Die Sieger: IT heiratet Fernsehen

24.10.2001

Die Sieger: IT heiratet Fernsehen Am Anfang war Georg Kofler. Der ehemalige Vorstandsvorsitzende von Pro Sieben hatte 1997 die Idee, das Nachrichtenangebot der zur Kirchgruppe gehörenden Privatsender Pro 7 und Kabel 1 merklich aufzupäppeln. Erst wollte man gemeinsame Sache mit n-tv machen. Als sich diese Gespräche zerschlugen, packten es die Münchner Fernsehleute selbst an. Herausgekommen sind dabei der Nachrichtensender N24 als Nachrichtenhändler, eine veritable Ehe zwischen Informationstechnologie und TV. Und der Preis „Anwender des Jahres 2001“.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Eigentlich ist diese Beschreibung noch ungenau: Denn mittlerweile bedient das Pro-7-Projekt mit dem etwas schwerfälligen Namen „Tapeless News Production mit dem Redaktionssystem Pronews“ nicht nur die Sender Pro 7 und Kabel 1. Vielmehr können der Nachrichtenkanal N24 selbst sowie die seit Oktober 2000 mit Pro 7, N24 und Kabel 1 fusionierte TV-Station SAT.1 und die hauseigene Nachrichtenagentur ddp, darüber hinaus die Videotext- und die Online-Redaktion, in dem Nachrichten-Pool aasen, den das Redaktionssystem Pronews zur Verfügung stellt. N24 fungiert in der ProSiebenSat.1 Media AG, die per Vorstandsbeschluss vom 7. September 2001 bald unter dem Dach der Kirch Media subsumiert sein wird, also nicht nur als Nachrichtensender. Vielmehr gibt N24 den Part des zentralen Nachrichtendienstleisters der gesamten Pro-7-Sat.1-Gruppe.

Insgesamt nutzen bundesweit inklusive der Lokalredaktionen rund 1000 Redakteure und Mitarbeiter in der Technik, dem Docu-Center und der Regie das Pronews-System, das die Kernprozesse des Nachrichten-Workflows der vier Sendeanstalten abbildet (siehe auch CW 34/00, Seite 43). Jeder Mitarbeiter vom Redakteur bis zum Moderator im Studio nutzt heute via PC das Redaktionssystem und hat so Zugriff auf Agenturmeldungen, Bildmaterial und ein Sendeplanungsmodul. Angebunden hieran ist ein Archivsystem, über das die Mitarbeiter des Dokumentationscenters zudem die Möglichkeit haben, das gesamte medienrelevante Material (Agentureinspielungen, also so genannte Feeds, Roh- und Archivmaterial) zu verwalten. In drei Minuten sendereif

Die gesamten Bilddaten können auch von den Redakteuren am PC-Arbeitsplatz recherchiert werden. Alle einkommenden Nachrichtenvideos lassen sich in niedriger Auflösung (Low Resolution), im MPEG-1-Format mit 1,5 Mbit, vorab am PC sichten. Solches vorgeprüfte Filmmaterial für Fernsehbeiträge reicht der Redakteur dann inklusive einer Rohschnittliste an einen nonlinearen Schnittplatz weiter, an dem die Sequenzen in hochauflösender Qualität (High Resolution) auf dem Produktions-Server nachbearbeitet werden. Im Prinzip kann bis drei Minuten vor einer Sendung ein kompletter Beitrag am Rechner sendereif konzipiert werden.

Pronews stellt das wesentliche Element eines Gesamtsystems dar, zu dem neben dem selbst entwickelten Archivsystem auch eine gleichfalls hausintern entwickelte Raum- und Sendeplanungs-Software gehören. Beide waren schon Jahre vor Pronews bei Kabel 1 und Pro 7 in Betrieb. Hinzu kommt ein zugekauftes Content Management System, das als Kommunikationscenter alle verfügbaren Daten recherchierbar und zum Bearbeiten vorhält. Schließlich müssen auch der Lizenzbereich, der Programmeinkauf und der Werbezeitenvermarktungsbereich und hier eine Fernsehplanungssoftware in das Gesamtsystem eingeklinkt werden. Mit anderen Worten: Das gesamte Wissen der Pro7-SAT.1-Gruppe ist per Mausklick verfügbar.

