DDR kann die Fehler westlicher DV vermeiden

Die Erfahrungen "alter DV-Hasen" sind womöglich nützlich

06.07.1990

Das Wirtschaftsleben in der DDR wird sich künftig unter völlig veränderten Vorzeichen abspielen- So erfordert die Marktwirtschaft eine eigenständige Unternehmensplanung anstelle der früheren zentralen Vorgaben; die Betriebe werden einem bisher unbekannten Wettbewerb ausgesetzt sein. Die Instrumente, diesen zu bestehen, sind kaum vorhanden: Betriebswirtschaftliche Qualifikation, aber auch DV-technisches Know-how fehlen. Gerade auf dem letztgenannten Feld ist der Ausgangspunkt für viele junge Unternehmen gleich Null oder liegt zumindest nahe daran. Womöglich liegt darin eine reizvolle Perspektive für alte "DV-Hasen" aus der Bundesrepublik, in der DDR als Pionier tätig zu werden?

Ich kann mir durchaus vorstellen, daß einige Kollegen das machen würden; wenn ich nicht gebunden wäre, wäre ich selbst dabei. Das hört sich verdächtig nach Ausrede an, aber der Verdacht trifft hier nicht zu: Gerhard Karck, von dem die Aussage stammt, engagiert sich durchaus, sogar ehrenamtlich: Als Vorstandsmitglied des Vereins für Informations- und Kommunikationstechnik Schleswig-Holstein e.V. (Inkom SH) berät und betreut er unerfahrene DV-Anwender im nördlichsten Bundesland. Auch in der DDR ist er aktiv: Der Anwenderverband Deutscher Informationsverarbeiter (ADI), dessen Vorstandsvorsitzender Karck ist, hat sich schon Anfang des Jahres in der DDR konstituiert; inzwischen wurden bereits die drei Landesverbände Sachsen, Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern gegründet.

Karck ist also gebunden. Seine Verbandstätigkeiten in der Bundesrepublik lassen ihm keine Möglichkeit, für eine gewisse Zeit in die DDR zu gehen und dort seine Erfahrungen aus 28 Jahren DV "an die GmbH" zu bringen. Fragen an ihn in dieser Richtung müssen demzufolge spekulativ bleiben: "Vielleicht würde ich für drei Tage in der Woche hinübergehen, am Wochenende aber wieder zu Hause sein. Die Unterkünfte drüben sind ja nicht besonders."

Nicht nur der niedrigere Lebensstandard hält viele davon ab, in die DDR zu gehen. Noch nicht pensionierte DV-Spezialisten oder Berater hätten auch wesentliche finanzielle Einbußen einzukalkulieren. "Diejenigen, die noch fünf oder sieben Jahre bis zur Pensionierung haben, werden es am wenigsten tun, weil sie befürchten müßten, ihre betriebliche Alterszulage zu verlieren", vermutet Karck, der als Angehöriger des Jahrgangs 1924 diesbezüglich aus dem Schneider ist. In einer solchen Situation stünden dann weniger finanzielle Fragen im Vordergrund; vielmehr sei Idealismus gefordert. Allerdings: Auch das Ego will gestreichelt werden; mit entsprechenden Kompetenzen müßte eine Tätigkeit in einer DDR-GmbH schon ausgestattet sein, soll sich jemand dafür finden, glaubt der gebürtige Berliner.

Dieter Hansen, vor seiner Pensionierung Geschäftsführer eines "kleinen Hamburger Industrieunternehmens", ist seit Februar dieses Jahres in der DDR unterwegs als Senior-Berater für Kombinatsabteilungen, die sich in GmbHs umgewandelt haben beziehungsweise die auf dem Sprung in die Marktwirtschaft sind. Zugeständnisse beim Unterbringungskomfort und der Qualität der Verpflegung zu machen "tut uns Westdeutschen mal ganz gut", konstatiert Hansen, der sich einer Beratungsinitiative der Industrie- und Handelskammer Kiel für junge DDR-Unternehmen angeschlossen hat. Die IHK trägt die Reisespesen der Senior-Experten, für Unterkunft und Verpflegung haben sie selbst oder die beratenen Unternehmen zu sorgen.

Das läuft in der Regel auf keine luxuriöse Unterbringung in (ehemaligen) Devisen-Hotels heraus; vielmehr nächtigt Hansen meist privat bei Mitarbeitern der Betriebe. Er schätzt die Kontakte und die Einblicke in den ostdeutschen Lebensstil, die sich aus dieser Improvisation ergeben. Als seine Motivation nennt der Hamburger, der finanziell in keiner Weise profitiert, allein die Beteiligung "an einer guten Sache".

