Das Jahr-2000-Problem in der Telekommunikation

Die Furcht der Carrier vor dem Millennium-Bug

04.09.1998

Es gibt einen simplen Rat, den jeder am 31. Dezember 1999 befolgen sollte: Führen Sie kein Telefonat während des Jahreswechsels. Wollen sie keine horrende Rechnung riskieren, legen Sie den Hörer auf, bevor der Zeiger auf 0:00 Uhr umspringt. Die Carrier, egal ob privat oder dreiviertelstaatlich, sitzen nämlich alle im selben Boot, und das ist keineswegs Millennium-tauglich.

Angriffsfläche für den Jahrtausend-Bug bieten die Abrechnungssyteme, die Jahreszahlen bis dato zweistellig speichern und, sofern die Umstellung nicht rechtzeitig und korrekt erfolgt, die Doppelnull des nächsten Jahrtausends als das Jahr 1900 interpretieren. Für ein über den Jahreswechsel geführtes Telefonat würden die Rechner somit Gebühren für eine 100 Jahre offene Verbindung fordern.

Im Januar 2000 versendete Rechnungen mit Millionenbeträgen für ein einziges Telefonat sind für die Anbieter peinlich. Die Ursachen für derart fehlerhafte Rechnungen sind bekannt und daher - wenn sie ernst genommen werden - in den Griff zu bekommen.

Viel mehr Kopfschmerzen dürfte den Carriern dagegen ein Problem bereiten, dem sie selbst bei bester Vorbereitung hilflos gegenüberstehen. Denn wie ein Virus könnte sich am Neujahrstag 2000 der Doppelnullfehler durch die weltweit vernetzte Infrastruktur ausbreiten und sämtliche Vermittlungstechnik blockieren. Die Geschäfte der gewerblichen Telefon-Großkunden kommen zum Erliegen, so daß irrationale Schadensersatzforderungen die Folge wären.

"Wegen der weltweiten Vernetzung ist das Problem kaum überschaubar", unterstreicht Christian Rogge, Pressereferent bei Mannesmann Arcor das Dilemma der Carrier. Die privaten Anbieter wie Otello, Viag Interkom und Arcor müssen ihre eigene Infrastruktur 2000-fit machen und sind zudem darauf angewiesen, daß die Deutsche Telekom gleiches tut, weil sie von den Bonnern Leistungen beziehen.

Telekom wie auch ihre Herausforderer schalten darüber hinaus Verbindungen zu den Netzen internationaler Carrier, denn die weltweite TK-Infrastruktur ist miteinander verwoben. Die Zuständigkeiten für die elektronischen Wege enden meistens an den politischen Grenzen. Die vermittelten und für den Betrieb erforderlichen Systeminformationen, die unter anderem den für das Jahr-2000-Problem anfälligen Zeitstempel enthalten, flitzen dagegen ungehindert durch die weltweite Infrastruktur. "Unsere globale Vernetzung macht dieses Thema zum Domino-Spiel. Fällt ein Stein, kippt auch der nächste", veranschaulicht Telekom-Sprecher Ulrich Lissek die Situation.

Die Folgen eines solchen Szenarios sind mit den Schwierigkeiten des gleichnamigen Jahr-2000-Problems in Software-Umgebungen nicht zu vergleichen; beide haben die ihr eigenen Tücken. Während der selbstgestrickte Cobol-Code in Mainframe-Umgebungen und die kurzsichtige Programmierung in Standardapplikationen Daten verfälscht, werden die TK-Netze keine Informationen manipulieren, die sie transportieren. Im schlimmsten Fall werden im Jahr 2000 die TK-Netze ausfallen und die Kommunikation zum Stillstand kommen.

Gespräche unter internationalen und nationalen Carriern sind demnach notwendig und werden laut Lissek auch geführt. Auf länderübergreifender Ebene tauscht sich die Deutsche Telekom etwa mit France Télécom, British Telecom und AT&T aus, außerdem gibt es Kooperationen mit den hiesigen Konkurrenten. Diese Sitzungen seien konstruktiv, bestätigt Arcor-Sprecher Rogge: "Es werden keine Informationen vorenthalten, denn alle sind am reibungslosen Betrieb der Netze interessiert."

