Digitale Disruption

Die Produktrevolution beginnt in den Prozessen

07.03.2013
CIOs, die helfen wollen, neue Geschäftsmodelle zu entwickeln, müssen die aus­getretenen Prozesspfade verlassen. Wie Forrester-Analyst James McQuivey ausführt, geht es darum, die Digitale Disruption in den Anwenderunternehmen zu verankern.
Innovationen entstehen durch Disruptionen.
Innovationen entstehen durch Disruptionen.
Foto: bildgestoeber/Fotolia

Einst galt sie als etwas, das Hightech-Unternehmen den Anwenderfirmen aufdrängten: Digitale Disruption war die Domäne von Hewlett-Packard, IBM und zuletzt Apple, von legendären Entwicklern neuer digitaler Technologien also, die unser Leben für immer veränderten - wenn auch zunächst ganz allmählich.

In dieser ersten Welle der digitalen Disruption waren es die Schöpfer der Technologie, die den Bruch herbeiführten; alle anderen passten sich einfach nur an. Der CIO als der natürliche Erbe dieser Entwicklungen hatte die Aufgabe, diese Technologien im Interesse des Unternehmens zu verstehen und zu nutzen.

Das größte Paradoxon der 90er

Ohne die Herausforderungen des CIO-Jobs kleinreden zu wollen - die Aufgaben des klassischen IT-Chefs waren relativ unkompliziert: den CFO davon abhalten, dass er sich beim CEO über die IT-Ausgaben beklagte, die knappen Computing-Ressourcen in der Organisation überwachen, einen Kader an IT-Managern aufbauen etc. Im Vergleich zu heute war die althergebrachte Rolle des CIO nicht schwer zu erfüllen. Die digitale Disruption vollzog sich zunächst äußerst langsam und im Grunde nur in einer Richtung: ausgehend vom Tech-Unternehmen, aufnehmend vom Business.

Dieser Trend führte zum größten Paradox der 90er Jahre: Der CIO war zwar für die Verwaltung aller digitalen Ressourcen in der Organisation zuständig, doch er selbst war dabei alles andere als "digital disruptiv". In manchen Unternehmen wurden die CIOs sogar als das am wenigsten disruptive Element der gesamten Organisation betrachtet. Und teilweise zu Recht, denn viele stemmten sich mit aller Macht zunächst gegen die Nutzung des Internets und später gegen die mobilen Techniken, betrachteten diese Instrumente in der Hand der Anwender als Bedrohung des von ihnen streng überwachten Territoriums.

Heute kann es es sich kein CIO mehr erlauben, die Überwachung der digitalen Ressourcen in den Mittelpunkt seines Interesses zu stellen. Denn inzwischen hat sich die digitale Disruption in den Anwenderunternehmen voll entfaltet. Und es gibt einen entscheidenden Unterschied: Wie in den 90-er Jahren sind die Unternehmen gezwungen, die von außen an sie herangetragenen Technologien zu adaptieren, doch obendrein müssen sie auch bei ihren Endkunden eine digitale Disruption einführen.

Die "analogste" Firma der Welt

Nehmen wir als Beispiel ein völlig analog strukturiertes Unternehmen, möglicherweise die "analogste" Firma der Welt, einen virtuellen Produzenten von Zahnbürsten. Dieses Unternehmen dürfte eine lange Historie in der Anwendung digitaler Technologien hinter sich haben - angefangen von CAD-Arbeitsplätzen über Videokonferenzsysteme bis hin zu Laptops für die höheren Angestellten.

Aber nun erfolgt weltweit ein Umschwung: Viele Unternehmen übernehmen nicht nur die digitalen Disruptionen, sondern erzeugen sie auch selbst. Startups, die nicht mit so vielen Einschränkungen technischer oder prozessualer Art zu kämpfen haben, sind eifrig dabei, Apps zu entwickeln, mit denen sich Zahnpflegegewohnheiten erfassen und angewandte Mundhygiene vermitteln lassen. Letztendlich wird einer dieser Disruptoren eine mit Bluetooth und Beschleunigungsmesser versehene Zahnbürstenhülse herstellen, die automatisch das Zahnpflegeverhalten speichert sowie Anwender-Feedback und eine Anleitung zur Mundhygiene bereitstellt.

