Die Polizei online auf Vordermann bringen

08.06.2001
Von Rolf Bastian
Lernen im Medienverbund heißt die Devise für Unternehmen, die auf das Wissen ihrer Mitarbeiter bauen. Inhalte und Form der Schulung sollen wesentlich näher an den Bedarf und die Praxis heranführen. Nutznießer des Lernmixes sind die Mitarbeiter, denn sich informieren und qualifizieren gehen ineinander über.

Ein Funkspruch schickt eine Streife der Mannheimer Polizei zum Marktplatz: Dort lässt ein Mann seinen Hund - eine Art Pitbull - frei laufen. Während die Beamten sich um den Fall kümmern, klären ihre Kollegen vom zuständigen Revier die Kernfrage: Fällt der Hund unter die neue Kampfhundeverordnung? Nach wenigen Mausklicks finden sie die Antwort - denn das Wissen der Spezialisten vom Fachdienst der Polizeihundeführer ist im landesweiten behördeninternen Intranet abgelegt.

Seit Anfang 2000 können die Polizisten in Baden-Württemberg von ihrem PC aus solche Fachfragen in "Polizei Online" recherchieren. Foren zu Kampfhunden, Waffen, Rechtsextremismus und anderen Themen gehören zu dieser Intranet-basierten Lernplattform. Sie wurde im Rahmen der Medieninitiative Baden-Württemberg media@ vom Land sowie der Deutschen Telekom ins Leben gerufen und in Zusammenarbeit mit dem Berliner E-Learning-Spezialisten Digital Spirit (vormals MediaLine Gesellschaft für interaktive Systeme und Telekommunikation mbH) umgesetzt.

Die Lernplattform ist zentraler Bestandteil einer grundlegenden Reform der Fortbildung für die rund 30000 Polizeibediensteten im Land, die zuvor vorwiegend über Präsenzseminare der Akademie der Polizei oder andere polizeiliche Bildungseinrichtungen abgewickelt wurde. "Lernen im Medienverbund" nennt Alexander Fuchs, Referent für Aus- und Fortbildung im Landesinnenministerium, das neue didaktische Konzept. Es soll Inhalte und Form der Schulung wesentlich näher an den Bedarf und die Praxis heranführen.

Ein neues Konzept des Lernens ist notwendig geworden, weil sich ein neues Verständnis von Wissen immer stärker durchsetzt. Informations- und Kommunikationssysteme sind dabei ein zentraler Bestandteil. Die Beschäftigten qualifizieren sich nicht länger nur durch zeitweiliges Lernen in Seminaren, sondern auch durch das Lernen am Arbeitsplatz und zu Hause. "Tatsächlich lernen wir dauernd, ohne dass uns das immer bewusst ist", so Alexander Fuchs.

Damit sei nicht nur gemeint, dass die Nutzer laufend Erfahrungen machen, sondern dass sie auch ihr kognitives Wissen kontinuierlich erweitern. Der Medienprofi: "Sich selbst informieren und lernen gehen also ineinander über." Dafür seien elektronische Lernmedien besonders geeignet. Schließlich könnten Lerneinheiten jederzeit in den Arbeitsprozess einfließen, ohne ihn zu unterbrechen.

Das Modell der Zukunft ist der Mix aus Präsenztraining, Computer- und Web-based Training (CBT und WBT) sowie anderen Lernformen. Bei der Polizei Baden-Württemberg sollen diese Welten an einer Schnittstelle verbunden werden. "Ziel ist der integrierte Zugriff auf Informationen und Bildungsinhalte über ein Medium - Polizei Online", so Alexander Fuchs. "Der Polizeibedienstete hat ein Problem zu lösen, findet dafür die notwendigen Informationen im Intranet, kann bei weiter gehendem Informationsbedarf das zugehörige, stets aktuelle Fortbildungsangebot am Bildschirm abrufen und dort auch gleich buchen."

