Teil 1: Neue Geschäftsmodelle und gefährliche Wettbewerber

Die digitale Revolution des Energiemarktes

11.03.2015
Von   
Mark Zimmermann leitet hauptberuflich das Center of Excellence (CoE mobile) zur mobilen Lösungsentwicklung bei der EnBW Energie Baden-Württemberg AG in Karlsruhe. Er weist mehrere Jahre Erfahrung in den Bereichen Mobile Sicherheit, Mobile Lösungserstellung, Digitalisierung und Wearables auf. Der Autor versteht es, seine Themen aus unterschiedlichsten Blickwinkeln für unternehmensspezifische Herausforderungen darzustellen. Neben seiner hauptberuflichen Tätigkeiten ist er Autor zahlreicher Artikel in Fachmagazinen.
So sehr die Digitalisierung die Konsumenten begeistert, den meisten Unternehmen sind die Auswirkungen und Möglichkeiten bisher nicht bewusst. So wird sich auch der Energiemarkt maßgeblich verändern, und Energieversorger haben jetzt die Möglichkeit, sich im Rahmen der Energiewende neu zu erfinden. Hier einige Denkanstöße.
So romantisch, wie es auf diesem Bild den Anschein hat, stellt sich der Europäische Strommarkt nicht dar.
So romantisch, wie es auf diesem Bild den Anschein hat, stellt sich der Europäische Strommarkt nicht dar.
Foto: Thorsten Schier - Fotolia.com

Durch die Liberalisierung der Strommärkte, die diversen gesetzlichen Regelungen zur Förderung erneuerbarer Energien und die damit ausgelösten Entwicklungsschübe, insbesondere im Bereich Fotovoltaik und Windkraft, befinden sich die mitteleuropäischen Strommärkte in einem fundamentalen Veränderungsprozess. Besonders in Deutschland zwingt die Energiewende die Energiebranche zu einer Neuausrichtung in einem bisher nie dagewesenen Umfang. Als Konsequenz der Energiewende stehen historisch gewachsene und energiewirtschaftliche Geschäftsmodelle durch den rasanten Ausbau der erneuerbaren Energien (EE) unter Druck.

So ist die Marktposition der etablierten Energieversorgungsunternehmen (EVU) im Bereich der Stromerzeugung in Deutschland fragil geworden: Die Bereitstellung elektrischer Energie durch großtechnische Anlagen unter Verwendung energetischer Produktionsfaktoren wie Gas, Kohle, Wind oder Wasser wird zunehmend von Millionen dezentralen EE-Erzeugungsanlagen wie zum Beispiel Eigenheimbesitzern mit ihren Solaranlagen, übernommen.

Neben der Energiewende wirkt sich ein weiterer, globaler Faktor auf den Energiemarkt aus: Die Digitalisierung stellt die klassische Kunden-Lieferanten-Beziehung auf den Kopf und revolutioniert damit bestehende Geschäftsmodelle - nicht nur die der EVUs. Ein bisheriges Angebotsoligopol wandelt sich zu einem Nachfrageoligopol. Letztlich transformiert die Digitalisierung alle Prozesse unserer Wirtschaft (sh. Abbildung 1. Selbst wenn sich diese Entwicklung für eine gewisse Zeit ignorieren lässt, so trifft sie die Unternehmen später umso stärker.

Abb. 1: Beispiele für die fundamentale Veränderung von Unternehmen und Branchen durch die Digitalisierung.
Abb. 1: Beispiele für die fundamentale Veränderung von Unternehmen und Branchen durch die Digitalisierung.
Foto: Mark Zimmermann

EVUs müssen sich in ihren Strukturen, Kompetenzen und Prozessen rund um die digitale Transformation neu erfinden. Es erfordert modernisierte und neue Produkte beziehungsweise Angebote, um wieder eine stärkere Kundenbindung zu erhalten und dem Auftreten marktfremder Akteure zu begegnen. Können sie sich hier nicht durchsetzen, besteht die Gefahr, dass sie Marktanteile an die internationalen Technologiekonzerne wie Google, Facebook oder Apple verlieren. Das gilt insbesondere für die Bereitstellung von Mehrwertdiensten, wie etwa Smart Home - siehe HomeKit von Apple - oder das kontaktlose Bezahlen bzw. Abrechnung der Ladeinfrastruktur für die Elektromobilität der Zukunft - siehe Apple Pay.

Neue Marktteilnehmer gestalten die Energiewende mit

Ein Blick auf den gegenwärtigen Energiemarkt sowie auf ausgewählte Bereiche der Wirtschaft zeigt eine Aufteilung in verschiedene Sektoren: Die marktwirtschaftlichen und technischen Infrastrukturen für Strom, Wärme und Wasser, aber auch für den Verkehr existieren abgegrenzt voneinander. Vor dem Hintergrund der Energiewende sowie der sich einstellenden Digitalisierung werden sich diese Sektoren sowohl in sich selbst als auch in ihrer Wechselwirkung miteinander nachhaltig verändern.

