Blick in die digitale Zukunft

Die Grenzen zwischen IT und Business verschwimmen

23.10.2014
Von 
Karin Quack arbeitet als freie Autorin und Editorial Consultant vor allem zu IT-strategischen und Innovations-Themen. Zuvor war sie viele Jahre lang in leitender redaktioneller Position bei der COMPUTERWOCHE tätig.

Abschied von der einen IT

In Wirklichkeit ist die Situation aber noch komplizierter, denn die Unternehmen sind ja nicht unbeschwert unterwegs. Die IT-Verantwortlichen sollen agil und innovativ sein, das Business optimal unterstützen oder, besser noch, seine potenziellen Anforderungen antizipieren. Auf der anderen Seite sind sie weiterhin für elementare Fragen wie Sicherheit, Verfügbarkeit und Compliance verantwortlich - daran ändert sich nichts. Würden sie hier nachlässig, bekäme auch das Business die Folgen zu spüren.

Deshalb wird es künftig in erfolgreichen Unternehmen nicht nur eine, sondern vielleicht zwei, drei oder sogar mehr unterschiedliche Formen von IT geben. Die eine steht nach wie vor unter der Aufsicht des CIO. Sie gründet auf den traditionellen IT-Systemen und -Applikationen: Sicher, hochverfübar und stromlinienförmig ist sie auf die Verarbeitung großer Datenmengen mit hohem Durchsatz und einer nahezu hundertprozentigen Zuverlässigkeit ausgelegt. Risiko ist hier ein Unwort.

Am anderen Ende der Skala finden sich "schnell drehende" Lösungen mit einem gewissen, kalkulierbaren Risikopotenzial. "In der Vergangenheit haben die CIOs immer versucht, Risiken zu vermeiden - das ist der Blick des Ingenieurs", erläutert Dave Aron, Vice President und Fellow bei Gartner. "Künftig muss sich die IT mehr den Blick des Kaufmanns aneignen und entscheiden, welche Risiken sie eingehen kann oder will."

"Digitalisierung verträgt kein Übermaß an Governance, sondern eher eine Governance light." Dave Aron, Gartner
"Digitalisierung verträgt kein Übermaß an Governance, sondern eher eine Governance light." Dave Aron, Gartner
Foto: Gartner

Diese Art von IT ist näher an den Fachbereichen angesiedelt, zum Teil auch personell mit ihnen verwoben. Doch setzt sie nicht einfach nur deren Ideen um, sondern entwickelt mit ihnen gemeinsam neue Geschäftsmodelle. "Alignment war gestern", so die Gartner-Auffassung. Aus der Rolle des Erfüllungsgehilfen müsse die IT hinauswachsen, wenn sie als Partner des Business wahrgenommen werden wolle. Allerdings werde dieser Teil der IT nicht unbedingt vom CIO verantwortet. Gartner plädiert sogar für den Einsatz eines sogenannten Chief Digital Officer - zumindest als Übergangslösung.

Stabil, transformatorisch, agil

Forrester unterscheidet ebenfalls zwischen zwei Arten oder Rollen der IT. Das Beratungsunternehmen schuf dafür die Begriffe "Systems of Record" (eine funktional orientierte und auf operationale Qualität ausgelegte IT) sowie "Systems of Engagement" (für Lösungen, die sich vor allem mit dem externen Markt auseinandersetzen).

Dazwischen hat Forrester noch eine "transformatorische" IT angesiedelt, die für diese innovativen Lösungen eine Architektur und eine Roadmap entwickeln soll. Hier sind die Fähigkeiten und Fertigkeiten von IT-Profis gefragt, aber ergänzt durch eine in IT-Kreisen bislang ungewohnte Flexibilität und Agilität.

VW Käfer mit Rallyestreifen

So viel zur Theorie. Die Ergebnisse der aktuellen Forrester-Umfrage unter Business-Managern legen aber den Verdacht nahe, dass viele Betriebe auf die Digitalisierung noch nicht vorbereitet sind. Fast alle Befragten gehen davon aus, dass sich ihr Geschäft in den kommenden zwölf Monaten fundamental verändern wird. Doch nur drei Viertel haben eine Strategie, wie sie dieser Veränderung begegnen wollen. Und gerade mal ein Drittel ist davon überzeugt, dies sei auch die richtige Strategie. Etwa 85 Prozent befürchten sogar, dafür gar nicht die Kompetenzen im Unternehmen zu haben.