Dazu werden unterschiedliche Pakete integriert: Online-Informationssysteme ("Lernen durch Nachschlagen"), etwa in Checklisten oder Musterverfügungen, Online-Bibliothek aus Gesetzestexten, Urteilen, die Fortbildungsangebote in Form von Präsenz-, CBT- und WBT-Seminaren sowie die Kommunikation in Newsgroups und themenbezogenen Foren. Auch die Bedarfsermittlung und die Buchung der verschiedenen Fortbildungsmaßnahmen werden über das Netz abgewickelt. Durch seminarbegleitende Foren, wie sie in "Polizei Online" angeboten werden, können Teilnehmer darüber hinaus jederzeit untereinander kommunizieren und "kooperativ lernen."

Für Uta Vetter, Leiterin des Bereichs Training und Medienkonzeption bei der Start Amadeus GmbH, erhält Bildung durch E-Learning einen völlig neuen Stellenwert in der Unternehmensstrategie: "Weiterbildung und Marketing wachsen zu ,Educommerce´ zusammen. Vor allem fangen Unternehmen an, Bildungsthemen für das Management ihrer Kundenbeziehungen einzusetzen."

Der Anbieter des führenden Reisevertriebssystems, an das heute neben 39000 Reisebüros, mehr als 50000 Hotels und 425 Fluggesellschaften auch zahlreiche Reiseveranstalter, Fähranbieter, Mietwagenfirmen, Verkehrsverbünde und Versicherungen angeschlossen sind, begann seine diesbezüglichen Aktivitäten vor rund fünf Jahren mit Add-ons zu den eigenen Kernprodukten.

In Zusammenarbeit mit Digital Spirit wurden zunächst CBT-Programme entwickelt, mit denen sich die Reisebüro-Mitarbeiter den Umgang mit dem Start-System "spielerisch aneignen konnten" - etwa durch die Simulation von Alltagssituationen. Das Online-Learning begann ebenfalls rund um die eigenen Start-Amadeus-Produkte - mit Kommunikationsforen. Dazu zählt etwa die Internet-Community "agentcorner.de" mit kostenlosem E-Mail-Service, Jobbörse, Newsgroups, Chats und Surfboard. "Gerade das Informelle dieser Community stärkt die Kundenbindung", meint Vetter. Rund 43000 Besucher wurden hier seit dem Beginn im September 1999 registriert.

Mit Weiterbildungs- und Kommunikationssystemen zur Förderung der eigenen Produkte bei den Kunden bündelte Start Amadeus seine Erfahrungen, die vor rund anderthalb Jahren in einen eigenen Geschäftsbereich mündeten. Gemeinsam mit Digital Spirit als Lieferant der Lernplattform werden E-Learning-Systeme rund um die Produkte der Kunden entwickelt, mit denen diese wiederum die Bindung zu ihren eigenen Kunden intensivieren. Dabei werden sowohl das Internet (mit themenspezifischen Chats) als auch CBT- und WBT-Plattformen genutzt.

Beispielsweise lassen Reiseveranstalter Wissensforen zu Reisezielen aufbauen, in denen, so Trainingsleiterin Vetter, "Informationen wesentlich mehr Tiefencharakter erhalten als in Katalogen und anderen klassischen Marketing-Materialien". Die Medienexpertin zur Vorgehensweise: "Wir didaktisieren dabei die Inhalte. Dazu gehören Fragen wie ,Wie organisiert man Lernziele?´ ,Wie kann man an das natürliche Verhalten der Menschen anknüpfen?´ Grundkonzepte der Pädagogik erfahren hier eine Renaissance." Educommerce, die Evolution des E-Learning im Dienst des Produkt-Managements, hat so das Geschäftsmodell wesentlich erweitert.

Die strategischen Veränderungen von Wissen und Weiterbildung durch E-Learning verändern auch die Unternehmensorganisation und -prozesse. So wurden bei der baden-württembergischen Polizei durch Online-Anmeldung und -Registrierung zu den Fortbildungsveranstaltungen sowie das wesentlich einfachere Handling von Überbuchungen und Stornierungen die Verwaltungsabläufe deutlich vereinfacht.

