Die "Jobkiller-Theorien" waren überwiegend kurzsichtig

29.11.1991

Ulrich Klotz, Abteilung Automationrrechnologie beim Vorstand der IG Metall

Der Beitrag ist eine geringfügig überarbeitete Passage aus dem Text: "Gewerkschaften und Technik - zwischen Rhetorik und Politik". Erschienen in: H.-J. Schabedoth (Hrsg.): "Gestalten statt Verwalten", Bund-Verlag, Köln 1991.

Rückblickend gewinnt man den Eindruck, als hätten viele Gewerkschafterjahrelang wie das vielzitierte Kaninchen auf die Schlange "Technik" gestarrt. Statt die sich eröffnenden vielfältigen Chancen wahrzunehmen und konkrete Gestaltungsoptionen offensiv zu nutzen, konzentrierte sich die Aufmerksamkeit fast ausschließlich auf vermeintliche oder tatsächliche Gefahren der technischen Entwicklung - wobei man allerdings auch mancherlei Risiken übersah, weil vorwiegend "konventionelle" Gefährdungen im Blickfeld standen.

Mit verstelltem Blick und ausgeprägt selektiver Wahrnehmung wurden stets Teile der Industriepropaganda für bare Münze genommen und überpointiert verallgemeinert. Um ein Beispiel zu nennen. Die 1976 von Siemens verfaßte Studie "Büro 1990" machte lange Zeit Furore in gewerkschaftlichen Diskussionsrunden; allenthalben wurde davon gesprochen, daß die "Jobkiller-Technologie" millionenfach Arbeitsplätze vernichten und "qualifizierte Sachbearbeiter zu Bürohilfsarbeitern" machen werde.

Nun - das reale Büro 1990 ist bereits Schnee von gestern wird klar, daß die meisten Prognosen, Horror-Szenarien und Herstellerversprechungen kaum das Papier wert waren - zumal im oft prognostizierten "papierlosen Büro" inzwischen mehr Papier denn je produziert wird. Während die Wirklichkeit den Theorien der "Zitierkartelle" davonlief, verstrichen zahllose konkrete Gestaltungschancen ungenutzt - und das ausgerechnet bei einer Technologie, deren Gestaltungspotential, und Wirkungen in der Geschichte der Industrialisierung ohne Beispiel sind.

Computer als Gegenstand emanzipatorischer Arbeitsgestaltung - noch immer trifft ein solches Ansinnen bei manchen Computerabstinenten auf Skepsis und tiefsitzende Ängste. Zwar bedient sich inzwischen sogar mancher hartgesottene Fundamentalist, der vor nicht allzulanger Zeit noch vorjeglicher "Computerisierung" warnte, heute selbst des "Jobkillers" bei der Abfassung neuer Prognosen - gleichwohl hat sich an dem Grundproblem bislang wenig geändert: Exponentielle Entwicklungsdynamik einerseits und die sprichwörtliche Trägheit bürokratischer Apparate andererseits führen dazu, daß das Time-Lag eher größer denn kleiner wird.

Längst ist nicht mehr zu leugnen, daß die gängigen "Jobkiller-Theorien" überwiegend kurzsichtig und meist weniger hilfreich als eher desorientierend waren. In der Regel werden Jobs vor allem dort "gekillt", wo rechtzeitige Innovation versäumt wurde - wie es aktuell in der Ex-DDR unschwer zu beobachten ist. Entgegen den lange Zeit dominierenden vergangenheitsorientierten Betrachtungen war und ist nun einmal häufig nicht zuviel, sondern eher zuwenig Strukturwandel die Ursache für wirtschaftliche Probleme und negative soziale Folgen.

Daß heute viele von Technisierung "Betroffene" inzwischen besser dastehen als ihre nicht betroffenen Kollegen, blieb am allerwenigsten den Beteiligten selbst verborgen - deshalb wurde durch pauschalierende und oberflächliche Argumentationen anstelle differenzierender Betrachtungsweisen insbesondere im Angestelltenbereich allerlei gewerkschaftspolitisches Porzellan zerschlagen.

Wieviel Schutt einer desorientierenden Politik wegzuräumen ist, läßt sich in wachsendem Maß in den Betrieben registrieren, wo Betriebsräte, die auf althergebrachten Positionen beharren, inzwischen Gefahr laufen, zwischen alle Stühle zu geraten. Speziell im Bürobereich wächst die Zahl der Fälle, wo Beschäftigte partiell mit dem Management an einem Strang ziehen und auf technische Modernisierung ihrer Arbeitsplätze drängen.

Im selben Maße, in dem der Umgang mit Computern schon Jugendlichen zur Selbstverständlichkeit wird, treten selbstbewußtere Verhaltensweisen an die Stelle alter Ängste vor dem Unbekannten; dann werden Forderungen, wie: "Jeder Arbeitnehmer hat ein Recht auf moderne Arbeitsmittel" laut und formale Hemmnisse als lästige Gängelei empfunden.