Mit dem IT-Projekt Pronews hat sich auch der Stellenwert der IT im Unternehmen entscheidend verändert, sagt Michael Hagemeyer, Direktor Technologie und Produktion der Pro Sieben Sat.1 Media AG: „Durch die jetzige Technologie haben wir unserer IT eine ganz andere Verantwortung und einen anderen Stellenwert im Unternehmen gesichert.“

Fragen bezüglich der Rentabilität des Systems kontert Hagemeyer mit einer einfachen Rechnung: „Vor Pronews hatten wir mit Kabel 1 und Pro 7 zwei Sender, die jeweils eine Viertelstunde pro Tag Nachrichten sendeten. Mit N24 kam nun ein 24-Stunden-Sender dazu.“ Während zweimal 15 Minuten Nachrichten – auf das gesamte Jahr gerechnet – Kosten von 60 Millionen Mark verursachten, veranschlagen die Fernseh-Controller heute für die gesamte Nachrichtensendezeit von 24,5 Stunden (N24, Pro 7 und Kabel 1) rund 110 Millionen Mark. „Das nenne ich Economies of scale“, sagt Hagemeyer.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Mit dem Projekt N24/Pronews hat das Medienkonglomerat zudem bewiesen, dass die Effizienz der Nachrichtenproduktion durch den Einsatz modernster Technik nachhaltig gesteigert werden kann, sagt Heiko Gerdes, der als Abteilungsleiter bei der Pro 7 Information Service GmbH für die Content-Management-Systeme zuständig ist. Mit Pronews habe das Unternehmen und im engeren Sinn die IT vor allem auch eine Rolle als Technologie- und insbesondere Inhaltevermittler – neudeutsch Enabler – eingenommen. Schließlich lasse sich das entwickelte Gesamtsystem auch für andere Bereiche nutzen. Nachrichten „in alle Himmelsrichtungen“

Hierbei denken die Verantwortlichen unter anderem an die Nachrichtenvermittlung und an WAP- oder Internet-Dienste. Denn eine tragende Säule des Gesamtsystems ist das Content-Management-System. Ziel war von Anfang an, dessen Inhalte, also sämtliche Nachrichtenströme, möglichst „in alle Himmelsrichtungen“ verbreiten zu können, etwa auch ins Internet. Bei solchen Überlegungen stellt sich allerdings zunächst immer die Frage, was man verbreiten will und was man – etwa wegen lizenzrechtlicher Abwägungen – überhaupt verbreiten darf.

Ein Beispiel für einen Tefloneffekt, den das Gesamtsystem auf verschiedenste Geschäftsprozesse im eigenen Haus besitzt, sind die Werbezeitvermarkter der Pro7/Sat.1-Gruppe: Sie versehen nämlich die TV-Werbeblöcke gerne mit einer gewissen Dramaturgie, die auf das jeweilige Sendeumfeld abgestimmt ist. Auch das können die Verantwortlichen am PC im Trockenen ausprobieren, indem sie auf den Werbe-Server zugreifen und sich dort im Vorfeld die Werbespots ansehen und diese nach Gusto zusammensortieren. So ist es etwa zukünftig auch möglich, Werbeblöcke noch während der Sendung über das Online-System einzubuchen.

Integrierender Faktor Pronews Die IT gewährleistet damit nicht nur ein hohes Maß an Verfügbarkeit, sie sorgt auch für bislang nicht mögliche neue, schnelle Geschäftsabläufe, die Eingriffe bis kurz vor einer TV-Ausstrahlung denkbar machen. Auch beim Kontakt zum Werbepartner wirkt sich das Redaktionssystem als integrierender Kern des Gesamtsystems nicht mehr nur auf die internen Abläufe, sondern auch auf die Geschäftsabwicklung mit externen Kunden aus.

