Die Rolle der EDV in Europa nach 1992

20.10.1989

Peter Pagé, Mitglied des Vorstands der Software AG

Wenn man den Auguren der Presse und des Marktgeschehens glaubt, erscheint das Schicksal für Europa nach 1992 bestimmt: Wir werden in einem Großwirtschaftsraum leben, der geprägt ist von erbittertem Kampf um Marktanteile, Verdrängungswettbewerb und Firmenübernahmen im großen Stil. Der Datenverarbeitung käme in diesem Prozeß die Rolle zu, die Vereinheitlichung und Zentralisierung der Firmenstrukturen zu unterstützen und über ausgefeilte Berichtsstrukturen die entstehenden großen Konzerne für das Management steuerbar zu machen.

Grundsätzlich kann die Datenverarbeitung technologisch jede Rolle spielen, die man ihr zuweist. Wichtig wird sein, ihr eine Rolle auch wirklich zuzuweisen, denn sonst besteht die Gefahr, daß sie sich selbst eine solche sucht und ein Eigenleben entfaltet.

Genauso, wie wir bezüglich des Europa nach 1992 fragen müssen, was wir wollen - und nicht, was andere mit uns machen wollen -, müssen wir das auch im Bereich der EDV innerhalb unserer Unternehmen tun.

Auch hier wird es wichtig sein, daß wir uns nicht von eingebildeten oder realen Zwängen gängeln lassen, sondern daß wir die Initiative behalten beziehungsweise ergreifen, um unsere Geschicke als Agierende und nicht als Reagierende bestimmen zu können.

Dieser Ansatz verlangt von uns genügend Individualismus und persönliche Risikobereitschaft, die uns in Europa einmal eigen war und ausgezeichnet hat.

Wir finden heute in vielen Unternehmen die Situation, daß die EDV mit ihrer Technologie den Ton angibt, anstatt daß das Unternehmen der EDV vorgibt, zur Erreichung welcher Ziele die EDV wie eingesetzt werden soll.

Um die Abhängigkeit von einem Lieferanten in der EDV zu mildern, ist die Initiative unter der Überschrift "Unix" - einem herstellerunabhängigen Betriebssystem - für den Anwender zu begrüßen. Sie wird nach 1992 wesentliche Bedeutung in der kommerziellen EDV gewinnen. Diese Initiative wird von der EG im Sinne Europas unterstützt und gefördert.

In einem Europa der Vielfältigkeit werden wir solche Plattformen benötigen, die es erlauben, aus Alternativen zu wählen, ohne daß die Investition des Kunden in seine Anwendungen in Frage gestellt werden muß.

Zwar wird sich der Anwender in der EDV zu einem "mündigen Verbraucher" entwickeln, das heißt genug Wissen über dieses Gebiet besitzen müssen, um ein Angebot sachlich fundiert beurteilen zu können. Dies wird jedoch unumgänglich sein, wenn er seine "Souveränität" behalten will und nicht in die Alternative zu Vielfältigkeit, das heißt "Einfältigkeit" verfallen will.

Es ist in diesem Zusammenhang durchaus erwähnenswert, daß die EDV genauso ein Produktionsfaktor ist wie die eigene Fertigung beziehungsweise andere, die Leistung eines Unternehmens bestimmende Bereiche.

Ebenso wie es für diese Bereiche selbstverständlich ist, daß die strategischen Ansätze von der Unternehmensleitung definiert und Entscheidungen für beziehungsweise gegen eine bestimmte Lösung auf der Basis meßbarer Fakten im Interesse des eigenen Unternehmens gefällt werden, muß dies auch für die unternehmenseigene EDV als strategischem Produktionsfaktor gelten.

Für den Einsatz der EDV als Produktionsfaktor muß diese von jedem mystischen Sonderstatus befreit und mit denselben Maßstäben wie andere Bereiche bemessen werden. Es müssen also mit heute verfügbaren Technologien, die eine Chance des kontinuierlichen Ausbaus für die Zukunft bieten, Lösungen für konkret anstehende Probleme erarbeitet werden, anstatt andauernd darüber zu reden, wie schön alles morgen werden wird.

Für Europa nach 1992 sind in der Tat im Bereich der EDV größere Aufgaben zu bewältigen, die heute angegangen werden müssen. Es ist durchaus sinnvoll, auch in der EDV einen Aufbruch in ein Europa neuer Dimensionen vorzübereiten und diesen Anlaß zu nutzen, um liebgewordene, eingetretene Pfade zu verlassen.

Daß mit Hilfe der EDV für ein Unternehmen wesentliche Vorteile im Wettbewerb erreicht werden können, soll anhand der nachfolgenden Aufzählung einiger Aufgabenstellungen verdeutlicht werden:

Verbesserung der internen Kommunikation, Zugriff auf DV-Anwendungen für den Außendienst, schnelle, detaillierte Auskunftsbereitschaft für Kunden/Lieferanten, Automation des Durchlaufs von Vorgängen, Automation der Kommunikation mit externen Partnern, Verkürzung des Durchlaufs von Aufträgen durch EDV-gestützte Administration und Fertigung, Reduzierung der Lagerbestände und damit geringere Kapitalbindung durch bessere Planung, bessere Beratung des Kunden auf Basis konsolidierter Daten, fundierte unternehmerische Entscheidungen durch direkten Zugriff auf verdichtete operationelle Daten, bessere Transparenz der Kosten-/Ertragsstruktur für einzelne Produkte beziehungsweise des ganzen Unternehmens etc.

