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Die Realität hinter dem Web-Services-Hype

07.06.2002
Von Jost Hoppermann
MÜNCHEN (COMPUTERWOCHE) - Web-Services sind derzeit in der IT das beherrschende Thema. Viele Anwender sehen sich in der Zwickmühle: Sollen sie sofort auf den Zug aufspringen, um nicht zu spät zu kommen, oder lohnt es sich, abzuwarten, um aus den ersten Erfahrungen der Early Adopters zu lernen?

Hypes gab es in der IT-Geschichte immer wieder, imso etwa in den zurückliegenden fünfzehn bis zwanzig Jahren um Technologien wie CASE-Tools oder Client-Server-Computing, in neuerer Zeit um XML. Hersteller und IT-Fachleute tendieren in solchen Fällen dazu, bei Anwendung solcher Technologien sofortige revolutionäre Umwälzungen vorherzusagen. Aus der Marketing-Perspektive ist dies nachvollziehbar, da ein Status quo keine Investitionsanreize für potenzielle Kunden liefert und der Vermarktung neuer Technologien nicht förderlich ist. Die Anwender haben in solchen Situationen jedoch das Problem, erst einmal festzustellen, ob ein Investment in eine neue Technologie wirklichen Zusatznutzen schafft und sich tatsächlich rechnet. Hinzu kommt, dass erfahrungsgemäß in den meisten Fällen zwischen der Einführung einer neuen Technologie und ihrer ubiquitären, also breiten Anwendung eine Zeitspanne von mehreren Jahren liegt.

Der bisherige Hype sagt noch nichts über den Einsatz von Web-Services aus. Eine breite Verfügbarkeit lässt noch länger auf sich warten. (Quelle: Giga Information Group)

Bei den Web-Services ist heute die Situation recht ähnlich. Sie sind, getrieben durch einen Medien-Hype, in aller (IT-)Munde. Glaubt man ihren Befürwortern, so sind sie die Lösung für nahezu alle klassischen Probleme der IT. Tatsächlich weisen Web-Services auch in der Realität ein hohes Nutzenpotenzial auf. Dies setzt allerdings voraus, dass man sorgfältig differenziert, was mit Web-Services implementiert werden soll und wie viel geschäftlicher Nutzen im Einzelfall realisiert werden kann.

Bevor nun auf einige Aspekte des Web-Service-Hype, auf den Grad der aktuellen und künftigen Nutzung von Web-Services und auf einige potenzielle Anwendungsgebiete eingegangen wird, sollen zunächst die Begriffe Service und Web-Service als besondere Ausprägung eines Service definiert werden. Ein Service im Umfeld von Anwendungssoftware wird von der Giga Information Group als eine Einheit definiert, die geschäftlich-fachliche Funktionen angeboten. Dieser Service wird einem Nutzer über definierte und vereinbarte Schnittstellen und Transportmechanismen von einem Service-Provider bereitgestellt. Die Schnittstelle kann selbstbeschreibend und dynamisch auffindbar sowie in einer anderen Umgebung als der Service-Nutzer gehostet sein. Weiterhin werden Services oft lediglich ein Zugang zu existierenden Anwendungssystemen sein.

Ein Web-Service ist eine spezifische Implementierung des beschriebenen Service-Konzepts, die unter anderem das Simple Object Access Protocol (Soap) nutzt. Soap-Nachrichten können beispielsweise über Internet-Protokolle wie HTTP oder SMTP verschickt werden. Unterhalb von Soap ist auch der Einsatz anderer Protokolle oder gar der von Werkzeugen wie Message-orientierter Middleware möglich. Welche Funktionen eine Web-Service-Schnittstelle bereitstellt, wird durch die Web-Services Description Language (WSDL) beschrieben. Sie stellt eine besondere Ausprägung eines XML-Dokuments dar. Soll ein Web Service registriert werden und dynamisch auffindbar sein, so wird dies über das Universal Description, Discovery and Integration (UDDI) Interface geschehen.

Die Verbreitung von Web-Services wird sich noch eine Weile hinziehen. Derzeit ist sie durch die frühen Anwender, die "Early Adopters", getrieben. Den Beginn der Phase der breiten Nutzung im unternehmensinternen Bereich erwartet Giga frühestens für Anfang 2003. Was den Einsatz im B-to-B-Bereich zwischen Unternehmen betrifft, ist mit einer Verschiebung um mehrere Jahre zu rechnen.

