Die wahren Kosten des virtuellen Desktops

15.03.2012
Mit einer Desktop-Virtualisierung sind Ausgaben verbunden, die der Anwender zunächst nicht im Blick hat.

Technische Lösungen zur Virtualisierung bietet die Industrie inzwischen einige: Komponenten für Virtual Desktop Infrastructure (VDI), Terminal-Server und Applikationsvirtualisierung können - je nach Anforderung gemischt - in einer "hybriden", standardisierten Plattform zusammenwirken und als Basis für unterschiedliche Anwendungsfälle dienen.

Die Aussage, dass jede Applikation virtua-lisierbar ist, mag richtig sein. Die Kernfrage lautet aber: zu welchem Preis? Design, Implementierung und Betrieb einer hybriden Virtualisierungsplattform bedeuten hohen Aufwand für die IT. Umso wichtiger ist es, diese Kosten möglichst schnell wieder einzuspielen.

Es empfiehlt sich, in einer Voruntersuchung der möglichen Einsatzfelder das IT-Umfeld ganzheitlich nach Anwendungsszenarien zu durchforsten. Dadurch steht nicht nur der technische Aspekt im Vordergrund, sondern auch die Eignungsprüfung der Betriebsprozesse und -werkzeuge.

Ideal ist es, wenn ein einzelner Anwendungsfall schon die "kritische Masse" zur Amortisation überschreitet. Indikator für einen solchen Use Case kann eine hohe Zahl von Anwendern mit einem begrenzten Applikationsumfang sein, die womöglich auf wenige Standorte verteilt sind.

Eine solche ideale Voraussetzung für ein Ankerprojekt ist allerdings selten gegeben. Aber auch die Kombination einzelner Use Cases, die jeder für sich die kritische Masse noch nicht erreichen, kann durchaus zu einem guten Business Case führen.

Anbieterkalkulationen täuschen oft

Der wirtschaftliche Nutzen rein betrieblich orientierter Anforderungen lässt sich aus ein bis zwei Business-Case-Objekten errechnen. Soll die Einführung von Virtualisierungslösungen einem strategischen Ansatz folgen, wird die Wirtschaftlichkeitsbetrachtung komplexer. Wird eine Lösung in Betracht gezogen, die Geschäftsprozesse verbessern soll (Flexibilisierung, Mobilisierung der Arbeitsplatzumgebung), müssen auch Einsparpotenziale aus Geschäftsprozessen oder sogar Umsatzpotenziale auf ihre Substanz überprüft werden. Spätestens hier verlässt die Wirtschaftlichkeitsberechnung den IT-Rahmen.

Eine Musterlösung zur Wirtschaftlichkeitsberechnung eines Desktop-Virtualisierungssystems gibt es nicht. Dazu sind die Rahmenbedingungen in jedem Unternehmen zu unterschiedlich. Nicht blenden lassen sollte man sich von den Kalkulationen mancher VDI-Anbieter, die meistens wichtige Faktoren vernachlässigen.

Die erste Hürde auf dem Weg zu einer umfassenden Betrachtung stellt für viele Unternehmen schon die Zusammenstellung der Ist-Kosten dar. Wo soll die Grenze des Betrachtungsumfangs gezogen werden - am äußersten Einflussbereich der IT-Abteilung oder unternehmensweit? Am aussagekräftigsten ist die unternehmensweite Betrachtung, aber wenn sie vollständig sein soll, muss eventuell auf Daten zurückgegriffen werden, die sich kaum erheben lassen. Wer erfasst zum Beispiel den Kostenanteil, den Desktop-PCs bei der Klimatisierung der Büroräume verursachen?

Das Prinzip des Freischneidens

Besser ist es deshalb, auf ein bewährtes Prinzip aus der technischen Mechanik zurückzugreifen: das "Freischneiden". Dabei wird ein überschaubarer Bereich aus dem Leistungsportfolio herausgegriffen und bei Annahme konstanter Rahmenbedingungen isoliert betrachtet. Dabei darf jedoch nicht vergessen werden, die Schnittstellen sauber zu definieren und auf Wechselwirkungen mit der Systemumgebung hinzuweisen.

Ein Objekt der Detailbetrachtung ist für die Desktop-Virtualisierung schnell bestimmt: der klassische Desktop-PC. In die Wirtschaftlichkeitsbetrachtung sollten die Ist-Kosten einfließen, die unmittelbar mit Bereitstellung, Betrieb und Support des Desktops zusammenhängen, beispielsweise

• direkte Hardwarekosten (zum Beispiel Abschreibungen oder Leasingraten);

• weitere Kosten der Hardware (Beschaffungs- und Evaluierungskosten etc.);

• Lizenz- und Wartungskosten für Software auf den Clients (zum Beispiel für Betriebssystem und Anwendungssoftware);

• Kosten für Test, Paketierung und Verteilung der Software auf die Clients;

• Kosten für IMAC (Install, Move, Add, Change) vor Ort beim Nutzer oder über das Netz;

• Kosten für die Beseitigung von Störungen (ebenfalls vor Ort oder über das Netz).

Erweitern lassen sich diese Positionen beispielsweise durch Kosten für den Stromverbrauch, für Beistellleistungen und für den Service-Desk. Nach dem Prinzip des Freischneidens werden alle Kosten beiseitegelassen, bei denen keine Änderung in Abhängigkeit von der gewählten Lösung vermutet wird, also unter anderem die Kos-ten für den File-Service oder für Monitore.

