CW-Diskussion auf der Systems 2002 zum IT-Arbeitsmarkt

Die Talsohle ist noch nicht erreicht

25.10.2002
MÜNCHEN (iw) - Der IT-Jobmaschine ging schon vor einem Jahr der Treibstoff aus. Konkrete Prognosen, wann es besser wird, wagte keiner der Experten, die der Einladung des CW-Forums Jobs & Karriere zur Diskussion auf der Systems gefolgt waren. Gute Aussichten hätten lediglich die am besten qualifizierten Spezialisten.

"Wir erleben einen Professionalisierungsschub durch die Digitalisierung von Geschäftsprozessen. Hier entstehen jede Menge Jobchancen für Spezialisten", warb Jörg Menno Harms, Vizepräsident des Branchenverbands Informationswirtschaft, Telekommunikation und neue Medien e.V. (Bitkom). Allerdings ergänzte er: "Es wird schwer für Seiteneinsteiger, zumal traditionelle Tätigkeiten abgebaut werden."

Momentan arbeiten nur noch 790000 Beschäftigte in den Kernbereichen der IT, das entspricht gegenüber dem Vorjahr einem Rückgang von 3,4 Prozent. Gleichzeitig stieg die Zahl der arbeitslosen IT-Spezialisten drastisch an. Waren im Boomjahr 2000 lediglich 20000 IT-Profis in den Arbeitslosenstatistiken der Bundesanstalt für Arbeit (BA) registriert, wuchs die Zahl 2002 auf 66000. Harms versuchte die düstere Stimmung, die solche Fakten bei den zahlreich erschienenen Zuhörern im Job- und Karrierezentrum weckten, etwas aufzuhellen. Er verwies auf die insgesamt 1,3 Millionen Beschäftigten im weiteren IT-Umfeld, wobei die Nachfrage der Anwenderunternehmen nach qualifiziertem IT-Personal nicht so stark zurückgegangen sei: "Allerdings gibt es momentan auch keine stürmischen Einstellungen."

"Die Arbeitslosigkeit trifft derzeit Jung und Alt. Die Situation kann noch kritischer werden", konterte Wolfgang Müller, IT-Branchenexperte der IG Metall. "Wir haben die Talsohle noch nicht erreicht. Telekom und Hewlett-Packard haben erste Pläne für Entlassungen angekündigt, aber es sind noch keine Köpfe gerollt." Nach der Einschätzung des Gewerkschaftsmannes bieten Spezialkenntnisse keine Garantie, um sich gegen Arbeitslosigkeit zu wappnen. Der Kahlschlag in vielen Unternehmen treffe keineswegs nur Quereinsteiger oder Umschüler mit geringer Berufserfahrung.

Frank Mang von der Unternehmensberatung Accenture GmbH gab Müller in dieser Einschätzung Recht. Er gehe davon aus, dass auch in der IT-Branche Routinearbeiten, etwa bei der Standardprogrammierung, künftig stärker ins Ausland verlagert werden. "Unternehmen lassen in Spanien, Ungarn oder Indien programmieren. Sie profitieren von der vernetzten Gesellschaft und sparen dabei Geld", erläuterte Mang. Seiner Meinung nach folgt die IT-Industrie hier dem Beispiel anderer Unternehmen, die ihre Fertigung ins Ausland verlagern. "Ein Informatiker, der nur programmieren möchte, hat es schwer. ITler müssen auf höherwertige Tätigkeiten umsteigen, wenn sie erfolgreich sein wollen."

Für Max Cartellieri, Gründungsmitglied und Vorstand der Ciao.com AG, eines Verbraucherportals mit Sitz in München, ist Mangs Vision längst Realität. "16 unserer Mitarbeiter programmieren in Spanien, einige der besten Entwickler leben in Polen und arbeiten für uns als Freiberufler. Natürlich eignet sich nicht jede Tätigkeit für die Auslagerung." Vertrieb oder Management könne man nicht einfach ins Ausland verschieben, bei der Programmierung spare man dagegen deutlich an den Kosten.