Nicht immer funktioniert der Austausch so harmonisch, wie es die Anbieter glauben machen wollen. Die Lobby-Vertretung der europäischen Carrier in Brüssel ETNO mußte bei einer Anfrage unter 41 großen Carriern feststellen, daß der Drang, voneinander zu lernen, nicht besonders ausgeprägt ist. Obwohl Verschwiegenheit zugesichert wurde, antworteten lediglich 23 Anbieter, wie sie dem Problem begegnen. Zu groß scheint der Wettbewerbsdruck, als daß sich die Anbieter vorbehaltlos gegenseitig unterstützen. "Natürlich legt man nicht die gesamte Infrastruktur offen", räumt Arcor-Mann Rogge ein.

Niemand weiß tatsächlich, welche Auswirkungen ein eingeschmuggelter oder im eigenen Netz vorhandener fehlerhafter Datumsstempel hat. "Es gibt darüber keine Erfahrungswerte", meint Lissek. Keine besonders gute Lösung ist, das Netz manuell auf das Jahr 1900 zurückzuschalten, und so dem Doppelnull-Dilemma ein Schnippchen zu schlagen. Diesen Vorschlag haben Kunden des TK-Equipment-Herstellers NET tatsächlich in Erwägung gezogen, als das Jahr-2000-Problem erstmals angesprochen wurde. "In einem solchen Fall liefern wir keinen Support, denn dann wird das Netz in einen undefinierten Zustand versetzt", erteilt Erwin Lautwein, Business Unit Director für Zentraleuropa bei NET, diesen Überlegungen eine deutliche Absage.

Die einzig vernünftige Reaktion auf die Millennium-Herausforderung - und das gilt gleichermaßen für Carrier wie für Anwenderunternehmen mit WAN-Verbindungen - ist die Bestandsaufnahme aller eingesetzten Komponenten samt Release-Stand. Die Hersteller sind juristisch verpflichtet, auf Anfrage zu klären, ob ihre Komponenten Jahr-2000-sicher sind. Sind es die Geräte nicht, müssen sie aufgerüstet werden, allerdings keineswegs kostenlos, denn "die Jahr-2000-Korrektur ist in der Regel mit zusätzlichem Entwicklungsaufwand verbunden", klärt Lautwein.

Inventur und Upgrade sind jedoch nur kleine Bausteine in einem Jahr-2000-Projekt. Wenigstens die Hälfte der veranschlagten Zeit, da sind sich alle Experten einig, sollten die Betroffenen für Probeläufe aufwenden. Doch wie prüft man ein operatives Netz? "In einem Test könnte ja genau das passieren, wovor alle warnen: Keiner weiß genau, was geschehen wird", warnt der NET-Manager.

Die Telekom wählt den Weg der kleinen Schritte. Sie prüft laut Lissek logische Einheiten, die beispielsweise alle an der Vermittlung beteiligten Geräte umfassen. So schalten, routen oder sperren die Steuerungsrechner etwa die Telekom-Leitungen. Alle an diesem Vorgang beteiligten Komponenten werden in den Jahr-2000-Test einbezogen. Doch das Zusammenspiel des Gesamtsystems, das sich vom Seekabel über Satelliten bis zum Abrechnungssystem erstreckt, traut sich auch die Telekom nicht zu testen.

Der Faden der möglichen Fehlerquellen läßt sich weiterspinnen, denn die Carrier sind wiederum davon abhängig, daß die Lieferanten ihre Jahr-2000-Hausaufgaben gemacht haben. "Angenommen, wir machen alles richtig und Neujahr 2000 stehen unsere Stromzähler still", malt Lissek den Telekom-Start ins nächste Jahrtausend und seine Folgen aus. Dann muß der Bonner Carrier hoffen, daß in 7000 Vermittlungsstellen die Notstromaggregate und Batterien ohne Murren ihren Dienst aufnehmen.

So gibt es keine Garantie dafür, daß am 1. Januar alles funktioniert. Nicht nur Anwender, deren Geschäfte vom Funktionieren der TK-Infrastruktur abhängen, müssen im Worst-Case-Szenario den finanziellen Schaden fürchten. Auch den Carriern droht der Jahr-2000-Sumpf, denn die haben ihren Kunden eine Verfügbarkeit von 97,5 Prozent und mehr pro Jahr vertraglich zugesichert. Erreichen sie diese Quote nicht, drohen enorme Schadensersatzforderungen. Die Abrechnungsproblematik dürfte dann das kleinste Problem der TK-Anbieter sein. Falsche Rechnungen schaden dem Image, ein Blackout der Infrastruktur lähmt jedoch die Basis des Kerngeschäfts.