Mit der Dezentralisierung der Energieerzeugung sind nicht nur bestehende Industrien wie zum Beispiel VW mit Blockheizkraftwerken beschäftigt. Zunehmend betreten auch neue Marktteilnehmer das Feld, darunter zum Beispiel die Deutsche Telekom AG, einer der größten Energieverbraucher Deutschlands. Dr. Heiko Lehmann, Research & Innovation Director Smart Energy bei T-Labs, hat im Rahmen des TechnologyReview-Kongresses auf der eWorld 2015 unter anderem eine Lösung aufgezeigt, mit der sich im IT-Umfeld der Stromverbrauch von Serverfarmen minimieren lässt. Darüber hinaus soll die Telekom AG künftig selbst am Strommarkt teilnehmen, zum Beispiel mit Blockheizkraftwerken.

Neue Marktteilnehmer können durch den Trend zur Digitalisierung jedoch auch ohne entsprechendes energiewirtschaftliches Wissen in Konkurrenz zu den etablierten EVUs treten. Digitalisierung besteht jedoch nicht nur in Einsatz und Modifikation von IT-Lösungen. Sie beschreibt vor allem die Notwendigkeit zur Veränderung der Haltung und Denkweise, mit der Unternehmen in ihrer Gesamtheit vorgehen. Die Digitalisierung beschreibt somit einen Paradigmenwechsel, den viele Traditionsunternehmen gedanklich noch immer nicht hinreichend erfasst haben.

Die Umsetzung der Digitalisierung muss sich zu einer neuen Kernkompetenz der Unternehmen entwickeln. Diese müssen verstehen, dass sie ihre Produkte und Dienstleistungen nicht verkaufen können, ohne sie vorher auf den Prüfstand zu stellen. Die für erfolgreiches wirtschaftliches Handeln notwendige Haltung wandelt sich von "Ich verkaufe mein Produkt am Markt zu einem Preis X" zu "Ich wecke das Bedürfnis des Kunden für mein Produkt, das ich mit neuen attraktiven Funktionen aufgeladen habe, und bekomme dafür einen Preis X". Diese Verankerung der Digitalisierung über die komplette Wertschöpfung hinweg stellt nicht nur EVUs im Produktmanagement von Energieprodukten vor neue Herausforderungen.

Die Lösungsentwicklung der EVUs war bisher tendenziell bürokratisch und isoliert. Damit war sie weniger beweglich, kundenfokussiert und offen für die Kooperation mit Geschäftsideen und -modellen von Start-ups und Marktpartnern in einem sogenannten Business-Ökosystem. Die intelligente Nutzung von Ressourcen und Kompetenzen im eigenen Haus, aber auch am Markt, sind entscheidend für den zukünftigen Erfolg: Die Zusammenarbeit der EVUs mit Start-ups wird einen wesentlichen Motor für die Schaffung notwendiger IT-Innovationen darstellen.

Sicherheit, Komfort und Einfachheit für den Verbraucher

Die Steigerung der (mobilen) Bandbreiten und die steigende Internetaffinität der Bevölkerung beschleunigen unseren technologischen Fortschritt und damit die Möglichkeiten der Digitalisierung von Geschäftsmodellen. Waren zu Anfang eher die Musik- und Filmindustrie betroffen, erreicht die Entwicklung nun auch die Anbieter anderer Konsumgüter wie beispielsweise die Automobil- oder die Modeindustrie.

Früher haben Kunden ihre Kaufentscheidung auf Basis von Prospekten, Verkaufsgesprächen oder Testberichten getroffen. Heute finden diese Entscheidungsprozesse auf Grundlage von Empfehlungsmarketing in sozialen Netzwerken oder durch Recherchen im Internet statt. Nahezu jedes Produkt, egal ob B2B oder B2C, wird heutzutage im Internet gesucht, gefunden, geprüft und gekauft. Das Werbeversprechen wird durch Kommentare auf Facebook oder in Fachforen ersetzt.

Beim Endverbraucher haben sich diese Trends längst, bisweilen sicherlich auch unbemerkt, in seinem Verhalten manifestiert. Befand sich die IT früher im Keller der Konzerne, ist diese mittlerweile auf den Schreibtisch und dann in die Hosentasche gewandert, und jetzt erobert sie in Form sogenannter Wearables das Handgelenk und andere Regionen des Körpers. Diese Wearables stellen dabei kleine Computer beziehungsweise Sensoren dar, die am Körper getragen werden und neben einer Interaktion auch die Aufzeichnung von Körperfunktionen salonfähig machen (Quantified Self).