Der Hype muss berücksichtigt werden

Viele der heute laufenden oder bereits abgeschlossenen Web-Service-Projekte dienen der internen Anwendungs-Integration. Eine andere Gruppe von Projekten versucht, neue IT-Dienstleistungen mit Hilfe von Web-Services zu kreieren oder vorhandene Produkte - etwa die Zahlungsverkehrsprodukte einer Bank - auf eine neue technische Basis zu stellen, um so neues Know-how zu gewinnen. Firmen, die später auf den Zug auspringen, können von den Erfahrungen dieser Early Adopters profitieren. Wenn für ein Unternehmen nicht primär der Erfahrungsgewinn im Vordergrund steht, sollte ein Business Case für Web-Services eher noch konkreter und überzeugender sein als bei vielen anderen Technologien. Nach Einschätzung von Giga befindet sich die Hype-Kurve der Web-Services nahe ihres Höhepunktes, und das dürfte noch eine Weile so bleiben. Dieser Höhenflug muss bei der Entscheidungsfindung identifiziert und berücksichtigt werden, um zu einer realistischen Einschätzung zu

gelangen.

Beispielhaft sollen deshalb die zwei folgenden geläufigen Hype-Thesen erörtert werden:

Web-Services sind eine revolutionäre und letztendlich dominierende Technologie, die alles andere hinwegfegt, einschließlich der neuesten Generation von Komponententechnologie.

Web-Services werden die einzige Schnittstelle zu allen Anwendungen sein.

Tatsache ist, dass Web-Services auf ein Set von Technologien zurückgeführt werden können, die bereits existierten, bevor sie unter dem Begriff Web-Services zusammengeführt wurden. Allein schon aus diesem Grund sind Web-Services eher evolutionär denn revolutionär. Auch die verschiedenen Ansätze Web-Service-orientierter Anwendungssysteme belegen den Charakter einer schrittweisen Entwicklung. Web-Services ermöglichen den Zugriff auf die unterschiedlichsten Anwendungssysteme wie Java/J2EE, Microsoft Visual Basic, C++, C# und auch 3GL und 4GL.

Kommentar von CW-Redakteur Wolfgang Miedl

Auf den Nutzwert kommt es an: Web-Services sind derzeit zweifellos das dominierende Thema in der IT-Branche. Auch wenn noch einige Zeit vergehen wird, bis sich die neue Technik etabliert hat, so deutet die breite Unterstützung in der Industrie darauf hin, dass im Softwaresektor ein Paradigmenwechsel ansteht. Noch befindet sich die von vielen Experten ausgerufene Ära der Web-Services aber im Anfangsstadium. Der allgemeine Hype hat immerhin dafür gesorgt, dass praktisch jeder Anbieter auf den Zug aufgesprungen ist und die volle Unterstützung der neuen Standards gelobt. Anders als bei früheren Entwickungen war es im Fall der Web-Services jedoch relativ einfach, einen Konsens zu finden, dem sich selbst rivalisierende Firmen wie Microsoft, IBM oder Sun

anschlossen.

All der Trubel um die neue Technik sorgt aber auch für Verunsicherung bei den Anwendern. Denn für Unternehmen steht nicht in erster Linie die Technik, sondern deren Nutzwert im Vordergrund. Und der ist bei den Web-Services - wie bei anderen Techniken - nicht auf Anhieb zu erkennen. Daher sind zunächst viele Dinge im Vorfeld zu klären: Bringen Web-Services Kostenvorteile? Ermöglichen sie neue Geschäftsmodelle? Wo gibt es noch Unzulänglichkeiten, die erst ausgemerzt werden müssen? Nicht zu unterschätzen sind derzeit auch noch die Lücken bei den Web-Service-Standards. Gerade beim sensiblen Thema Sicherheit und bei Protokollspezifikationen besteht noch Nachholbedarf.