Nigel Fenwick, Vice President und Principal Analyst bei Forrester, glaubt auch nicht, dass die Unternehmen mit einer angeblichen digitalen Strategie wirklich vorbereitet sind. Oft hätten sie nicht erkannt, worum es eigentlich gehe: "Nur weil man auf Facebook ist und eine App hat, ist das noch keine digitale Strategie. Genauso wenig, wie Rallyestreifen oder ein Spoiler einen VW Käfer zu einem Rennwagen machen."

Nicht nur für die Consumer-Welt

Dass die digitale Strategie nicht mit der IT-Strategie verwechselt werden dürfe, wirft Gartner-Fellow Aron ein: "IT-Strategie ist eine technische Antwort auf eine Business-Frage, die digitale Strategie hingegen eine Business-Antwort auf eine technische Frage." Aber wer soll diese Frage stellen? - Das sei gar nicht so wichtig, konstatiert der Marktbeobachter. Wichtig sei nur, dass sie überhaupt gestellt und beantwortet werde.

Die bekannten Beispiele für eine gelungene Transformation des Geschäfts kommen zumeist aus der Consumer-Welt. Da ist der ehemalige Fotofilm-Hersteller Cewe, der heute erfolgreich digitale Fotobücher produziert. Oder auch der Sportartikelproduzent Adidas, dessen Laufschuhe mittlerweile Mikrochips enthalten und voll vernetzt sind. Dass Autos "rollende Computer" seien, ist schon eine Binsenweisheit.

Aber es gibt auch Beispiele aus der Business-to-Business-Welt. Gartner-Analyst Aron nennt hier den schwedischen Kugellagerspezialisten SKF. Das 1907 gegründete Unternehmen habe sich vom Zulieferer zum "Knowledge-Engineering-Partner" gemausert.

Höhere Preise durch besseren Service

Mit Hilfe berührungsloser Sensoren und mobiler Devices überwacht SKF die Installationen seiner Kunden aus der Ferne. Die Massendaten werden in ein Cloud-basierendes System für prognostische Analyse eingespeist und dort ausgewertet. So lassen sich Schwachstellen in der Kundenumgebung und die Wahrscheinlichkeit von Systemausfällen bestimmen. Im Fachjargon heißt das "proaktive Maintenance". Auf diese Weise rechtfertige SKF nicht nur die gegenüber der japanischen Konkurrenz höheren Preise, so Aron. Zudem habe die Kundentreue zugenommen, und die Mund-zu-Mund-Propaganda bringe dem Unternehmen weiteren Zuwachs.

Manchmal liegen solche Ideen quasi auf der Hand, sie haben bislang nur auf die geeignete Technik gewartet. SKF beispielsweise begann seine ersten Versuche bereits mit Einwahlmodems. In anderen Fällen muss sich das betreffende Unternehmen zunächst ein paar Schritte von seinem bisherigen Standpunkt entfernen, um zu sehen, wohin der Weg wohl führen könnte. Der Seitenblick auf andere Branchen ist laut Aron nicht nur erlaubt, sondern häufig auch zielführend.

Governance light

Am Anfang steht dabei aber immer eine Bestandsaufnahme: Was können wir, und wo wollen wir hin? Welches Ökosystem bedienen wir? Wer sind unsere Kunden, und was wollen sie? Wie können wir deren Erfahrungen verbessern? Aber auch: Wie gelingt es uns, auf diese Weise unsere ökonomische Bilanz zu verbessern? Welche Risiken können, wollen, dürfen wir dafür eingehen?

Erst auf Basis dieser Antworten lässt sich eine digitale Strategie entwickeln. Um sie mit Leben zu füllen, haben einige Unternehmen kleine Gremien aus Business- und IT-Spezialisten ins Leben gerufen, die "Digital Acceleration Center", wie sie im Forrester-Umfeld heißen. Manche Firmen ordnen sogar jedem Geschäftsbereich eine eigene Taskforce zu, die sich die Suche nach und die Umsetzung von digitalen Lösungen zur Aufgabe gemacht hat.

Diese Teams sind selten direkt dem CIO unterstellt; es gibt aber, wie Aron es formuliert, eine "dotted line" zur IT-Leitung. Zudem dürfen sie sich häufig Freiheiten herausnehmen, die mit dem herkömmlichen Verständnis von IT-Governance kaum in Einklang zu bringen sind. "Digitalisierung verträgt kein Übermaß an Governance", kommentiert der Gartner-Analyst.