Angesprochen auf die Effekte des Projekts, sagt Hagemeyer nicht ohne Selbstbewusstsein, mit dem in das Gesamtsystem eingebetteten Pronews-Redaktionssystem habe man „den Nachrichtenbetrieb einigermaßen revolutioniert“. Zudem sei die Konvergenz zwischen Broadcast und IT sehr gut gelungen. Ein immer präsentes Damoklesschwert für TV-Sender, das seine Bedrohung mit dem neuen System weitgehend verloren hat, dräut mit dem Problem der Verfügbarkeit. Hagemeyer macht an einem eingängigen Beispiel klar, was er meint: „Sie können sich vielleicht die zittrige Stimme der Moderatorin oder des Moderators vorstellen, wenn sie auf Sendung gehen sollen und auf ihrem Teleprompter ist noch kein Text sichtbar.“ Für den IT-Experten stellt sich das Problem lapidar als noch nicht abgeschlossener File-Transfer dar. Der Moderator aber schaut sprachlos angestrengt auf eine laufende Kamera und ein Millionenpublikum. Pronews soll diese größte anzunehmende

Unpässlichkeit verhindern helfen. Ursprünglich waren die Verantwortlichen des Fernsehsenders von der Zielvorstellung ausgegangen, zukünftig Nachrichtensendungen mit nur noch ganz kurzen Vorlaufzeiten realisieren zu können. Das anvisierte Redaktionssystem mußte sich also mit den bereits vorhandenen Archiv- und Planungssystemen koppeln lassen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Redaktionssysteme für Fernsehsender gab und gibt es natürlich. Allerdings besaß keine der unter die Lupe genommenen Lösungen offene Schnittstellen zu anderen Produkten. Da der ehemalige Vorstandsvorsitzende Kofler aber die Order ausgegeben hatte, nicht bloß eine Nachrichtenproduktion aus dem Boden zu stampfen, sondern einen kompletten Sender, musste ein neues Redaktionssystem die Schnittstellen der bereits vorhandenen Planungssysteme, also zum Sendeplanungssystem, zum Archivsystem und auch zu den Broadcast-Systemen von Agenturen, bedienen können. Diese gesamte Funktionalität hatte kein einziges Redaktionssystem und – so Hagemeyer – „dürfte außer unserem heute auch sonst keines besitzen“.

Pronews kommuniziert mit dem Newsroom- und den Broadcast-Systemen vor allem über die Protokolle MOS II (MOS = Media Object Server) sowie Internet Inter-ORB Protocol (IIOP). Zunächst einmal stellte sich heraus, dass die ursprünglich geplante Kommunikationsbandbreite in keiner Weise ausreichte, die Datenflüsse zu verarbeiten. Das komplexe Zusammenspiel von Broadcast und IT und die Anforderung, schnell und transparent über das Netzwerk auf Videomaterial zugreifen zu müssen, zeigte sehr schnell Engpässe in der seinerzeit eingesetzten Fast-Ethernet-Technologie auf. Durch den massiven Zugriff von Anwendern auf die SAN-Speicher und Video-Server kam es zudem zu Überlastungen der Router. Außerdem zeichnete sich schon vor drei Jahren in der Fernseh- und Medienwelt ein Wechsel von der Kreuzschienen- auf die ATM-Technik ab. Video- und Audio-Kreuzschienen stellen eine Technologie zur Verbindung mehrerer Studiokomplexe dar, mittels derer Bild- und Tonquellen verschiedener

Studios zu allen TV-Mitarbeitern geschaltet werden. Da sich ATM zudem auch in der IT-Welt durchzusetzen begann, war es nur logisch, einen ATM-Backbone mit ATM-Corebuildern, also Switches, in diesem Fall von 3Com, aufzubauen. Da 3Com diese Geräte jedoch nicht mehr anbietet, ersetzen die IT-TV-Leute diese gerade durch Netzkomponenten von Cisco. Die Server in diesem ATM-Netz verbanden die IT-Experten von Pro 7 mit zwei ATM-Ringen, die eine Durchsatzrate von 622 Megabit pro Sekunde besitzen. Alle Segmente, die einen Zugriff auf die Video-Server und Speichermedien benötigten, wurden über virtuelle LANs direkt in die Servertopologien eingehängt.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Um dieses komplexe Netzwerkumfeld verwalten zu können, mussten neue Werkzeuge und Methoden zur Überwachung der Systeme und Netze eingeführt werden. Zur Kontrolle der Server setzt Pro 7 IBMs System-Management-Software „Tivoli“ ein. Seine Netze überwacht der Fernsehsender mit Hewlett-Packards (HPs) „Openview“. Außerdem nutzen die IT-Experten von Pro 7 das Performance- und Ressourcen-Überwachungswerkzeug „Network Health“ von Concord

. Mehrere Server, die in diesem Technologieverbund als geschäftskritisch eingeschätzt wurden, legte man als Cluster aus. Maschinen, auf denen nicht Cluster-fähige Applikationen laufen, sichert man via Rechner ab, die im Betrieb zugeschaltet werden können (Hot Standby). Die Server stammen von Sun Microsystems.