Frontends sind sparsamer

Die Kosten für die Virtualisierungslösung werden möglichst genau antizipiert. In einigen Kategorien werden sie sich verringern, zum Beispiel durch den Erwerb von Thin Clients statt Desktop-PCs. Andere Kos-ten werden steigen, zum Beispiel für spezielle Client Access Licenses (CAL). Insgesamt werden auf der Seite der Frontends erheblich geringere Kosten auflaufen.

Aber damit lässt sich noch kein Strich unter die Rechnung ziehen, denn das freigeschnittene System bildet die Zielarchitektur nicht vollständig nach: Die Komponenten der Clients, die ins Rechenzentrum verlagert werden, bleiben ausgeklammert.

Deshalb muss unbedingt die Backend-Komponente mit betrachtet werden. Im Rechenzentrum fallen auf jeden Fall folgende weitere Kosten an:

• direkte Kosten für Server-Hardware, Storage und Backup-Systeme;

• zusätzliche Kosten für Hardware;

• Lizenz- und Wartungskosten für Server-Software (Betriebssystem, Datenbank, Virtualisierungsschicht, Backup etc.);

• Kosten für Störungsbeseitigung im Rechenzentrum;

• Kosten für den Betrieb von Server, Storage und Backup;

• Kosten für das Hosting im Rechenzentrum (Strom, Klima, RZ-LAN etc.).

Gegebenenfalls kommen weitere Ausgaben hinzu, wenn beispielsweise das Rechenzentrum oder einzelne Standorte aufgrund der Virtualisierungslösung eine höhere Bandbreite für das WAN benötigen.

Alte Desktops kosten weiter Geld

Zwei Größen müssen zusätzlich betrachtet werden: die Kosten für die Beibehaltung der alten Desktop-Lösung (zum Beispiel für den regelmäßigen Austausch gegen neue Geräte) sowie die Projektkosten zur Einführung der Virtualisierungslösung. Erst wenn diese Kosten ermittelt und bewertet wurden, darf der Strich gezogen werden. Das Ergebnis ist unterschiedlich. Es kann von einer schnellen Amortisation bis zu der Erkenntnis reichen, dass sich eine virtualisierte Arbeitsplatzumgebung nicht lohnt.

Als weiteres Argument für die Einführung virtueller Desktops können Produktivitätsgewinne am Arbeitsplatz in die Wirtschaftlichkeitsberechnung einbezogen werden. Unter anderem kommt es auf folgende Faktoren an:

• Start- und Anmeldevorgang bei Arbeitsbeginn (Wie schnell ist der Anwender jeden Tag arbeitsfähig?);

• Bereitstellung neuer Arbeitsplatzsysteme oder Anwendungen und Profilwechsel (Wie schnell kann der Anwender danach wieder arbeiten?);

• Umzug einer Arbeitsplatzumgebung (Wann ist der Anwender an seinem neuen Arbeitsplatz arbeitsfähig?);

• Entstörung einer Arbeitsplatzumgebung (Wie schnell kann der Anwender seine Arbeit wieder aufnehmen?);

• Updates und Patches (Wartezeiten bei der Installation von Fehlerbehebungen oder Funktionserweiterungen).

Jenseits von Euro und Cent

Wesentlich komplexer wird die Wirtschaftlichkeitsberechnung für eine mögliche strategische Applikations- beziehungsweise Desktop-Virtualisierung. Also dann, wenn Virtualisierung als Brückentechnik zur Zentralisierung geschäftskritischer Applikatio-nen dienen soll.

Hier ergeben sich eventuell Vorteile durch die Entzerrung von Entwicklungszyklen und bei der Planung von Release-Containern. Mögliche Auslöser für solche Betrachtungen sind Anforderungen an die Unabhängigkeit der Endgeräte bei der Nutzung geschäftskritischer Anwendungen oder Stichtagsumstellungen bei zentralen Applikationen.

Die Wirtschaftlichkeitsbetrachtung ist allerdings nur einer der Faktoren, die bei der Entscheidung über die Einführung von Desktop-Virtualisierung eine Rolle spielen. Aspekte wie mehr Datensicherheit und -schutz sind gleichfalls beachtenswert. Dasselbe gilt für die höhere Flexibilität und Umsetzungsgeschwindigkeit in der IT durch die veränderten Rahmenbedingungen - sei es durch einen Wandel in den Geschäftsmodellen oder der Organisation.

Ebenso kann rein funktionaler Nutzen eine strategische Entscheidung beeinflussen. Deshalb ist es sinnvoll und notwendig, für jedes Einsatzszenario eine qualitative Nutzwertanalyse vorzunehmen.

ByoD weckt Ansprüche

Last, but not least sind gesellschaftliche Aspekte zu berücksichtigen. Über Verbreitung und Entwicklung privater Kommunikationstechniken und -infrastrukturen ist schon viel diskutiert worden. Auch das Stichwort "Bring your own Device" (ByoD) und die aus diesem Konzept resultierenden Ansprüche auf Mobilität und Flexibilität erregt die Gemüter. Aus diesen Entwicklungen ergeben sich Anforderungen an die Attraktivität von individualisierten Arbeitsplatzumgebungen. Desktop-Virtualisierungslösungen können helfen, solche Ansprüche zu erfüllen.

Desktop-Virtualisierung als Alternative muss für jedes Unternehmen und jedes Einsatzgebiet einzeln untersucht werden - unter Berücksichtigung der bestehenden Prozesse und technischen Voraussetzungen. Entscheidend ist, dass einer Prüfung der technischen Machbarkeit immer eine Analyse der Anforderungen vorausgeht. (pg)

Helge Krüger und Christoph Lüder sind Project Partner beziehungsweise Project Manager bei der Lexta Consultants Group in Berlin.