Gestern noch Fachkräftemangel, heute stehen viele IT-Spezialisten auf der Straße. Wie kommt es zu einem solch radikalen Umschwung? Die starken Schwankungen beim Mitarbeiterbedarf schreibt Bitkom-Vorstand Harms der - wie er es ausdrückt - noch "unreifen Industrie" zu. "Fehler werden gemacht. Die Branche übertreibt gern", erklärte er fast entschuldigend. Für IG-Metall-Mann Müller könnte die Branchenkrise für die Unternehmen auch eine Chance darstellen, erwachsen zu werden. "Das Wachstum der vergangenen Jahre lässt sich nicht fortsetzen. Die IT-Branche sollte mit soliden Produkten und Dienstleistungen auf den Teppich kommen. Schließlich schafft es die Automobilbranche auch, mit wenig Wachstum ihr Beschäftigungsniveau zu halten. Weshalb also die IT-Branche nicht?" fragte Müller provozierend.

Arbeitsrecht behindert Aufschwung

Aufgabe von Bund und Ländern ist es laut Staatsminister Erwin Huber, die Aus- und Weiterbildungsbedingungen so weit zu verbessern, dass Absolventen wieder bessere Chancen in der IT-Industrie haben. Zwar gebe es für Beschäftigte in der Wirtschaft größere Risiken, aber auch vielfältigere Chancen. In Bayern erhöhte sich nach Angaben des Staatsministers die Zahl der Informatikstudienplätze in den letzten Jahren um 20 Prozent: "Wir wollen unser Angebot für die Erstausbildung konstant halten und hier eine verlässliche Entwicklung ermöglichen." Gleichzeitig beständen in der öffentlichen Verwaltung aufgrund von zahlreichen E-Government-Projekten eine hohe Nachfrage nach IT-Fachkräften und zahlreiche Beschäftigungsmöglichkeiten.

Bevor es zu einer größeren Beschäftigungswelle kommen werde, müssten sich aber die Rahmenbedingungen verbessern. Bitkom-Sprecher Harms sieht vor allem im deutschen Arbeitsrecht und dem Betriebsverfassungsgesetz Barrieren für die hiesige Wirtschaft und den Aufschwung am Arbeitsmarkt. "Die Gesetze aus den 60er Jahren sind mit vielen Ansprüchen versehen, die international nicht vermittelbar sind." Vor allem zahlreiche Dienstleistungsjobs sieht er durch die Gesetzeslage gefährdet, schon jetzt seien hier die meisten Jobs verloren gegangen. "Die Lohnnebenkosten sind zu hoch, da gebe ich Ihnen Recht", entgegnete Müller von der IG Metall. Allerdings steht das Arbeitsrecht für den Gewerkschafter nicht zur Disposition. "Die Unternehmen müssen sich entscheiden. Schon heute höhlen sie den Kündigungsschutz aus, wie man bei Siemens in der Hoffmannstraße sieht. Dort sollen 2300 hoch qualifizierte Mitarbeiter in eine Beschäftigungsgesellschaft wechseln." Solange einem Jobsuchenden das Stigma Arbeitslosigkeit anhafte und viele Personalabteilungen die Nase rümpften ob der Lücke im Lebenslauf, werde sich die Situation nicht bessern. Auch die Unternehmen müssten den Arbeitnehmern entgegenkommen.

Staatsminister Huber sprach sich ebenfalls für mehr Flexibilität beim Arbeitsrecht aus. "Die Flaschen trifft es zuerst": Mit diesem saloppen Spruch diskreditierte Huber in der letztjährigen Diskussionsrunde noch arbeitslose Menschen. In diesem Jahr hält er sich mit pauschalen Beschuldigungen zurück. Neben einer Lockerung des Arbeitsrechts fordert er mehr Teilzeit- und Zeitarbeitsverträge. "Ewigkeitsbeschäftigung gibt es nicht mehr", stimmt Jungunternehmer Cartellieri zu. Es sei dem Arbeitsmarkt zuträglich, wenn sich mehr IT-Profis als Ich-AG auf freiberuflicher Basis anböten.