Scheinwerkverträge

Die Lehren aus dem Daimler-Urteil

18.09.2013
Von 
Werner Kurzlechner lebt als freier Journalist in Berlin und beschäftigt sich mit Rechtsurteilen, die Einfluss auf die tägliche Arbeit von Finanzentscheidern nehmen. Als Wirtschaftshistoriker ist er auch für Fachmagazine und Tageszeitungen jenseits der IT-Welt tätig.

Papierform alleine unwichtig

Ein Kernsatz des Urteils lautet: „Das Gericht ist davon überzeugt [..], dass die vorgenannten Vertragsverhältnisse tatsächlich so nicht gelebt worden sind." Diesen Umstand gewichten die Richter entscheidend stärker als die schriftlichen Vereinbarungen, laut denen alle Weisungsrechte gegenüber den Klägern bei den Dienstleistern liegen. „Von der Papierform her spricht bei dem vermeintlichen Werkvertrag nichts dafür, dass es sich um einen Arbeitnehmerüberlassungsvertrag handelt", konzedieren die Landesarbeitsrichter. Dennoch kommen sie zu dem Ergebnis, dass es sich in Wirklichkeit genau um eine solche Arbeitnehmerüberlassung – vulgo einen Scheinwerkvertrag – gehandelt hat. Und – ein weiterer inhaltlicher Schritt des Gerichts – für die daraus resultierenden Folgen, nämlich die Arbeitsvertragsansprüche der Betroffenen, hat in der Folge Daimler aufzukommen, nicht der Dienstleister.

Wie angedeutet spielen für den Tenor des Urteils eine ganze Reihe der konkreten Arbeitsumstände der externen Mitarbeiter eine wesentliche Rolle, deren Problematik aus der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts in den IT-Abteilungen bekannt sein sollte und somit kurz abgehandelt werden kann. Gemeint ist die eingeforderte Anwesenheit zu festen Zeiten in der eigenen Firma, einhergehend mit Weisungen durch Daimler-Mitarbeiter. Im Urteil selbst kann detailliert nachgelesen werden, wie der Arbeitsalltag der – offenbar lediglich vermeintlich – Externen aussah. Die allgemeine juristische Grundlage dafür von Seiten des Bundesarbeitsgerichtes im Jahr 1994 fassen die Landearbeitsrichter so zusammen: „Die persönliche Abhängigkeit – und mit ihr die Arbeitnehmereigenschaft – ist anzunehmen, wenn statt der freien Tätigkeitsbestimmung die Einbindung in eine fremde Arbeitsorganisation vorliegt, die sich im Weisungsrecht des Arbeitgebers bezüglich Inhalt, Durchführung, Zeit, Dauer und Ort der Tätigkeit zeigt."

Heißerer Kaffee im Vergleich dazu ist aus Anwendersicht, was die Richter zum Ticket-System und den konkreten Weisungen per E-Mail durch Daimler-Mitarbeiter feststellen. „Ein zwischen einem Werkunternehmen (hier: IT-Dienstleister) und dem Dritten vereinbartes Ticketsystem (EDV-spezifische Aufträge von Arbeitnehmern des Dritten werden nach Eröffnung eines Tickets vom Werkunternehmen bearbeitet) ist unproblematisch dem Werkvertragsrecht zuzuordnen", heißt es im Wortlaut des Urteils. Das bedeutet, dass betroffene Unternehmen tatsächlich aus dem Schneider sind und nichts zu befürchten haben, so lange Externe tatsächlich nur und sauber dokumentiert und unter Wahrung der genannten Freiheiten bei der Arbeit über ein Ticket-System beauftragt werden.

System systematisch unterlaufen

„Wenn allerdings Arbeitnehmer des Dritten außerhalb dieses Ticketsystems in größerem Umfang Beschäftigte des Werkunternehmens direkt beauftragen und unter zeitlich-örtlichen Vorgaben auch personenbezogene Anweisungen erteilen, spricht dies für Arbeitnehmerüberlassung", so das Landesarbeitsgericht weiter. Es kam nach Auswertung der vorgelegten Beweismittel zu dem Schluss, dass das im vorliegenden Fall mit Systematik geschah. Von Seiten der Kläger wurde erklärt, dass Aufträge zum Teil direkt von Daimler-Mitarbeitern erteilt wurden und erst hinterher Pro-Forma-Tickets eröffnet wurden, um die mit dem Dienstleister ausgehandelten Vorgaben zu erfüllen.

Ein Lehre aus dem Urteil lautet: Das geht so nicht. Überraschen dürfte das CIOs kaum. Aber sie dürfen sich denken: Manchmal geht es eben nicht anders. Das ist richtig, und auch dazu gibt es eine Bewertung des Gerichts: „Wenn es sich bei diesen Direktbeauftragungen nicht um untypische Einzelfälle, sondern um beispielhafte Erscheinungsformen einer durchgehend geübten Vertragspraxis handelt, ist von einem Scheinwerkvertrag auszugehen."

Kommt es also nur in Ausnahmefällen zu direkten Weisungen respektive Beauftragungen, ist erst einmal noch alles im Lot. Die Landesarbeitsrichter haben im Beispielfall aber eine sehr konkrete Richtschnur gespannt, um die Grenze zu ziehen. Und zwar legten die Kläger im ersten Verfahren vor dem Arbeitsgericht rund 20 E-Mails mit Weisungen durch Daimler-Mitarbeiter vor; für das Verfahren vor dem Landesarbeitsgericht konnten sie noch einmal mehr als die die doppelte Menge draufsatteln. Demgegenüber steht die dokumentierte Zahl von rund 9000 zweifelsfrei ausschließlich über das Ticket-System vergebenen Aufträgen. Die Richter setzen diese beiden Größen so ins Verhältnis, dass sie von systematischer Vergabe am Ticket-System vorbei ausgingen und nicht von untypischen Einzelfällen. Gleichzeitig dienten wie angedeutet auch die ausgebliebenen Beanstandungen angesichts der Fülle von Aufträgen dazu, Scheinselbständigkeit festzustellen.

Lehrreich für andere Anwender sind am Daimler-Urteil einige weitere Einzelheiten des Verfahrens. Man kann konstatieren, dass die beiden IT-Spezialisten ihre Klage alles in allem nachvollziehbar und überzeugend begründeten, so dass die Landesarbeitsrichter ihrer Sichtweise am Ende Geltung verschafften. Mitnichten ist es aber so, dass Daimler dem nicht ebenfalls plausible Argumente entgegenzusetzen hatte – nicht zufällig hatte der Autobauer vor dem Arbeitsgericht ja zunächst einen Erfolg eingefahren. Wichtig ist nämlich unter anderem auch die Frage, inwieweit das Unternehmen als solches für gegebenenfalls vorhandene Missstände am Ende verantwortlich ist. Gerade in dieser Beziehung dürfte der Richterspruch aus Baden-Württemberg mancherorts die Alarmglocken läuten lassen.