Wettbewerbsdruck treibt Entwicklung bei Anwendern voran

Die Konvergenz der Netze erfolgt auf breiter Front

05.11.1999
MÜNCHEN (ave/hi) - Revolution oder Evolution? Kontrovers diskutierten auf Einladung der COMPUTERWOCHE DV-Experten über die propagierte Verschmelzung der alten TK-Welt mit den Datennetzen. Zwar sehen alle das Ende des klassischen Telefonnetzes, doch über den richtigen Migrationsweg der Anwender in die konvergente Welt herrscht Dissens.

"Ich glaube nicht, daß wir es hier mit einer Revolution zu tun haben, sondern mit einer Evolution," beurteilt Jens Christiansen, Berater der HMP Teleconsult, die aktuelle Debatte über das Zusammenwachsen von Sprach- und Datennetzen. Er glaubt nicht an ein Verschmelzen der bislang getrennten Welten über Nacht, da viele Firmen in Deutschland traditionell konservativ seien. Sie brauchen seiner Meinung nach Zeit, um auf die neue Situation zu reagieren.

Andererseits zwinge der Wettbewerbsdruck, immer schneller und flexibler zu werden und mehr Service zu bieten - durch die Konvergenz lasse sich das verwirklichen. "Die Märkte verändern sich, die Anwender brauchen heute wesentlich mehr als Kommmunikation," meint der Berater. "Sie fordern einen Dienste- und Servicemix, vor allem aber wollen sie die Integration in einem Netz, mit einer Technologie", faßt er die Motive zusammen, Sprach- und Datenwelten auf Basis von IP zusammenzuführen.

Diese Meinung teilt Michael Bartels, Geschäftsführer von Tedas. Er behauptet jedoch, konvergente Lösungen seien bereits jetzt für Anwender verfügbar. Sein Unternehmen stellt Server-basierte TK-Anlagen her, und laut Bartels gibt es auch erste Unternehmen, die solche Systeme in der Praxis einsetzen.

Damit wildert das Marburger Unternehmen im Revier von Anbietern klassischer TK-Anlagen wie Lucent, Nortel oder Siemens. Obwohl die Münchner Siemens AG eigenen Angaben zufolge immer noch gute Geschäfte mit ihren Hicom-Anlagen macht, hat man dort die Zeichen der Zeit erkannt, wie Siemens-Manager Rolv Bottheim betont. Von einer Revolution will er aber nichts wissen.

Er weist vielmehr auf die Notwendigkeit hin, die neuen Strukturen allmählich einzuführen und von Anfang an in die bereits bestehenden Netze einzubinden. Vor allem für die nächsten fünf Jahre benötigten Anwender Dienste und Gesamtlösungen, die es ihnen erlauben, ihre vorhandenen TK-Anlagen weiterhin zu nutzen.

Einigkeit herrschte darüber, daß sich das Internet Protocol (IP) als kleinster gemeinsamer Nenner durchsetzen wird.

Dabei stimmten Torsten Gründer, Business Consultant Electronic Commerce bei Psinet, und Siemens-Manager Bottheim darin überein, daß die IP-Welt mehr Services anbieten wird, als momentan aus der TK-Ecke zur Verfügung stehen.

Der Psinet-Mann sieht bereits das Ende für die klassische TK-Landschaft nahen: "In zehn, fünfzehn Jahren wird alles auf IP basieren. Ob es nun um die Peripherie oder das Kernnetz geht, spielt dabei keine Rolle." Bartels weist jedoch darauf hin, daß es für Anwender wichtig ist, mit einer einfachen Migrationsstrategie dorthin zu kommen. Wer sich heute über IP-Telefonie Gedanken mache, sehe sich häufig mit einer Entweder-oder-Entscheidung konfrontiert. Nicht selten laufe die Argumentation darauf hinaus, die vorhandene TK-Anlage abzuschaffen.

Dieses Problems ist sich auch Psinet-Manager Gründer bewußt. Lösungen seien notwendig, die zunächst ein Nebeneinander der alten und neuen Kommunikationswelten und später den Umstieg auf eine rein IP-basierte Umgebung erlauben. Nur so könnten die in den Unternehmen getätigten Investitionen geschützt und dennoch der bevorstehende "Sprung in eine neue Kommunikationswelt" geschafft werden.