Eine Fülle von Verwaltungsvorschriften wurde angepasst, um die neuen Prozesse abzubilden. Kennzeichen einer transparenten und modernen Organisation ist die intensive Einbeziehung der Basis. Indem der Bedarf an Fortbildungsmaßnahmen der Polizei online ermittelt wird, "können die Beschäftigten unmittelbar Einfluss auf die Gestaltung des Angebots nehmen, und die Führungsgremien erhalten ein genaues Bild vom tatsächlichen Bedarf", so Ministerialreferent Fuchs. Auch bei den Inhalten können die Mitarbeiter ihre Erfahrungen stärker einbringen.

Um das sehr spezifische Know-how abzubilden, "das auf dem freien Markt in dieser Form gar nicht zu haben ist", wurden Polizeibeamte zu Online-Autoren geschult, die ihrerseits die Trainer der Bildungseinrichtungen bei der Entwicklung von Online-Lerneinheiten unterstützen. Jeder Veränderungsprozess schafft auch Widerstände. Um neue Fortbildungskonzeptionen im Unternehmen durchzusetzen, ist "internes Marketing" notwendig. Uta Vetter empfiehlt, mit Pilotprojekten zu beginnen, bei denen sich Vorteile schnell erkennen lassen, und mit der Initialgruppe "interne Brückenköpfe" zu schaffen. Für Fuchs sind außerdem Transparenz und die frühzeitige Einbindung der Personalvertretung entscheidende Maßnahmen zur Förderung der Akzeptanz.

Die Chancen, die neue Lernkonzepte den Mitarbeitern bringen, dürften jedoch mögliche Vorbehalte deutlich überlagern. Die Möglichkeit zum Erwerb wertvoller persönlicher Qualifikationen, damit allerdings auch höherer Selbstverantwortung, die Verpflichtung der Führungsebenen zur Bereitstellung dieses Angebots und schließlich die stärkere Identifikation mit dem "lernenden Unternehmen" sind für Start-Amadeus-Frau Vetter wichtige Ansatzpunkte.

Indem Wissen niedrigschwelliger, damit breiter und letztendlich "demokratischer" zugänglich sei, würden offene und flachere Führungsstrukturen gefördert. Vor allem erhalten die Mitarbeiter mehr Einfluss auf Prozesse und Entscheidungen. So wurde bei der baden-württembergischen Polizei die neue Kampfhundeverordnung größtenteils durch Meinungsbildung in Online-Foren vorbereitet, bei denen Basis und Führungsebenen direkt miteinander kommunizieren konnten - ein Abstimmungsprozess, der ohne Online-Medium in dieser direkten Form nicht möglich gewesen wäre.

Nicht zuletzt wird die IT-Infrastruktur durch E-Learning weiterentwickelt. Allerdings besteht Übereinstimmung, dass solche Projekte zunächst nicht das Gewicht haben, das erforderlich wäre, um die IT-Ressourcen auf den jeweiligen Bedarf zuzuschneiden. Deshalb müssen sich Weiterbildungslösungen vorerst den vorhandenen IT-Strukturen und Netzkapazitäten anpassen - auch mit Blick auf die Akzeptanz. "Schnelligkeit und leichte Bedienbarkeit sind zunächst einmal wichtiger als größtmöglicher Komfort", so der Aus- und Fortbildungsleiter Fuchs.

Wenn mit den Erfolgen die Verbreitung steigt, erzeugt dies den zur Ausweitung der Ressourcen notwendigen Druck. Polizei Online beispielsweise hat mittlerweile 22000 angemeldete Nutzer. Fuchs: "Mit steigenden Netzbandbreiten können wir dann auch bei Funktionen und Präsentation anspruchsvoller werden." Sollen die häuslichen Mitarbeiter-PCs zu Hause ebenfalls in den Lernverbund einbezogen werden, ist die Sicherheit ein zentraler Aspekt. Bei Polizei Online sind Intranet und Internet strikt voneinander getrennt. Als Lösung wird derzeit eine Spiegelung der Inhalte vorbereitet. So durchdringt E-Learning sukzessive das Unternehmen und treibt dessen Entwicklung zur "lernenden Organisation" voran.