Gastkommentar

Die Informationsgesellschaft gibt Gas und ueberholt sich selbst

26.05.1995

Wieder einmal hat die Zukunft bereits begonnen. Nicht im Hier und Jetzt spielt die Musik, wenn man den vielen Hochglanzprospekten und den Zukunftsgurus Glauben schenkt. Wir werden nur noch zwischen den Staus auf unseren Autobahnen und der freien Fahrt ueber unsere medialen Highways zu entscheiden haben. Ueberspitzt liest sich das dann so:

Endlich und mit letzter Kraft ist es dem Entwicklerteam der Firma "Minihai-Genossenschaft m.b.H." gelungen, eine phantastische Betaversion ihrer an Flexibilitaet nicht mehr zu ueberbietenden Programmschleife dem Markt zur Verfuegung zu stellen (die Ruecknahme der Programme sowie Reklamationen sind nach Oeffnen der Verpackung nicht mehr moeglich). Der Wortlaut dieser Meldung, der die Welt erschuettert, ist - wir gestehen es - frei erfunden.

Minihai hat mit grossem Aufwand und gemaess den Forderungen der ISO 9000 unter Einbeziehung aller selbstentwickelten Multimedia- Programme das angedachte Client-Server-Konzept "outgesourcet", um in fraktalen Fabriken durch knallhartes Total Quality Management die Software zu "redesignen", sie einem kontinuierlichen Verbesserungsprozess zu unterziehen und - Kaizen zum Trotz - endlich das Business Process Re-Engineering aufzusetzen, das sich am Kunden orientiert und auch die Mitarbeiter einbezieht und selbstaendiger macht, die dann motiviert sind, obwohl durch einen winzigen Fehler "inside" die Kalkulation nicht stimmen will.

Man sieht foermlich, wie sich die Bits und Bytes die Vorfahrt nehmen. Die Informationsgesellschaft gibt Gas und ueberholt sich selbst auf der Datenautobahn. Viel Zukunft, wenig Gegenwart. Betriebsausfluege sind beim DV-Controlling zu beantragen.

Endlich werden wir zur Informationsgesellschaft. Aber - haben wir bisher keine Informationen ausgetauscht? Sind wir dadurch nicht erst zur heutigen Gesellschaft gereift? Vielleicht transportieren wir Informationen in Zukunft nur schneller. Haben wir dann noch Zeit, ueber ihre Substanz zu urteilen? Wo liegt der grundlegende Nutzen fuer die Gesellschaft und den einzelnen?

Es geht nicht nur um die erwarteten Umsaetze einer Branche, sondern moeglicherweise um die zukuenftige Arbeitsweise einer Volkswirtschaft.

Soll der Begriff der "Kundenorientierung" keine Leerformel sein, dann hat der Anwender einen Anspruch auf objektive Informationen, die loesungsorientiert nach Kosten und Nutzen aufbereitet sein muessen. Wenn Anbieter von elektronischen Archivsystemen lediglich ein Dia-gramm beifuegen und behaupten, der Return on Investment sei bereits erreicht, wenn eine festgelegte Anzahl Blaetter elektronisch und nicht mehr in Ordner abgelegt wird, dann ist das zwar ganz nett, aber von entscheidungserleichternden Informationen fuer den Anwender noch weit entfernt. Leider werden damit auch die enormen Moeglichkeiten einer Dokumentenverwaltung beschnitten. Hier gilt: Informationen, die dem Kunden dienen, sind auch fuer den Lieferanten gut.

Ein Business, das sich vom Kaeufer- zum Verkaeufermarkt entwickelt, wird den technischen Fortschritt nur dann in voller Bandbreite akzeptieren, wenn Kunden als Partner und Offenheit als oberste Handlungsmaxime anerkannt werden.

Anwender, die heute in die Informationstechnik investieren, sollten vor allen Dingen einen Grundsatz nicht uebersehen: "Technik kann eine gute Organisation nicht ersetzen." Effizienz steigert man nicht da-durch, dass Ablaeufe technisch unterstuetzt werden, die niemand be-noetigt.

Multimedia-Produkte werden sicher zu Verbesserungen der Unternehmens-leistungen beitragen. Die prognostizierte Groessenordnung halten wir fuer Zweckoptimismus.

In diesem Zusammenhang sind uns zwei relativierende Meldungen aufgefallen:

1. Das Hamburger BAT-Freizeitforschungsinstitut fand bei einer Repraesentativumfrage mit 2600 Bundesbuergern ueber 14 Jahre heraus, dass lediglich zwoelf Prozent Videospiele favorisieren. 50 Prozent dagegen lesen regelmaessig Buecher, Zeitungen und Zeitschriften. Immer noch das alte Speichermedium Papier, nicht totzukriegen und mit zaehem Recycling-Leben.

2. Einem Beitrag der "Sueddeutschen Zeitung" zufolge findet "das Multimedia-Zeitalter erst in der zweiten Haelfte des 21. Jahrhunderts statt". Dies prognostizierte der Freizeitforscher Horst Opaschowski bei einer Tagung des Bundesverbandes der Filialbetriebe und Selbstbedienungs-Warenhaeuser in Bonn. "Bis die Mehrheit der Bevoelkerung in Schule, Beruf und Freizeit mit PC- Modem und CD-ROM umgehen kann und will, werden wohl noch viele Jahrzehnte vergehen", meint er. Die Technologien aendern sich schneller als die Gewohnheiten der Menschen.

Das menschliche Verhalten sorgt immer wieder dafuer, dass durch den Faktor Zeit auch bei den technischen Entwicklungen Spreu von Weizen getrennt wird. Die Sorge, ueberrollt zu werden, koennen wir ausschliessen. Erfreuliche Aussichten.