IT im Handel/Experten über die Zukunft des E-Commerce befragt

Die Zeit der Narrenfreiheit geht allmählich zu Ende

12.11.1999
Hoffnungsvolle Newcomer im E-Commerce geraten unter Druck. Die etablierten Handelsunternehmen beginnen, sich gegen die Neueinsteiger zu wehren. Die Macht der Markennamen sowie notwendige Millionen-Investitionen begünstigen finanzkräftige Firmen im Handel über das Web. Das erklären Forscher und Experten, die Johannes Kelch* befragt hat.

Wie der Hecht im Karpfenteich konnte so manches Startup-Unternehmen in den vergangenen Jahren über Nacht erfolgsgewohnte Einzelhandelsunternehmen das Fürchten lehren. Mit ungläubigem Staunen durfte die Welt beobachten, wie clever die Davids der Moderne im neuen Medium Internet gegen die unbeweglichen Goliaths antreten. Die öffentliche Bewunderung für die häufig jugendlichen Geschäftemacher aus dem Nichts kennt keine Grenzen, und die Sympathie risikobereiter Aktionäre spült den Nobodys Milliarden-Summen in die Kassen, selbst wenn sie außer zündenden Namen und gehörigen Verlusten nur vage Ideen zu bieten haben.

Doch jetzt ist es vorbei mit der Romantik in der Elektronik. Von einer großen Freiheit des E-Commerce, die jungen Leuten mit Ideen ungeahnte Chancen im Turbo-Kapitalismus eröffnet, kann keine Rede mehr sein. In Wahrheit ist der Weltmarkt kein Karpfenteich, sondern ein Haifisch-Becken. Die großen Fische fressen die kleinen und ihre Ideen gleich mit. Für die Youngster bleibt oft nur noch die Wahl zwischen Aufgabe oder Aufkauf durch die übermächtige Konkurrenz.

Die Gründerphase im E-Commerce mit Verbrauchern - "Business-to-Consumer" (B2C) genannt - ist definitiv beendet. Pascal Sieber von der Universität Bern, der in der Deutsch-Schweiz mittels E-Commerce-Umfragen die Zeichen der Zeit zu deuten versucht, ist überzeugt: "Die Zeit der Narrenfreiheit für die Kleinen ist vorbei." Sieber warnt Neueinsteiger vor Blauäugigkeit.

In der Schweiz investierten jetzt die Top-300 massiv in Internet-Technologie; die Konzentration auf wenige Große habe angefangen. So mußten viele kleine elektronische Buchhändler in dem Alpenland ihr Geschäft bereits verkaufen. Sieber betont: "Es genügt nicht, gute Ideen zu haben. Man braucht auch Geld. Die Technik ist so schnell kopiert."

Eine Million Schweizer Franken muß ein Unternehmen laut Pascal Sieber bereits investieren, um eine neue Internet-Firma überhaupt erst einmal mit einem zugkräftigen Markennamen in die Gehirne der Web-Nutzer einzubrennen. Die Technik für die Website und die effiziente Abwicklung der Bestellungen mit Geschäftspartnern über elektronische Netze verursachen noch einmal den gleichen Betrag an Kosten, weiß der Forscher von der Universität Bern.

Um einen Laden im Internet zu eröffnen, reichen heute 10000 Mark bei weitem nicht mehr aus. Die von Sieber erarbeitete E-Commerce-Umfrage ''98 bei deutschschweizer Handelsfirmen hat herausgebracht, daß die "Investitionen ebenso wie die Umsätze der meisten Unternehmen immer noch relativ niedrig" liegen. Auch die Rationalisierungsmöglichkeiten sind noch nicht ausgeschöpft. So werden die Bestellungen aus dem Internet "zu 90 Prozent manuell weiterverarbeitet"- Vorteile gegenüber der Bearbeitung von Eingangspost und Fax lassen sich so nicht realisieren.

Noch viel höher als Sieber setzt die Gartner Group den Aufwand für ein klickendes Geschäft im Internet an. Eine im Frühjahr 1999 veröffentlichte Studie beziffert die "realen Kosten von E-Commerce-Sites" auf eine runde Million Dollar. Überraschend für die 20 mittelgroßen Unternehmen, die befragt wurden, war die Erfahrung gewesen, daß sie vom Anbieter ihrer E-Commerce-Anwendung "fast nichts von dem bekamen, was sie brauchten". So verursachte der Integrationsaufwand mit rund 80 Prozent den Löwenanteil der Kosten - viel mehr als Hard- und Software.