Diese ist nicht einfach zu realisieren: Hansen stellt bei den neuen GmbHs, die in der Regel noch an die alten VEBs als Holdings der Treuhandgesellschaft angeschlossen sind, zwar eine große Lernbereitschaft fest, es fehlen nach seiner Beobachtung jedoch "die für uns selbstverständlichen Denkkategorien. Einem neuen GmbH-Chef müssen Sie erst einmal klarmachen, daß er jetzt Arbeitgeber-Funktionen hat. Er hat Verantwortung, muß unter Umständen Leute entlassen, die jahrelang seine Kollegen waren."

Als einziges Argument zur Rechtfertigung solcher Härten kann Hansen lediglich vorbringen, daß nur derjenige sein Geld verdient hat, der Geschäftsleitung und Kunden zufriedenstellen kann.

Im Hinterkopf der neuen Manager, so Hansen, ist immer noch die zentrale Planungsinstanz vorhanden, an die man sich früher mit dem Anliegen wenden konnte: "Ich habe Minus gemacht; gleicht das bitte aus." Aus diesem Grund haben auch die Holdings eine große Bedeutung: Die Geschäftsführer können so noch immer an die ehemaligen Kombinatsdirektoren herantreten, anstatt ihre Entscheidungen und deren Konsequenzen unmittelbar gegenüber der Treuhandstelle als Gesellschafter zu verantworten.

Im Vordergrund stehen nach Hansens Beobachtung also Fragen, die aus dem Charakter einer Organisationsform "GmbH" resultieren. "Die DV ist für junge Unternehmen in der DDR lediglich ein Instrument; beim Aufbau kann man nicht damit beginnen." Als Unternehmer im hiesigen Markt würde Hansen zwar immer eine hauseigene DV betreiben, als Berater in der DDR hält er das nicht automatisch für die beste Lösung. Hier spielt auch der Gesichtspunkt eine Rolle, daß die Kombinate in der Regel schon lange DV-Abteilungen unterhalten haben, die nunmehr als Systemhäuser auftreten.

Zumindest vorerst sieht er in Rechenzentren - egal an welchem Standort - eine geeignete und vor allem kostengünstigere Ausweichlösung. "Die GmbHs wollen das Problem erst einmal loswerden und lassen ihre DV extern erledigen. Hier werden Datev und andere schnell vor Ort sein." Abhängigkeit von externen Leistungen und Strukturen sind für Hansen kein Problem; die RZ-Dienste seien ausreichend zuverlässig und flexibel.

Dieser pragmatischen Sichtweise steht die eher strategische von Eckhard Stöppler gegenüber: Der selbständige Unternehmensberater in Hamburg plädiert dafür, Verantwortung für die Datenverarbeitung sofort dort anzusiedeln, wo sie aus seiner Sicht hingehört: in die Geschäftsführung beziehungsweise den Vorstand. So könnte vermieden werden, daß der hierzulande übliche strategische Fehler, die DV als eine Serviceabteilung wie die Betriebskantine zu behandeln, in der DDR wiederholt wird. "Es sollte ein wirkliches Informations-Management stattfinden", fordert Stöppler. Die Umstrukturierung eines Unternehmens auf die Erfordernisse der Marktwirtschaft müsse so tiefgreifend sein, daß nicht in der alten Organisationsstarre weitergemacht werde. Konsequenterweise würde er als DV-Verantwortlicher für sich Prokura fordern.

Unter diesen Voraussetzungen hätte ein Wechsel zu einem Anwender in der DDR schon einen gewissen Reiz für Stoppler. Das Maß an Idealismus wie Hassen mag er allerdings nicht aufbringen: Ein Arbeitsvertrag müßte für ihn schon an die hiesigen Standards angepaßt sein. Demnach würde ein DV-Verantwortlicher mit einem Jahresfixum von vielleicht 90 600 Mark "ein Vielfaches des Einkommens von Lothar de Maiziere" verdienen, gleichwohl immer noch auf die hierzulande oft üblichen Leistungsprämien verzichten müssen. Dazu, so Stöbere, "müßte man dann wirklich schon sehr idealistisch sein."

Sein eher pessimistischer Tip daher: Es werden sich nicht viele "Pioniere" finden. Das neue Gedränge auf dem DV-Markt der DDR, verbunden mit vollmundigen Versprechungen der Anbieter, zeige doch, woher der Wind wehe: "Die DDR wird bestimmt von vielen als Terrain angesehen, auf dem sie den großen Reibach machen können." Das sei das herrschende Motto, und auch Anwendungs-Profis mit einem hohen Marktwert in der Bundesrepublik würden im Durchschnitt nicht anders denken.