Alltägliche Arbeiten und Leistungen lassen sich in vielen Fällen bereits heute dezentral, raum- und zeitunabhängig verrichten und erfüllen. Mobile Endgeräte ermöglichen es dem Anwender, Commodity-Dienstleistungen des Alltags wie Einkaufen, Taxi-Bestellung ider Urlaubsbuchung von überall in Anspruch zu nehmen. Das Smartphone etabliert sich immer mehr als digitaler Generalschlüssel für die Märkte der Zukunft.

Die emotionale Beziehung zum Produkt bzw. zur Servicedienstleistung rückt dabei immer mehr in den Vordergrund. Doch gerade im Bereich Strom, Gas und Wasser lässt sich nur schwer eine direkte Beziehung zum Kunden aufbauen, beschränkte sich der Kontakt zum Energieversorger in der Vergangenheit beinahe ausschließlich auf die jährliche Stromrechnung und die Übermittlung der Zählerstände. Eine positive, emotionale Bindung zu den Produkten des Energieversorgers war nicht gegeben.

Hier wird eine Entwicklung stattfinden, die nicht nur die Erhöhung der Kontakte zum Ziel hat, sondern auch die Veränderung des direkten Umgangs mit dem Kunden. Eine solche Veränderung hat die Finanzbranche bereits hinter sich. Der klassische Kontoauszug ist längst nicht mehr der einzige Kontaktpunkt zwischen einer Bank und ihren Kunden. Usability und Funktionalitäten eines Online-Banking-Tools sind heute ein maßgeblicher Faktor bei der Wahl des Finanzinstituts. Übertragen auf die Energiebranche bieten sich hier reale Chancen zur neuen und nachhaltigen Positionierung im Markt. Intelligente Produkte, wie zum Beispiel Smart Home, erfordern dann selbstverständlich digitale Services als ganzheitliche, übergreifende Lösungskonzepte. Innovation, Progression und Vernetzung sind umso notwendiger, je stärker sich auch internationale IT-Konzerne im Energiesektor betätigen.

Aber nicht nur die Endkunden dürfen bei dieser Entwicklung im Fokus stehen. Ebenso wichtig ist auch die Unterstützung der Partner, Start-ups und Dienstleister, die zur Veredelung der Produkte und Serviceleistungen im Fokus stehen. Neue Geschäftsmodelle entstehen durch die Schaffung digitaler Ökosysteme im Energiesektor. Die Partner der EVUs - Start-ups und Dienstleister, die zur Veredlung der Services beitragen - werden selbst zur Zielgruppe, über Infrastrukturen und Daten lasse sich von ihnen Erlöse generieren.

Entwicklung neuer, digitaler Geschäftsmodelle

Musste früher der Brockhaus zum Lesen aus dem Regal genommen werden, kann man heute das Weltwissen in der Hosentasche tragen und jederzeit und an jedem Ort abrufen. Diese Entwicklung hätte vor einigen Jahren niemand für möglich gehalten. Und der rasante Fortschritt, mit dem sich die Technologie entfaltet, bringt täglich neue Geschäftsmodelle zutage, mit denen sich die etablierten Marktteilnehmer unumgänglich auseinandersetzen müssen. Start-ups gründen sich wie aus dem Nichts und fordern mit einer atemberaubenden Geschwindigkeit traditionelle und solide Marktteilnehmer im Wettbewerb heraus.

Durch das "Internet der Dinge" kommt zusätzliche Bewegung in die starren Denkweisen traditioneller Branchen und Bereiche: Mit neuen Ansätzen wie der mobilen Erhebung und Verfügbarkeit von Daten oder der Mustererkennung in einem großen Datenstrom (Big Data) lassen sich viele althergebrachte Probleme, aber auch neue Herausforderungen lösen.

Diese aktuelle Erweiterung gegenständlich verfügbarer Produkte rund um digitale Serviceleistungen wirft auch neue Rechts-, Sicherheits- und Datenschutzfragen auf. Deutschland besitzt bereits die strengsten Datenschutzrichtlinien in Europa. Diese auch im Umfeld der Digitalisierung einzuhalten stellt eine große Chance für EVUs dar, insbesondere bei der Sekundärnutzung persönlicher Daten. Gesetzliche Vorgaben und Datenschutzbestimmungen müssen genau erarbeitet und deren Beachtung aktiv geregelt werden, damit sie als Chance und Herausforderung, nicht als Hürde angesehen werden.

In Teil 2 der Artikelserie finden Sie Denkanstöße, wie das Internet der Dinge, Big Data und -Analytics, aber auch mobile Endgeräte neue Geschäfsmodelle ermöglichen. (bw)