Wer etwa am Heim-PC die Vorzüge von Textverarbeitungs-Software schätzengelernt hat, wird sich - Betriebsrat hin oder her - wohl schwerlich im Büro mit Speicherschreibmaschinen oder ähnlich antiquiertem Gerät abspeisen lassen.

Politische Funktionsträger, die, in überkommenen und manchmal fast schon weltfremden Denkschablonen gefangen, diese Prozesse nicht nachvollziehen, können so leicht ins Abseits geraten - zumal die tradierten betriebsverfassungsrechtlichen Regularien aus einer ganzen Reihe von Gründen zunehmend versagen. Waren die Versuche, technische Entwicklungen auf vorwiegend juristischer Ebene - etwa per Betriebsvereinbarung - in den Griff zu bekommen, ohnehin schon während der achtziger Jahre ambivalent und von bisweilen zweifelhafter Wirkung, so werden nunmehr viele der altbekannten Mustern folgenden Ansätze in wachsendem Maß impraktikabel, illusionär und nicht selten politisch kontraproduktiv.

Eine grundlegende Neuorientierung der betrieblichen Technologiepolitik ist deshalb unumgänglich - gestalten statt verwalten heißt die Devise. An die Stelle reaktiver Regelung von Detailbereichen mit vorwiegend juristischen Mitteln muß die vorausschauende aktive Gestaltung von komplexen Arbeitssystemen und deren Rahmenbedingungen treten - ein Aufgabenfeld, in dem entgegen landläufiger Auffassung auch in Führungsetagen recht viel Unsicherheit herrscht und in dem deshalb durchaus reale Gestaltungschancen offenstehen - zumal sich auch in Managementkreisen zunehmend die Erkenntnis verbreitet, daß ökonomische Ziele und soziale Erfordernisse häufiger Hand in Hand gehen, als es auf den ersten Blick scheint.

Allerdings ist Gestaltung leichter gesagt als getan. Gestaltungsarbeit, die konkret, konstruktiv und erfolgreich sein soll, setzt angesichts der rasanten Innovationsdynamik in wachsendem Maße Fach- und Methodenkompetenz, Flexibilität und Innovationsfähigkeit voraus. Genau hieran hapert es häufig - auch im gewerkschaftlichen Alltag. In Anbetracht ihrer optimalen rechtlichen Rahmenbedingungen werden allerdings insbesondere die Arbeitnehmerorganisationen noch zu beweisen haben, ob sie zunächst in ihren eigenen Verantwortungsbereichen die verbalen Ansprüche einlösen und beispielhafte Konzepte moderner Arbeitsgestaltung realisieren können. Wenn es denn zutrifft, daß vor allem die Angestellten über die Zukunft der Gewerkschaften entscheiden - und alles spricht für diese These -, werden sich Gewerkschaften diesem Test auf ihre Glaubwürdigkeit stellen und auf entsprechende Rückfragen gefaßt machen müssen.

Noch ist allerdings die Diskrepanz zwischen Programmatik und Praxis unverkennbar. Auch in den Verwaltungsetagen der Gewerkschaften dominieren die sattsam bekannten zentralistisch-hierarchischen Technisierungskonzepte, die der klassisch-tayloristischen Philosophie des "One-best-way" folgen. Die alte starre Rollenverteilung a la Taylor: planende Programmierer einerseits und abhängige Benutzer (besser: Bediener) andererseits - bei der der Computer eher autoritäres Herrschaftsinstrument denn emanzipationsförderliches Werkzeug ist - entspricht zunehmend weniger dem Stand der Erkenntnisse. Deshalb bleiben - auch bei den Gewerkschaften - vielfältige konkrete Chancen zu einer sozial verträglicheren Arbeits- und Technikgestaltung ungenutzt.

Downsizing, IDV, EUC, (End-User-Computing) und Benutzer als Gestalter ihrer eigenen Werkzeuge - so viel Flexibilität, Individualität und Autonomie geht vielen denn doch (noch?) entschieden zu weit. Zumal man sich mit dem Festhalten am Status quo mit vielen Computerexperten und herrschaftswissenden Beratern, die bislang noch ganz gut davon leben, daß die alte DV so kompliziert, schwerfällig, teuer und strukturstabilisierend ist wie sie ist, in besten Gesellschaft wähnt. Jedoch: In einer Zeit des Wertewandels und in einer Welt, in der jeglicher Dogmatismus fehl am Platz ist, entscheidet sich die Zukunft von Organisationen allgemein vor allem an der Frage, welches Verhältnis sie zur Individualität entwickeln - im großen, wie im kleinen.

Soll arbeitnehmerorientierte Technologiepolitik wirkliche Politik werden und nicht vorwiegend folgenlose Technologie-Rhetorik bleiben, so ist es unumgänglich, die gewerkschaftlichen Organisations- und Infrastrukturen den sich radikal wandelnden Anforderungen und Bedingungen anzupassen. Immerhin zeigt der Vorsitzende der IG Metall, Franz Steinkühler, die Bereitschaft dazu, wenn er konstatiert: "Wer die Gesellschaft verändern will, der muß selbst zur Veränderung bereit sein."