Einig sind sich die Experten, dass sich eine Auseinandersetzung mit dem Thema lohnt. Early Adopters gehen dabei gewisse Risiken ein, weil es noch kaum Installationen gibt. Andererseits können sie bei einem positiven Verlauf als Erste die Vorteile ausschöpfen. Weniger risikofreudige Anwender müssen aber nicht in Torschlusspanik verfallen. Wer in nächster Zeit das Thema aufmerksam verfolgt, wird die Technologie bei Bedarf zielgerichteter einsetzen können und profitiert von den bis dahin gemachten Erfahrungen.

Services und Komponenten

Bei der Hype-Diskussion muss außerdem zwischen Service und Komponente unterschieden werden. Ein Service kann eine zusätzliche Schnittstelle zu einer Komponente sein. In diesem Fall können Komponente und Service als semantisch weitgehend äquivalent betrachtet werden. Allerdings wäre es der Sache nicht dienlich, Services generell aus dieser Perspektive zu betrachten. Es muss auch differenziert werden, welche Art von Schnittstellen mit Web-Services bereitgestellt werden und wie granular diese Schnittstellen sein werden. Den Marketing-Aussagen von Herstellern zufolge kann mit nahezu jeder Komponente ein Web-Service realisiert werden. Dies ist technisch betrachtet richtig. Würde man jedoch alle feingranularen Komponenten einfach über das Vehikel Web-Services auf die jeweiligen internen und externen Partner "loslassen", dann wäre die IT-Welt unnötigerweise ein noch komplizierterer Ort, als sie es ohnehin schon ist. Die meisten Unternehmen wären damit

überfordert: Abgesehen davon, dass ein so feingranularer Namensraum kaum verwaltbar ist, wäre dieser für die Entwickler des jeweiligen Partnerunternehmens inhaltlich nur schwer nachvollziehbar.

Ein wirklicher Nutzen von Web-Services ist nur dann gegeben, wenn die Schnittstellen und die resultierenden Interaktionen für den Servicebenutzer bequem und angenehm benutzbar sind. Zudem müssen sich die bereitgestellten Dienstleistungen so weit wie möglich an die spezifischen fachlichen Anforderungen des Servicebenutzers annähern. Somit stellen Web-Services eher den Leim zwischen verschiedenen Technologien dar als eine Revolution, die alles andere hinwegfegt und die IT-Landschaft dominiert.

Interne und externe Web-Services

Ganz ähnlich wird es sich mit Web-Services-Schnittstellen verhalten. Nach Ansicht von Giga ist die Wahrscheinlichkeit, dass Web-Services einmal die einzige Schnittstelle für alle Anwendungen sein werden, relativ gering. Hierfür gibt es eine ganze Reihe von Gründen. Viele der heute in der Planung befindlichen oder bereits realisierten Projekte zielen auf die unternehmensinterne, anwendungsintegrierende Nutzung von Web-Services ab. Mehr als die Hälfte der aktuellen Einsatzfälle von Web-Services treten im internen Bereich auf. Oft ist eine externe Nutzung geplant, sobald Einschränkungen und Bedenken - etwa in Bezug auf Sicherheit und Zuverlässigkeit behoben sind. Allerdings ist nicht zu erwarten, dass sich trotz aktueller Ansätze wie dem von IBM und Microsoft getragenen WS-Security-Vorschlag die heute noch vorhandenen Lücken in den Standards und Quasi-Standards zeitnah schließen werden.

Neben der unternehmensinternen Integration von Anwendungen werden Web-Services auch im B-to-B-Bereich zwischen Handelspartnern eingesetzt, die bereits zuvor in geschäftlichen Beziehungen standen und so ein Vertrauensverhältnis entwickelt haben. Solche Unternehmen beabsichtigen zurzeit vielfach nicht, ihre Web-Services zu registrieren und somit dynamisch auffindbar zu machen. Viele dieser Unternehmen haben sich mit ihren jeweiligen Partnern auf individuelle Methoden des Informationsaustausches bei der Servicenutzung verständigt. Angesichts des noch vorherrschenden Mangels an verabschiedeten Standards mag ein solcher Ansatz für die Nutzung von Web-Services im Internet tatsächlich notwendig sein. Neben solchen frühen Implementierungen, die lediglich den Namen "Web-Service" tragen, existieren auch mehr oder weniger vollständige Implementierungen. Von Web-Services als der einzigen Schnittstelle kann vor diesem Hintergrund allerdings nicht gesprochen werden.