Die Tücken des Zeitstempels

Die weltweite TK-Infrastruktur ist ein dichtes Geflecht aus Leitungen, Vermittlungsanlagen, Routern, Gateways, Multiplexern etc. Außer den Kabeln selbst besteht das Netz zum Gros aus aktiven Komponenten mit eigener Verarbeitungsintelligenz. Sie generieren Log-Reports, die mit einem Zeitstempel versehen sind. Diese Informationen werden wiederum von Systemprogrammen für weiterführende Events und für die Vermittlung von Gesprächen verwendet. Außerdem greifen Applikationen etwa zur Abrechnung darauf zu. In der Vergangenheit wurden die "Time-stamps" mit zweistelligen Jahreszahlen codiert. Sie werden folglich das Jahr 2000 falsch interpretieren. Die Crux bei der Sache beschreibt Erwin Lautwein, Business Unit Director bei dem TK-Equipment-Hersteller NET: "Kein Mensch weiß wirklich, welche Applikationen in einer heterogenen Umgebung an welcher Stelle auf diese Zeitstempel zugreifen." Die einzige Gewähr, den Jahrtausendwechsel kontrolliert zu nehmen, ist das Upgrade aller nicht Jahr-2000-sicheren Komponenten. Selbst dann besteht die Gefahr, daß fehlerhafte Zeitstempel ein überarbeitetes Netz in die Knie zwingen, denn die TK-Wege der Carrier sind untereinander verbunden, und: "Nicht alle TK-Anbieter werden rechtzeitig und vollständig umgestellt haben", warnt Lautwein.

DATUMSFALLEN

Neben dem Neujahrstag 2000 gibt es weitere Kalenderdaten, an denen der reibungslose IT-Betrieb durch fehlerhafte oder kurzsichtige Programmierung gefährdet ist:

22. August 1999: An diesem Tag läuft ein interner Zeitzähler der Satelliten mit Ortungsfunktionen über. Das Global Positioning System (GPS) wurde 1980 vom US-Militär im Orbit installiert, um den Ort eines GPS-Empfängers auf der Erde exakt zu bestimmen. Die Trabanten der "Navstar"-Serie, deren Signale mittlerweile auch kommerzielle Erdempfänger in Autos und Schiffen zur Ortung auswerten, verwenden einen mit 10 Bit verschlüsselten Wochenzähler. In der Nacht vom 21. zum 22. August 1999 ist die 1023. Woche der Satelliten komplett, der Zeitzähler springt auf Null zurück. Die Auswirkungen sind nicht vollständig bekannt. Angeblich sollen jedoch nur Empfän- ger älteren Datums vom Reset des Zählers gefährdet sein.

9. September 1999: Eine in den achziger Jahren beliebte Codierungsform war der Wert 9999. Er wurde genutzt, um Datumsfelder mit undefinierten Werten zu füllen, das Programmende zu markieren oder Informationen ohne Verfallsdatum zu kennzeichnen. Wird der 9. September 1999 in der Form 9/9/99 abgespeichert, könnten ältere Applikationen diese Zahl falsch interpretieren und den Programmablauf beenden und Datenbankeinträge löschen. Betroffen davon sind vor allem schlecht programmierte Dbase-Programme.

29. Februar 2000: Das Jahr 2000 birgt nicht allein wegen der Doppelnull eine Gefahr, sondern auch, weil ein Schaltjahr ansteht. Nach dem julianischen Kalender gibt es in Jahren, die glatt durch die Zahl vier teilbar sind, den 29. Februar. Ausgenommen von dieser Regel sind die Jahrhunderte, also 1700, 1800 und 1900, nicht jedoch das Jahr 2000. Denn vor der Ausnahmeregel existiert wiederum eine Ausnahme: Ist die Jahreszahl ein Vielfaches von 400, ist Schaltjahr. Software, die die Doppelnull problemlos verarbeitet, sollte zudem auf Schaltjahrfestigkeit geprüft werden. Ansonsten droht der IT ab dem 29. Februar 2000 ein undefinierter Zustand.