Tedas-Chef Bartels ergänzt: "Die Hersteller müssen erst einmal das Vertrauen der Anwender in IP-basierte Telefonie aufbauen." Ein weicher Übergang, bei dem die IP-Telefonie in die vorhandene Anlage integriert werde, könne die Situation für viele Unternehmen vereinfachen.

Uneins waren sich die Diskutanten darüber, welcher Anwendertyp als erster IP-Telefonie nutzen wird. Während Olaf Riebe, Product Manager bei 3Com, eher davon ausgeht, daß kleinere und mittlere Betriebe aus Kostengründen die Vorreiterrolle spielen werden und diese Bewegung dann auf andere Firmen übergreift, sieht Tedas-Manager Bartels die mittleren und großen Unternehmen als Innovationsmotoren. Sie seien gedanklich schon sehr viel weiter und hätten zum Teil schon konkrete Pläne, diese Technologie einzusetzen. Auch gäbe es genaue Vorstellungen, was die Kosteneinsparungspotentiale angeht.

Riebe hält es höchstens für möglich, daß eine solche Entwicklung von den Randbereichen größerer Unternehmen her einsetzt: "In den Konzernen sind es nicht die Zentralen, sondern die Außenstellen, die als erste in den Genuß von Internet-Telefonie kommen." In den Zentralen stellt aus seiner Sicht die Lösung der Frage, wie ein neuer Bereich an die alte TK-Anlagenwelt angeschlossen werden soll, einen nicht zu unterschätzenden Hemmschuh dar.

Auch Psinet-Sprecher Gründer ist sich sicher, daß die Großindustrie eine Vorreiterrolle spielen wird. Für kleine und mittelständische Unternehmen spiele dieser Bereich nicht so schnell eine Rolle, weil die Nutzung von Technologien wie Voice over IP (VoIP) auch eine Frage der Kosten und der Implementierung sei.

Gründer wies bei dieser Gelegenheit darauf hin, daß die Verschmelzung der Sprach-Datennetze auch für die klassischen TK-Anbieter eine Herausforderung darstelle. Seiner Meinung nach werden die großen, etablierten Carrier künftig agressiv von IP-Unternehmen angegriffen: "Wir sind uns sicher, daß Firmen bereits in wenigen Jahren Telefon-, E-Mail- und Datendienste für ihre Mitarbeiter von uns verlangen werden. Denen bieten wir diese Dienste dann gegen eine Flat Rate an."

Bis dahin gibt es jedoch noch einige Hürden zu nehmen. Unklarheiten bestehen derzeit noch im Bereich der Interoperabilität verschiedener Lösungen im Bereich der IP-Telefonie. Obwohl es möglich ist, daß Anwender IP-Telefone an eine Hicom-Anlage anschließen und eine Server-basierte TK-Anlage sich in den Nummernplan des bereits vorhandenen TK-Systems einklinkt, sieht es in anderen Bereichen nicht so gut aus. 3Com-Diskutant Riebe räumt Probleme bei der Integration ein, schiebt den Schwarzen Peter aber den Herstellern der klassischen TK-Anlagen zu: "Entsprechende Standards lassen sich da nicht so ohne weiteres einführen."

Energisch widerspricht Siemens-Manager Bottheim dieser Behauptung: "Unternehmen wie Alcatel, Siemens etc. sind für die Konvergenz gut gerüstet, da auch die TK-Welt entgegen der landläufigen Meinung keine Single-Vendor-Umgebung war und ist". Standards wie bei den Signalisierungssystemen etc. hätten bereits in der Vergangenheit sichergestellt, daß Anwender sich nicht an einen einzigen Hersteller binden müssen.

Im Laufe der Diskussion warnte der Siemens-Mann davor, die Konvergenz der Netze nur auf die TCP/IP-Frage zu reduzieren. Viel entscheidender sei, ob es bei der Verschmelzung der Netze - ähnlich wie mit CAPI in der Telefonwelt - gelinge, Programmierschnittstellen (Application Programming Interfaces = APIs) zu entwickeln. Diese sollen es den Anwendungen erlauben, frei und transparent auf die unterschiedlichen Netzinfrastrukturen zuzugreifen - Netze, die für Bottheim in Zukunft nicht aus einem Übertragungsmedium bestehen, sondern eine Vielzahl an Technologien, wie Mobilfunk, Richtfunk, Internet etc. aufweisen.

