Die stille Umverteilung der Überstunden

21.09.2001
Von Katja Müller
Starre Systeme zur Regelung der Arbeitszeit können den Erfolg eines IT-Unternehmens schmälern, das schnell und flexibel auf das Marktgeschehen reagieren muss. Auch für die Beschäftigten scheint sich die Situation durch vielschichtige Zeitmodelle zu verbessern. Doch der erhofften Erleichterung steht oft ein neuer Bürokratismus entgegen.

Ein Blick auf das benachbarte Unternehmen SAP, ließ die Personalabteilung der Software AG im vergangenen Jahr hellhörig werden: Wie lange mussten sie schon mit ansehen, dass die anfallenden Überstunden der Mitarbeiter die Ausmaße eines Jahresurlaubs annahmen, weil es an Regulierungs- und Kontrollmechanismen fehlte? Das Walldorfer Softwareunternehmen hatte bereits eine andere Gangart eingeschlagen. Zum einen gibt es keine Arbeitszeiterfassung, Mehrarbeit wird hier durch das normale Gehalt abgegolten. Zum anderen errichtete man den Mitarbeitern Langzeitkonten, so dass sie Teile der Bezüge in Stunden zurückrechnen lassen können und damit die Möglichkeit haben, für eine längere Auszeit zu sparen.

In der Personalabteilung der Software AG war man sich einig: Ein neues Arbeitszeitmodell musste erarbeitet werden, dass den Umgang mit der Ressource Zeit künftig erleichtert. Zunächst setzte man sich mit dem Beratungsunternehmen Dr. Hoff, Weidinger, Herrmann in Verbindung. Die Berliner Firma entwarf daraufhin für die Software AG ein Arbeitszeitkonzept, bestehend aus den Komponenten Gleitzeit- und Langzeitkonto, Zussatzzeitbudget, Entgeltumwandlung und Zeitwertpapier. „Wir haben versucht, der Komplexität durch eine Dichte an Regelungen gerecht zu werden“, sagt Bereichsleiter Human Resources, Christian Stukering, über das vielschichtige System, das auch schon seine ersten Kritiker gefunden hat. Sie bezeichnen das neue Modell als kompliziert und bürokratisch. Doch davon will Stukering nichts wissen: „Zwölf Seiten in einer Betriebsvereinbarung sind nicht übertrieben, wenn es darum geht, besser mit dieser wichtigen Ressource umzugehen.“

Allerdings steckt bei dem Konzept der Teufel im Detail. Zunächst einmal können Überstunden nur gemacht werden, wenn dies mit dem Chef vereinbart wurde. Ist dies der Fall, kann der Mitarbeiter die zusätzlich vereinbarten Stunden entweder auf dem Langzeitkonto parken oder sie sich auszahlen lassen. Dabei muss er sich genau über das Ausmaß der zusätzlichen Stunden im Klaren sein. Denn kurzfristige Mehrarbeit von maximal plus/minus 60 Stunden muss der Mitarbeiter in seinem Gleitzeitkonto festhalten, was darüber hinaus läuft, wird bei den täglichen Kontrollen gekappt. Stukering: „Es gibt keine Übertragung und keine Auszahlungen, auch dann nicht, wenn der Mitarbeiter sich schon fast bei 60 Stunden befindet.“

Damit absehbar längerfristige Einsätze wie Reisen von mindestens sechs Arbeitstagen nicht das Gleitzeitkonto belasten, werden diese mit einer Pauschale abgegolten. Um genügend Zeit für private Interessen wie Hausbau oder eine längere Auszeit reservieren zu können, haben die Mitarbeiter ähnlich wie ihre Kollegen von SAP die Möglichkeit, in Teilzeit bei vollem Gehalt zu arbeiten, indem sie die fehlenden Wochenstunden vom Langzeitkonto zurückbuchen. Daneben besteht die Möglichkeit, in ein Zeitwertpapier zu investieren und sich das Guthaben in Zeiten geringerer Steuerlast auszahlen zu lassen, beispielsweise während der Teilzeit, Altersteilzeit oder in der Rente. Zusatzzeitbudgets ergänzen das System und tragen vor allem der schnell verändernden Geschäftslage Rechnung.