Nach Schätzungen von Giga werden Web-Services im B-to-B-Bereich noch eine Reihe von Jahren nur eine untergeordnetete Rolle spielen. Ein Grund dafür sind die vielen gut funktionierenden vorhandenen Schnittstellen, die man ohne sinnvollen Business Case nur in wenigen Fällen ersetzen wird. Weitere Ursachen sind auch unterschiedliche fachliche und technische Anforderungen bei der internen und externen (B-to-B-) Nutzung sowie Probleme bei der Umrüstung bestehender Anwendungen für das Zusammenspiel mit Web-Services. Trotzdem ist davon auszugehen, dass sich der Schwerpunkt einiger B-to-B-Aktivitäten in den nächsten zwei Jahren in Richtung Web-Services verlagern wird.

Vor allem Service-Provider im Bereich Telekommunikation, Finanzdienstleistung und Reise sind dabei, den Nutzen von Web-Services für ihre Angebote zu eruieren. Giga erwartet, dass bis Ende dieses Jahres eine kleinere Anzahl veröffentlichter Services zur Verfügung stehen wird. Die bereits existierenden Web-Services sind in vielen Fällen umgerüstete, schon vorher vorhandene Services. Die Entwicklung dürfte hier nur langsam vonstatten gehen. Auch in zwei Jahren werden Web-Services lediglich einen kleinen Prozentsatz der gesamten B-to-B-Schnittstellen darstellen - vermutlich weniger als zehn Prozent. Allerdings wird es letztendlich eine Art Netzwerkeffekt geben, durch den Web-Services als weithin genutzte Technologie zusätzliche Attraktivität gewinnen - und dieser Netzwerkeffekt kann in einigen Industrien schneller zu Konzentrationen führen als in anderen.

Micro-ASP und Micro-Outsourcing

Dass Web-Services einmal die einzige Schnittstelle darstellen werden, ist dennoch kaum wahrscheinlich: Wenn sie irgendwann einmal in der Lage sind, eine dominante Rolle zu übernehmen, dann könnte die nächste Technologiewelle schon längst damit begonnen haben, Web-Services abzulösen.

Weitere Perspektiven öffnen sich durch die Nutzung von Web-Services über externe Service-Provider, die als Micro-ASP auftreten oder Micro-Outsourcing anbieten können. Andere Nutzungsmöglichkeiten ergeben sich zum Beispiel für Outsourcing- oder auch Hosting-Unternehmen, die Web-Services als definierte Schnittstelle zu ihren Kunden verwenden.

Trotz der diskutierten Einschränkungen und noch existierenden Probleme besitzen Web-Services für Anwenderunternehmen ein großes Potenzial. Beispiele von Early Adoptern aus Branchen wie der Finanzdienstleistung sowie der Reise- oder Telekommunikationsindustrie zeigen, dass Web-Services Integrationsprobleme in den Griff bekamen, für die vorher nur weniger effiziente Lösungen oder gar keine vorhanden waren. Auch konnten mit Web-Services neue - vor allem nicht-materielle - Produkte und Dienstleistungen schneller und einfacher bereitgestellt werden als früher.

Konzeptionelle Vorarbeit

Für Unternehmen empfiehlt sich ein eher vorsichtiger Umgang mit dieser neuen Technologie, denn derartiges sollte nicht ohne einen soliden Business Case eingeführt werden. Firmen, die Aussicht auf neue geschäftliche Möglichkeiten haben, sind gut beraten, mit Web-Services zu experimentieren, wobei zentrale B-to-B-Prozesse davon aber ausgenommen bleiben sollten. Vor allem externe Service-Anbieter können Web-Services in klar begrenzten Bereichen produktiv nutzen. Zu berücksichtigen sind dabei die aktuell noch vorhandenen Einschränkungen bezüglich Sicherheit und Transaktionen. Während bei der Entscheidungsfindung zunächst ein einfacher Kosten/Nutzen-basierender Business Case zugrunde gelegt werden kann, sollten bei einer späteren unternehmensweiten Betrachtung auch die Faktoren Risiko und erzielbare Flexibilität in die Betrachtung einbezogen werden. Auf jeden Fall gilt es zu beachten, dass Web-Services eine stärkere konzeptionelle Vorarbeit

benötigen als die meisten anderen Technologien.