Doch auch mit einer Million ist erst der Grundstein für ein von selbst laufendes E-Business gelegt. Um mit den Wettbewerbern gleichzuziehen, muß man eine bis fünf Millionen Dollar anlegen, rechnet die Gartner Group vor. Und noch einmal teuerer kommt es, als "Market Differentiator" eine eigene Marktposition im Haifischbecken der Handelsfirmen zu besetzen. Dafür muß ein Unternehmen zusätzlich fünf bis 20 Millionen Dollar investieren, so die Marktforscher. Bei solchen Summen geht vielen Kleinen schnell die Luft aus.

Was die Kosten hochschraubt, sind die hohen Anforderungen an eine echte Attraktion im Web. So hat E-Commerce ohne Abenteuer wie etwa eine prickelnde Online-Auktion keine Chancen mehr, meint die International Data Corporation (IDC). In einem Bulletin der IDC-Marktbeobachter vom April 1999 heißt es: Online-Auktionen sind so erfolgreich im Internet, weil sie die drei kritischen Cs für den Erfolg im Web erzeugen: "Community, Content and Commerce". Auktionen hielten Internet-Surfer ab, zur Konkurrenz fortzuklicken. Außerdem unterstützten sie den Aufbau von Marken.

Die meisten deutschen Unternehmen haben es bisher noch nicht geschafft, ihre Internet-Präsenz auch nur den Mindestanforderungen eines künftigen Massenmarkts anzupassen. So hat eine Studie des Stuttgarter Fraunhofer-Instituts für Arbeitswirtschaft und Organisation (IAO) ermittelt, "daß die bestehenden Online-Auftritte deutscher Unternehmen größtenteils weit hinter den Erwartungen der User zurückbleiben".

Spartanische Web-Präsenz bringt gar nichts

Neben fehlender Struktur und Übersichtlichkeit moniert die Untersuchung eine "wenig konsequente Zielgruppenansprache". Vordringliche Aufgabe sei es, das Internet "auch für andere Zielgruppen als die männlichen, jungen Technikfreaks" attraktiv zu machen. "Der Anspruch an die Professionalität der Angebote steigt mit der Verbreitung des Mediums", schärfen die Autorinnen Andrea Müller, Susanne Köhler und Birgit Vielhauer geizigen Firmen-Chefs ein, die sich mit einer spartanischen Web-Präsenz zufriedengeben wollen.

Während der Zug für den E-Commerce mit Verbrauchern aufgrund extremer Anforderungen und astronomischer Kosten für die meisten kleineren Firmen wohl abgefahren ist, bietet der elektronische Austausch zwischen Unternehmen noch erhebliche Chancen - nicht zuletzt für Handelsunternehmen, die sich mit ihren Lieferanten vernetzen. Marktforscher sehen im Bereich Business-to-Business (B2B) sogar das weitaus größere Potential als im Handel mit Verbrauchern.

Nach der Einschätzung von Experten der Giga Group werden elektronische Geschäftsbeziehungen zwischen kleinen Unternehmen über Web-basierte Systeme den E-Commerce in den kommenden fünf Jahren anheizen. Hundertausende kleiner Firmen hätten bisher noch keine Technologie zur kostensenkenden Abwicklung von Geschäftsprozessen über das Internet implementiert.

Der Informatiker Kurt Sandkuhl vom Fraunhofer-Institut für Software- und Systemtechnik (ISST) ermuntert kleine und mittelständische Unternehmen, den Weg zum Electronic Commerce zu gehen, ohne den Versprechungen von "Internet-Consultants", "Service-Providern" und "Multimedia-Beratern" zu trauen. Der Weg sei "oft kürzer als angenommen". Unbewußt hätten so manche Firmen bereits die ersten Schritte eingeleitet. E-Commerce müsse nicht notwendigerweise "Verkaufen über das Internet" sein.

Sandkuhl empfiehlt den Firmen, ihren Produktkatalog in Form einer Datenbank anzulegen und automatisch auf Knopfdruck zum Katalog zusammenzusetzen. Schon dadurch seien Kosteneinsparungen zu erzielen. Auf der Grundlage dieser Datenbank könnten die Firmen gedruckte wie elektronische Produktkataloge erstellen. Im einfachsten Fall erzeuge man Produktpräsentationen im Internet mit dem selben Ablauf wie Print-Seiten für gedruckte Kataloge. Eine Musterseite bestimmt den grundlegenden Aufbau, und ein "Generator" erzeugt aus den Datenbank-Inhalten HTML-Seiten. Wer allerdings einen Internet-Katalog mit direkter Bestellmöglichkeit, komfortablen Suchfunktionen sowie einem Warenkorb bieten will, muß laut Sandkuhl zusätzlich noch in einige Softwarekomponenten investieren.

