommene Bauteile liefern oder gar völlig unbrauchbar sind. So entsteht eine neue Nutzererfahrung, auf die in Zukunft kein Kunde mehr freiwillig verzichten wird.

Die Neuausrichtung der IT

Nicht nur die Produktentwicklung, sondern auch andere Bereiche der industriellen Fertigung bergen Optimierungspotenzial. Gerade Großkunden verlangen oft einen weitreichenden Einblick: Wie ist der Auftragsstatus, wie lauten einzelne Produktionsdaten? Wann läuft mein Produkt auf welcher Maschine, wie wird mein Auftrag gefertigt? Hersteller können diese Fragen nur beantworten, wenn sie über digitalisierte Systeme verfügen, die diese Informationen erfassen, aufbereiten und über eine zentrale Schnittstelle zur Verfügung stellen.

Prototypen der Gussformen könnten in der digitalisierten Werkhalle künftig 3D-Drucker herstellen.
Prototypen der Gussformen könnten in der digitalisierten Werkhalle künftig 3D-Drucker herstellen.
Foto: RomboStudio/Shutterstock.com

Eine allumfassende technische Neuausrichtung ist deshalb unumgänglich. Die Einführung einer einzelnen, isoliert agierenden App ist immer nur ein Tropfen auf den heißen Stein - und auch wenn sie kurzfristig eine Verbesserung bringen mag, so vergrößert sie mittel- und langfristig nur die Fragmentierung der IT im Unternehmen. Die Digitalisierung der Werkshalle erfordert jedoch das Gegenteil: Datensilos müssen aufgelöst, heterogene und dezentrale Systeme zusammengeführt und die IT insgesamt rationalisiert werden. Es geht also um den Aufbau einer einheitlichen Prozessplattform.

Allein auf einer solchen Grundlage können Produktionsprozesse datengestützt optimiert werden und sind maßgeschneiderte Mehrwert- und Zusatzdienste überhaupt umsetzbar. So wird beispielsweise die integrierte Produktionsüberwachung möglich, in deren Rahmen Qualitätsprobleme durch die Analyse von Sensordaten in Echtzeit aufgedeckt und behoben werden können. Eine weitere Errungenschaft der Digitalisierung ist die vorausschauende Wartung, bei der sich Ausfälle von Anlagen und Maschinen dank Big Data exakt vorhersagen lassen, so dass sie nicht mehr nach festen Intervallen, sondern nur noch bedarfsabhängig gewartet werden müssen. Vor allem aber geht es auch darum, die gestiegenen Erwartungen der Kunden zu erfüllen und ihnen flexiblere Schnittstellen, Prozesse und Produkte anzubieten - wie etwa in der oben beschriebenen Form.

Das Beispiel aus der kunststoffverarbeitenden Industrie zeigt klar: Digitalisierung und Industrie 4.0 sind keine fernen Visionen mehr. Die disruptiven Geschäftsmodelle der Gegenwart sind längst wichtiger als die technischen Möglichkeiten künftiger Jahrzehnte. Die Umwälzung der industriellen Fertigung ist in vollem Gange, die Märkte werden revolutioniert. Für Unternehmen gilt es, sich rechtzeitig im neuen Gefüge zu positionieren.