Die aufgezählten Aufgabenstellungen können nur zum Teil durch Standard-Softwarepakete abgedeckt werden; zum größeren Teil erfordern sie die Schaffung eigener, spezieller Lösungen, deren effizienter und eleganter Ansatz dann den Wettbewerbsvorteil ausmacht. Wichtig zu deren Erreichung ist das gemeinsame Verständnis und die Kooperation zwischen EDV und Fachabteilung als Partner "desselben" Unternehmens.

Wichtig wird bei dem Aufbau der "eigenen" Anwendungen auch sein, daß das erarbeitete und zusammengetragene Wissen über Geschäftsabläufe nicht in unverständlichen Programmen verschwindet, sondern in einer für den Endbenutzer zugänglichen Form in einer "Entwicklungsdatenbank" (CASE-Tool) gespeichert ist und aktualisiert wird.

Was sind nun konkret die Anforderungen und Lösungsmöglichkeiten für die EDV in Europa nach 1992?

Was wir insgesamt erreichen müssen, ist eine Integration bei gleichzeitiger Wahrung von Individualität.

Innerhalb der Unternehmen sollten wir nicht zentralistisch eine Lösung vorschreiben und zu erzwingen versuchen, sondern uns darauf konzentrieren, Geschäftseinheiten klar zu strukturieren und gezielt mit einer kontrollierten Autonomie auszustatten.

Wichtig wird es sein, die Kommunikationsschnittstellen zwischen den einzelnen Geschäftseinheiten klar zu erkennen und dann entsprechend mit technischen Lösungen abzubilden. Wesentliche Voraussetzung für diesen Ansatz ist der Wunsch bei allen Beteiligten, mit einander arbeiten zu wollen.

Innerhalb dieses Rasters werden wir uns darauf einzurichten haben, daß wir auch weiterhin in einer heterogenen Umgebung leben und arbeiten; jedoch wird es mit einer klaren Definition der Schnittstellen möglich sein, eine weitergreifende Integration zu erreichen, als dies mit einem zentralistischen Ansatz möglich wäre. Es sei hier nur am Rande verwiesen auf das Konzept von EDI (Electronic Data Interchange), welches es ermöglicht, sogar die Kommunikation zwischen fremden Geschäftspartnern zu automatisieren und deren Geschäftsbeziehungen zu "integrieren".

Diese Technologie wird in Europa nach 1992 zur Verfügung stehen, wobei es im wesentlichen in der Initiative von Partnerunternehmen liegt, entsprechende Protokolle zu definieren und voranzutreiben. Es wird hier nichts nützen, auf "den Standard" zu warten, denn das Telefax zum Beispiel funktioniert heute nur, indem Unternehmen (hier japanische) die Initiative ergriffen und eine Lösung geschaffen haben, die normierenden Zwang entwickelt hat, weil sie funktionierte.

Innerhalb von Anwendungen werden wir offensichtlich eine Mehrsprachigkeit erreichen, wobei die Technologie für jeden Benutzer das Arbeiten in seiner eigenen Sprache erlauben sollte.

Für die Erstellung von Anwendungssystemen wird es notwendig sein, daß wir uns auf der Basis eirier leistungsfähigen, benutzerorientierten Technologie, die die technische Komplexität der DV reduziert, auf die Analyse und Gestaltung von Geschäftsabläufen konzentrieren können und daß das erlangte Wissen bewahrt und gepflegt werden kann.

Gleichzeitig brauchen wir eine "Öffnung" der Datenverarbeitung zum eigenen Unternehmen hin, so daß der wahre Bedarf in einer Kooperation erkannt werden kann.

In diesem Zusammenhang ist es interessant, daß die Firma Cadbury in den USA ihren neuen Mitarbeitern im EDV-Bereich für die ersten zwei Monate ihrer Tätigkeit untersagt, die Worte "Personal Computer", "Mainframe" und "Software", etc. zu benutzen und sie statt dessen in die Fabrik schickt, wo sie lernen, wie die eigene Produktion funktioniert. Was damit erreicht wird, ist eine Identifikation und Beschäftigung der DV-Mitarbeiter mit den wahren Tätigkeiten des Unternehmens.

Zusammenfassend soll gesagt werden, daß die Rolle der EDV in Europa nach 1992 nicht bestimmt wird von Enterprise System Architecture, Künstlicher Intelligenz, Neuronalen Netzen, Megabytes, Megaflips, etc. - dies alles wird es geben.

Worum es auch hier im wesentlichen geht, ist die Gewinnung eines Abstandes von der vordergründigen Technologie und eine Definition von Zielen, die das Unternehmen erreichen will, und für die dann im zweiten Schritt passende Technologien zur Implementierung ausgewählt werden müssen.