Auch für Andreas Hoff von der Arbeitszeitberatung geht es bei der Erstellung solcher Konzepte in erster Linie um mehr Schnelligkeit in den Firmen der Auftraggeber. „Mit starren Arbeitszeiten kann man auf dem heutigen Markt nicht mehr bestehen“, erklärt er. Auch die Beschäftigten hätten seiner Meinung nach immer differenziertere Ansprüche an die Arbeitszeit und benötigten daher breitgefächerte Systeme. Entscheidend sei bei diesen vergrößerten Handlungsspielräumen, dass die Mitarbeiter und Führungskräfte lernen damit umzugehen. So bietet beispielsweise die Software AG ihren Beschäftigten jährlich eintägige Trainings an, damit sie sich in dem neuen Arbeitszeitmodell zurechtfinden.

Dabei hat der Berater mit dem Thema Überstunden eigentlich „nicht mehr viel am Hut“ und hält auch die in Deutschland dazu geführte Debatte für überzogen. „Das Überstundenniveau ist relativ stabil und nicht mehr signifikant“, sagt Hoff. Das von ihm am meisten bevorzugte Modell ist jedoch die „Vertrauensarbeitszeit“, wie sie etwa zum Teil bei Standorten der Siemens AG praktiziert wird. Dort gibt es zwar prinzipiell eine 35- bis 40-Stunden-Woche beziehungsweise ein Jahresarbeitszeitlimit das erreicht werden muss. Aber innerhalb dieser Rahmenbedingungen fügte man die Vertrauensgleitzeit ein.

 Laut Unternehmenssprecherin Sabine Metzner können die Mitarbeiter so nach Jobanforderung und Neigung ihren Arbeitstag beginnen und beenden, sie müssen lediglich die geleisteten Stunden notieren. Anfallende Mehrarbeit, deren Volumen von den Führungskräften regelmäßig kontrolliert wird, versucht man später durch freie Tage auszugegleichen. Ein Jahr nach Einführung des Modells startete der Konzern eine Umfrage zur Akzeptanz der neuen Regelung: Etwa 90 Prozent der Beschäftigten waren damit zufrieden. Nicht ganz so einstimmig fiel das Urteil der IT-Mitarbeiter bei der Deutsche Bank über die Vertrauensarbeitszeitregelung aus.

1997 hatte das Unternehmen die Beschäftigten aufgefordert, ihre Arbeitszeit selbst aufzuschreiben. Bei der nach einem Jahr folgenden Meinungsumfrage, stimmte eine Hälfte der Belegschaft für das neue Konzept, die andere Hälfte wollte zurück zur alten Zeiterfassung. Auch Mitglieder des Betriebsrates plädierten für die ursprüngliche Methode mit der Begründung, dass ehrgeizige Mitarbeiter Stunden nicht aufschreiben oder der Nachweis geleisteter Arbeitszeit nicht allzu beweiskräftig gegenüber dem Vorgesetzten wäre.

„Betrügen kann man in jedem System, das Arbeitszeiten regelt“, konstatiert Karl-Heinz Pollack, Senior Adviser für den IT-Infrastrukturbereich der Bank, „aber wir wollen für Leistung bezahlen, nicht für Zeit“. Deshalb sind die nächsten Konzepte zur Flexibilisierung bereits in Planung. Der Forderung des Betriebsrates und der Personalabteilung, ein PC-gestütztes Erfassungssystem einzurichten, will er jedoch nicht nachkommen. Danach hätten deren Mitglieder jederzeit einen Überblick, wer wie lange gearbeitet hat, was der Vertrauensbasis erheblich schaden würde.

Für Wolfgang Müller von der IG-Metall haben die Modelle von Siemens und der Deutschen Bank allerdings nur wenig mit Vertrauen zu tun: „In anderen Bereichen, beispielsweise nach einer Auftragsvergabe, rechnet das Unternehmen doch auch die geleisteten Stunden ab. Nur bei den eigenen Beschäftigten macht man eine Ausnahme“, kritisiert der Gewerkschafter. Generell habe er nichts gegen die neuen Konzepte für Mehrarbeit. Sie müssen aber, egal ob mit oder ohne Zeiterfassung, weiterhin transparent bleiben und für Arbeitgeber und –nehmer gleichermaßen kontrollierbar. Die 151 Millionen Überstunden, die nach Angaben der Gewerkschaft im vergangenen Jahr in der Metallwirtschaft erarbeitet wurden, seien nur „die Spitze des Eisberges“.

Immer kompliziertere Zeiterfassungsmodelle könnten so zu Lasten einer notwendigen Transparenz gehen. Wichtig sei es deshalb, so Müller, dass Arbeitgeber fair mit ihren Beschäftigten umgehen, vor allem in Unternehmen wie SAP, in denen es keine Mitarbeitervertretung gibt.