Ein Sichtweise, die 3Com-Manager Riebe als ein Vertreter der Datenkommunikationshersteller nicht teilte. In seinen Augen existiert in der Telekommunikation noch keine offene, standardisierte Welt. Riebe zufolge stehen die TK-Hersteller erst noch vor einem schmerzhaften Lernprozeß, den die Netzwerker in Diskussionen wie Fast Ethernet versus VG Anylan bereits hinter sich gebracht hätten. Zwar räumte Riebe ein, daß viele der neuen Servcies der konvergenten Netzwelt auch in der klassischen TK-Welt realisierbar seien, doch der Anwender zahle dort einen deutlich höheren Preis und werde zudem mit Funktionen überfrachtet, die er nicht benötige.

Deshalb sei die Frage nach den entsprechenden APIs, um mit Applikationen Services wie in der TK-Welt zu realisieren, nur ein Teilaspekt. Wichtiger sei die Tatsache, daß die Industrie mit TCP/IP gemeinsam eine Lösung unterstütze, die zwar nicht die technisch eleganteste sei, dafür aber eine gemeinsame Basis bilde.

Ein Grundstock, der für Consultant Christiansen nicht ganz unproblematisch ist. Für ihn ist die zentrale Frage, wie die Marketiers der konvergenten IP-Netze die Quality of Services (QoS), die der Anwender aus den traditionellen TK-Infrastrukturen gewohnt ist, mit dem Internet-Protokoll verwirklichen wollen.

Darüber, daß die QoS über den Erfolg der Sprach-Daten-Konvergenz entscheiden, waren sich alle Teilnehmer einig, da nach dem Preisrutsch für Telefongespräche im liberalisierten TK-Markt kein Anwender mehr IP-Gespräche mit schlechter Qualität akzeptiere. Strittig ist dagegen, welcher Weg die Anwender dorthin führt. Während 3Com-Manager Riebe glaubt, daß die IP-Gemeinde aufgrund ihrer pragmatischen Einstellung das Problem schon löse, ist Siemens-Vertreter Bottheim davon überzeugt, daß hierzu einige Mechanismen aus der klassischen Festnetz-Telefonie übernommen werden müssen.

Für Psinet-Mitarbeiter Gründer liegt die Realisierung der QoS dagegen in den Händen der Service-Provider. "Überleben kann nur, wer als Qualitäts-Provider über eine eigene Infrastruktur verfügt", ist Gründer überzeugt. Entsprechend, so der Psinet-Manager weiter, werden die Firmenkunden in Zukunft bei den ISPs im Gegensatz zu heute nicht mehr Bandbreite kaufen, sondern Service Level Agreements ordern. Allerdings gesteht auch er ein, daß der Mangel an Bandbreite heute noch das vorherrschende Thema ist. Erst wenn dieses Problem aus der Welt geschafft ist, macht es in seinen Augen Sinn, die gesamte Kommunikation auf das Internet Protocol umzustellen.

Eine Umstellung, die das Geschäftsmodell der TK-Branche komplett umkrempeln könnte. So sehen die Diskutanten mit der Verschmelzung der Netze einhergehend einen eindeutigen Trend zu einer Zentralisierung der Kommunikation, die voraussichtlich in großen Hosting-Zentren mündet. Diese stellen dann etwa als Application Service Provider (ASP) Anwendungen bereit, übernehmen den Transport der Sprache und offerieren völlig neue, heute noch unbekannte Dienste.

Angesichts der vielen offenen Fragen rät Consultant Christiansen den Anwendern zwar nicht zu einer abrupten Änderung der bisherigen DV-Strategie, empfiehlt ihnen aber, bereits heute bei ihren Investitionsentscheidungen die neuen Technologien zu berücksichtigen. Dabei müsse aber jedes Unternehmen seine spezifischen Geschäftsprozesse vor Augen haben, da nicht jeder der neuen Dienste in der konvergenten Welt für alle Unternehmen einen Mehrwert verspreche.