Zwar sieht Stöppler einen großen Nachholbedarf auf der Technologieseite, demzufolge auch einen Markt für Beratungsleistungen, aber in puncto Software-Entwicklung könne sich die DDR im übrigen gut allein helfen: "Bei der Optimierung von Algorithmen sind sie beispielsweise sehr gut, weil sie aus ihren schlechten Rechnern viel herausholen mußten." Ob bundesdeutsche Entwickler hier viel helfen könnten, sei zweifelhaft. Hüben wie drüben werde zum Beispiel in der Datenbankentwicklung noch gewaltig "geschludert". Von Query-Optimierung etwa habe auch hier kaum ein Entwickler eine Ahnung, wenn solche Traditionen dann in DDR-Betrieben weiterlebten, könne von "Pionierleistungen" kaum die Rede sein.

Peter Naumann, DV-Verantwortlicher bei der Raiffeisen Haupt-Genossenschaft (RHG) Hannover, reist seit Frühjahr 1990 häufiger in die DDR. Die Beratungsklientel setzt sich aus landwirtschaftlichen Organisationen zusammen: Bäuerliche Handelsgenossenschaften (BHG), Materialtechnische Versorgungseinrichtungen, Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften (LPG) sowie Serviceeinrichtungen im Futtermittel- und Getreidebereich.

Ein Wechsel zu einem DDR-Anwender ist für Naumann "... kein Thema: Aus einer Aufgabenstellung herausgerissen zu werden, um vielleicht nach ein bis zwei Jahren zurückzukommen halte ich für keinen Karrieresprung." Für einen jüngeren DV-Fachmann mag, ein solcher Job nach Naumanns Einschätzung interessant sein, dann aber nicht für kurze Zeit, sondern unter langfristigen Aspekten.

Naumann hat die Erfahrung gemacht, daß die oft neuen Führungskräfte bei den Betrieben seiner Klientel sehr empfindlich reagieren, was ihre Entscheidungsbefugnisse angeht. Ihr Standpunkt: "Wir sind jetzt 40 Jahre lang gegängelt worden; jetzt wollen wir uns nur noch beraten lassen." Daß sich diese gleichwohl meist an der Beratung orientieren, ist für Naumann verständlich. Bei den 114 Bäuerlichen Handelsgenossenschaften im Betreuungsgebiet der RHG, die von der genossenschaftlichen Rechenzentrale in Ahlten betreut werden, sei die Entscheidung mehr oder weniger en bloc gefallen, gelte also für fast alle BHGs. Sie werden laut Naumann zunächst PCs einsetzen, auf denen Erfassungsprogramme laufen; die Datendisketten werden täglich von einem Kurierdienst abgeholt, in genossenschaftlichen Rechenzentren verarbeitet und die gelisteten Ergebnisse tags darauf zurückgebracht.

Norbert Ruppenthal, Leiter der zentralen Datenverwaltung beim Brillenhersteller Rodenstock in München, bleibt lieber, wo er ist. Den Idealismus, finanzielle Einbußen sowie eine Verschlechterung des Lebensstandards in Kauf zu nehmen, mag er nicht aufbringen. "Ich bin seit 25 Jahren bei Rodenstock und habe hier die gesamte EDV aufgebaut. Dadurch habe ich gewisse Privilegien, die ich nicht aufgeben möchte. Andererseits wäre es natürlich hochinteressant, Anwendern in der DDR, die unsere ganzen DV-Phasen gar nicht erlebt haben, unter die Arme zu greifen, so daß sie sich vieles ersparen könnten."

Das ist sowohl DV-strategisch als auch mit Bezug auf die Hardware-Auswahl zu verstehen. "Wir müssen die Leute vor den Fehlern bewahren, die wir vor zehn oder 20 Jahren gemacht haben. Die müssen ja nicht unbedingt auch noch die Phase der Mittleren Datentechnik durchleiden." Außerdem, und hier stößt der Rodenstock-DV-Leiter in das gleiche Horn wie Eckhard Stöppler, gehört die DV grundsätzlich sofort auf der Managerebene angesiedelt. Nicht zuletzt streicht Ruppenthal als Kollege von Gerhard Karck im Vorstand des ADI die Notwendigkeit für DV-Anwender in der DDR heraus, sich auf Verbandsebene zusammenzuschließen, um nicht "den Tricks und dem Schwindel der Anbieter aufzusitzen".

Der DV-Arbeitsmarkt in der DDR, glaubt Ruppenthal, ist eher etwas für die Jüngeren. DV-Profis um die 30 könnten ihrer Karriere vielleicht einen "Turbolader" verpassen, indem sie irgendwo in der DDR einsteigen. Zu großen Optimismus diesbezüglich hält er allerdings für deplaziert: Hochqualifizierte Arbeitskräfte seien schließlich auch in Sachsen, Mecklenburg oder Thüringen zu finden. Hätten sich diese erst einmal in einer marktwirtschaftlichen Umgebung freigeschwommen und die nötigen Marktkenntnisse erworben, seien sie scharfe Konkurrenten für West-Karrieristen. Dennoch: DV-Yuppies könnten es nach seiner Empfehlung ruhig einmal mit der DDR als Karriere-Sprungbrett versuchen.