Stationärer Handel oder Online-Handel

Die schöne neue Online-Welt und das schlechte Gewissen

12.09.2014
Dass es nicht in Ordnung ist, sich erst im Laden beraten zu lassen, um die Schuhe dann billig im Internet zu bestellen (Stichwort: "Beratungsdiebstahl"), leuchtet ein. Aber auch der Online-Kunde wird vor knifflige Gewissensfragen gestellt.

Die schöne neue Online-Welt stürzt so manchen Nutzer in Gewissenskonflikte: Darf ich fairen Kaffee kaufen und gleichzeitig beim umstrittenen Versandhändler Schuhe bestellen? Darf ich die Taxi-Alternative Uber nutzen, weil sie billiger ist? Am Ende läuft es auf die Frage hinaus: Wem schade ich, wenn ich diese Dienste nutze? Oder ist es im Internet-Zeitalter gar nicht mehr zeitgemäß, sich darüber Gedanken zu machen?

Die Versuchung der schnellen Klicks ist oft übermächtig: Immer häufiger lassen sich Verbraucher im stationären Fachhandel beraten und kaufen dann billiger im Internet.
Die Versuchung der schnellen Klicks ist oft übermächtig: Immer häufiger lassen sich Verbraucher im stationären Fachhandel beraten und kaufen dann billiger im Internet.
Foto: oneblink1/Fotolia

Grundsätzlich verteufeln kann man den Online-Handel sicher nicht. "Das Internet ist eine neue Technologie, die alte Technologien ablöst", sagt der Ethikprofessor Kurt Bayertz von der Universität Münster. "Das war schon so, als das Auto aufkam und alle Sattler dadurch arbeitslos wurden." Bitter für diejenigen, die es trifft – aber es entstehen ja auch neue Jobs.

Eine reine Einstellungssache

Dass Amazon vielen schönen kleinen Buchhandlungen das Wasser abgräbt, ist an sich wohl auch noch nicht verwerflich. "Die Frage, ob Buchhandlungen sein sollen oder nicht, ist keine primär ethische, sondern eine kulturelle Frage", sagt der Berliner Ethiker Prof. Markus Tiedemann. So gibt es auch Menschen, die gar nicht gern ins Buchgeschäft gehen, weil sie nicht gleich von einem Verkäufer angesprochen werden möchten. "Wenn Sie zu dem Schluss kommen: Ja, ich wünsche mir eine rein digital kommunizierende und sich organisierende Gesellschaft, dann können Sie guten Gewissens alles übers Internet bestellen", meint Tiedemann. Reine Einstellungssache.

Wie verhält es sich aber mit folgendem Fall: Man probiert im Laden Joggingschuhe an, lässt sich beraten – und bestellt dann billig im Internet. Auch bekannt als "Bertungsdiebstahl". Dass das nicht fair ist, sagt einem schon das Gefühl. Man muss da noch nicht mal mit der Moral kommen. "Langfristig schade ich mir damit selbst", erläutert Bayertz. "Denn auf Dauer werden diese Läden dadurch natürlich verschwinden, und dann gibt's niemanden mehr, der mich berät. Sondern nur noch das Internet."

Die Regeln der Fairness

Wenn über Großhändler wie Amazon oder Zalando diskutiert wird, geht es oft um die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten. Muss man sich dafür interessieren? Viele Ethiker halten es da mit dem US-Philosophen John Rawls (1921-2002). Rawls erfand ein in Fachkreisen berühmtes Gedankenexperiment, das er den "veil of ignorance" – den Schleier des Unwissens – nannte. Das Experiment geht so: Man stelle sich vor, wir würden morgen alle neu geboren und wüssten nicht, wer wir in der kommenden Gesellschaft sein werden. Wir wissen nicht, wieviel Geld oder welche Ausbildung wir haben werden. Und jetzt dürfen wir aber die Regeln der Gesellschaft aufstellen.

"Da würden wir wahrscheinlich alle dazu tendieren, bestimmte Regeln einzuführen, schon deshalb, um uns selbst zu schützen", sagt Tiedemann. Schließlich wissen wir ja nicht, ob wir nicht selbst der Magazin-Arbeiter oder der Paketbote sein werden. "Rawls nennt das 'die Regeln der Fairness'. Und da gibt es dann einige Dinge, die ganz eindeutig verboten sind, nämlich zum Beispiel, jemanden auszubeuten. Da kommen wir relativ schnell zu Ergebnissen."

Amazon und Uber

Für den Wirtschaftsethiker Prof. Klaus Peter Rippe aus Karlsruhe wiederum sind es nicht so sehr die Arbeitsbedingungen der Beschäftigen, deretwegen er nach Möglichkeit nicht bei Amazon kauft, sondern die Marktmacht des Konzerns. "Bei Amazon ist für mich Punkt 1, dass sie wirklich versuchen, ihre Marktmacht so zu nutzen, dass es Wettbewerb verhindert", sagt der Wissenschaftler.

Rippe meint, dass man jeweils sehr genau hinschauen muss. In der Diskussion um die Taxi-Alternative Uber stehe zum Beispiel nicht das moralische Verhalten des Einzelnen im Fokus: "Da haben wir Regelungsbedarf. Da ist die Frage: Wo beginnt das Gewerbe? Wann ist man selbstständig und ab wann wird man ausgebeutet als Selbstständiger? Da müssen wir einfach eine Regelung finden."

Nun sieht es in der Praxis so aus, dass die Versuchung des schnellen Klicks oft übermächtig ist. Rippe geht es da nicht anders. "Es gelingt mir nicht immer, meine Vorsätze einzuhalten", gibt er zu. Natürlich müsse jeder für sich selbst entscheiden, wie weit er bei der Umsetzung seiner Prinzipien in der Praxis gehen wolle: "Es ist für manche Leute ja auch eine Sache des Geldes."

Bayertz sieht es ähnlich: "Wenn man für einen Geburtstag ganz kurzfristig was besorgen muss und das geht nur über einen Anbieter, der nicht ganz koscher ist, okay, dann macht man das, und dann muss man, glaub' ich, auch kein schlechtes Gewissen haben. Aber dass man im Rahmen seiner Möglichkeiten dazu beiträgt, Ausbeutung und Unfairness zu minimieren, das ist etwas, was man von jedem erwarten kann." (dpa/tö)