In den USA geht die Entwicklung indes nicht in die Richtung einer einfachen und kostengünstigen E-Commerce-Lösung, die im eigenen Haus zu realisieren wäre. Eine Studie von Dataquest kommt zu dem Ergebnis, daß das B2B zum Aufmarschfeld für eine ganz neue Sorte von Dienstleistern wird - die sogenannten elektronischen Markt-Macher ("E-Market Makers"). Newcomer haben also doch Chancen im E-Commerce. Dataquest glaubt, daß solche neuartigen Markt-Bereiter innerhalb einer bestimmten Industrie oder geografischen Region jeweils einen offenen Marktplatz für Käufer und Verkäufer im Internet schaffen werden.

Die Marktforscher sehen am Horizont neue Effizienz und neue Wege des Kaufens und Verkaufens heraufziehen. Da bauen bereits Markt-Macher "Portale" für das Geschäft in einer Branche oder Industrie. Sie stellen Inhalte wie Datenblätter, Produktbeschreibungen oder elektronische Einkaufsführer zusammen mit Anzeigen von Verkäufern und Käufern ins Netz. Ihr Geld verdienen diese Vermarkter mit Anzeigen-werbung, Nutzungsentgelten und Vermittlungsgebühren.

Andere Markt-Leute verkaufen eine Software oder bieten eine Host-Lösung, um den elektronischen Handel anzukurbeln. Wieder andere treten in Konkurrenz zu Großhändlern und managen mit elektronischen Mitteln effiziente Handelsnetze. Auf die Spitze treiben schließlich Internet-Unternehmen den Marktgedanken mit einem "dynamischen Marktplatz", der über Angebot und Nachfrage Preise aushandelt und über Auktionen Verkäufe abwickelt. Die Gartner Group, zu der Dataquest gehört, ist überzeugt, daß die neuen Markt-Macher Handels- und Geschäftsbeziehungen "revolutionieren" werden.

ANGEKLICKT

Kommt es im Einzelhandel infolge der elektronischen Konkurrenz zu einem radikalen Umbruch? Müssen alteingesessene Geschäfte plötzlich schließen, weil aggressive Internet-Firmen ihnen die Kunden wegschnappen?

Arnold Hermanns von der Universität der Bundeswehr in München glaubt nicht an eine "Revolution" durch E-Commerce. Zwar ist der Hochschullehrer mit Schwerpunkt Betriebswirtschaftslehre und Marketing überzeugt, daß der Internet-Handel erst am Anfang steht und die neuen Möglichkeiten "noch nicht ausgereizt" sind. Doch Hermanns prophezeit nur eine "marginale Verschiebung" zugunsten des elektronischen Einzelhandels: "Das Internet ist nur ein Medium neben anderen. Es ist grundsätzlich nicht dominant." Das Potential in zehn Jahren schätzt der E-Commerce-Experte auf "fünf Prozent des Einzelhandelsumsatzes" - so viel, wie der Versandhandel in 50 Jahren Bundesrepublik insgesamt erreicht hat.

Der Wissenschaftler begründet seine Skepsis gegenüber allzu großer Euphorie mit den Grenzen des Internet-Shoppings. Das sinnliche, kommunikative Einkaufserlebnis bleibe unersetzbar. Auf seiten der Verbraucher seien "wahnsinnig viele Hemmnisse" zu überwinden. Außerdem werde der Einzelhandel auf die neue Konkurrenz reagieren. "Bedrängte Sparten werden sich zur Wehr setzen", so Hermanns.

Europäer

Obwohl die USA weltweit vorne liegen, haben deutsche Unternehmen noch große Chancen, ein ordentliches Stück aus dem wachsenden Kuchen der Internet-Wirtschaft zu schneiden. Amerikanische Firmen werden in Europa mitmischen, aber die Europäer nicht auf dem Markt drängen. Anna Giraldo von der IDC schreibt in einer Studie US-zentrierten Firmen ins Stammbuch, daß "Internet-Surfer gerade in West-Europa eher nationalen Websites vertrauen werden als internationalen". Globalisierung bedeute auch, "lokal zu denken auf jedem individuellen Markt". Unternehmen, die mit vielsprachigen E-Commerce-Sites eine globale Internet-Strategie verfolgen, müßten mit "technischen, logistischen und organisatorischen Herausforderungen" rechnen.

*Andreas Kelch ist freier Journalist in München.