Den CIO des alteingesessenen Beispielunternehmens hat das alles lange Zeit nicht interessiert. Nun sieht er sich plötzlich mit vollendeten Tatsachen konfrontiert - und mit der Frage: Warum haben wir das nicht auch gemacht?

Der fatale Irrtum der CIOs

James McQuivey ist Vice President und Principal Analyst bei Forrester Research sowie Autor von "Digital Disruption: Unleashing the Next Wave of Innovation".
James McQuivey ist Vice President und Principal Analyst bei Forrester Research sowie Autor von "Digital Disruption: Unleashing the Next Wave of Innovation".
Foto: Forrester

Die Antwort wird ohne Zweifel lauten: "Weil wir uns darauf fokussiert haben, Zahnbürs-ten zu produzieren, zum Donnerwetter noch mal! Weil wir dachten, digitale Disruption sei etwas, was uns von außen trifft. Und weil wir nicht wahrgenommen haben, dass wir genau das für und bei unseren Kunden tun sollten." Viele CIOs bilden sich - zu Recht oder Unrecht - ein, dass sie tief in der digitalen Technik stecken. Und deshalb nehmen die meisten wohl auch an, dass sie sich gleichermaßen in einem Netz digitaler Disruption befinden.

Da irren die meisten, und dieser Irrtum könnte für viele böse enden. Dann nämlich, wenn sie nicht begreifen wollen, dass die für eine digitale Disruption erforderlichen Tools derzeit so preiswert und allgegenwärtig sind, dass jedes Unternehmen sie nutzen kann - auch ein Zahnbürstenproduzent und, ja, auch jemand, den man nie als Konkurrenz auf dem Schirm hatte.

Der Zugriff auf die erforderlichen Tools ist - durch App-Entwicklungsplattformen, Mobilgeräte und ubiquitäre Konnektivität - tatsächlich fast gratis. Deshalb werden künftig viel mehr Unternehmen versuchen, das Konsumerlebnis ihrer Kunden neu zu gestalten, zu "disruptieren". Diese Unternehmen werden mit fokussierten, digital verbesserten Produkterfahrungen an die Kunden der Platzhirsche herantreten - und ehemalige Marktführer in die Rolle von Nebendarstellern drängen.

Was wird vom CIO erwartet?

Doch wie kann ein Unternehmen sich selbst revolutionieren, bevor es jemand anderer tut? Hier schlägt die Stunde der CIOs. Die digitale Disruption der Produkte erfordert zunächst eine radikale Neugestaltung der Prozesse. Oft haben die CIOs viel zu langsame Prozesse geschaffen, die viel zu viele Berechtigungen erfordern und mit viel zu starren Priorisierungen (First in/First out) arbeiten.

Disruptive CIOs sorgen nun dafür, dass sich Projektteams und Produktteams aufeinander ausrichten. Auf diese Weise kann das Unternehmen die digitalen Ressourcen analog zum Tempo der Marktbewegung statt nach den internen Abläufen zuweisen. Ein "Technologie-Manager", der sich nicht mehr in der traditionellen CIO-Rolle sieht, gestaltet die internen Abläufe derart, dass sich die externen Produkte ohne Reibungsverluste überarbeiten lassen.

So hat die deutsche Versicherungsgruppe HanseMerkur den Prozess für die Anmeldung von Ansprüchen automatisiert und beschleunigt sowie den Kunden mehr Einsicht in ein ansonsten kompliziertes System ermöglicht. Nun kann das Unternehmen erheblich besser auf seine bereits digital disruptiven Endkunden eingehen. (qua)