Speicher ohne EndeFür die Archivierung der Daten nutzt Pro 7 ein hierarchisches Speicher-Management-System (HSM). Zur Lagerung der Online-Daten für das Video- und Audioarchiv kommen ein EMC-2-System mit 700 GB Fassungsvermögen sowie zwei Datamouver von EMC als NAS-Rechner zum Einsatz. Die Archivierung auf Band musste dabei mehreren Besonderheiten genügen: Für die Speicherung des niedrig auflösenden (Low-Res) Videomaterials müssen die Bandgeräte kürzeste Zugriffszeiten gewährleisten, die dem auf das Material zugreifenden Redakteur eine schnelle Einspielung garantieren. Das Videomaterial wird in zwei „Eagle“-Bandarchiven verwaltet. Das Videoarchiv umfasst 200 Bänder à 20 GB Speicherkapazität, das Audio-Archiv ist halb so groß. Ein Robotersystem bedient dabei zwei Storagetek-Laufwerke. Um die Massenspeicher weiter abzusichern, stellten die IT-Projektverantwortlichen ein redundant ausgelegtes Robotersystem von Adic/Grau auf.

Während des Projektes beschlossen die Verantwortlichen zudem den Wechsel von einer ursprünglich vorgesehenen Client-Server-Programmierung auf ein Dreischichten-Modell. Hierzu setzte man auf die Middleware „Corba“ beziehungsweise die Corba-Implementierung „Visibroker“ von Borland. Der Broker verteilt dabei die aktuell eingehenden Nachrichtendaten in Bild und Text an die zuständigen Redakteure und sorgt dafür, dass der fertige Beitrag in den Sendeplan gelangt.

Auch die Softwareentwicklung musste völlig neu konzipiert werden. Um nämlich die verschiedenen Abteilungen und deren Planungs-, Content-Management- und Management-Informations-Systeme aneinander anzudocken und mit dem Redaktionssystem Pronews kommunizieren zu lassen, mussten die IT-Verantwortlichen bei der Entwicklung dafür sorgen, dass keine Schnittstellen-Probleme entstehen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Um diese Schwierigkeit zu umgehen, wurde die Softwareentwicklung durchgängig auf der „Rational Enterprise Suite“, einem Case-Tool von Rational, aufgesetzt. Das Redaktionssystem Pronews war dabei das erste Projekt, in dem diese Werkzeugbox eingesetzt wurde. Hierbei praktizierten die Fernsehleute auch erstmals die Philosophie des Rational Unified Process. Durch den Einsatz dieser Tools konnten die Entwicklungszeiten erheblich verkürzt werden. Erstes Ergebnis: Die Dokumentation ist mittlerweile einheitlich gestaltet. Als am 24. Januar 2000 – damals noch ohne SAT.1 – der Nachrichtensender N24 „on air“ ging, also den Sendebetrieb aufnahm, musste gleichzeitig das Redaktionssystem Pronews seine Feuertaufe bestehen. Der bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber schaute erwartungsfroh, der gesamte Vorstand von Pro 7 eiferte ihm nach, die Politprominenz nicht nur Bayerns wartete gespannt, und die bundesrepublikanische Medienwelt lauerte. Hagemeyer kann sich noch

genau an diesen Moment erinnern und seine schlimmsten Albträume: „Sie drücken auf den Startknopf... und nichts passiert. Eine unglaubliche Vorstellung!“ Es ist dann doch etwas passiert. Und seit dem 24. Januar 2000 jeden Tag immer wieder. Bei Pro 7. Bei Kabel 1. Bei N24 – und bald auch bei SAT.1.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Mit dem Redaktionssystem Pronews können bis drei Minuten vor der Ausstrahlung Nachrichtenbeiträge sendereif gemacht werden. Dafür sorgen Sandra Heinemann (Projektleiterin Dokumentationscenter) und Heiko Gerdes (Abteilungsleitung Content Management Systems)

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