"Die Deutschen sind zu ängstlich"

16.02.2005
Von Syra Thiel

CW: Die Deutschen gelten als hochgradig sicherheitsbewusst. Wie sollen sie mit der Instabilität umgehen?

Kruse: In der deutschen Kultur sind wir meines Erachtens zu sehr darauf aus, auszugleichen anstatt Unterschiede zuzulassen. Wir haben in den letzten Jahren besonderen Wert darauf gelegt, den mittleren Bereich der Leistungsfähigkeit qualitativ anzuheben.

Unsere Sozialisationssysteme fördern die Eliten nicht. Es gibt keine Möglichkeit, Unterschiede wirklich zu leben. Wenn die Menschen schon in frühen Jahren lernen, dass man gemocht wird, wenn man für andere berechenbar ist, dann haben wir einen Mangel an Ausnahmepersönlichkeiten. Wenn man in Deutschland erfolgreich ist, wird man schnell Zielscheibe von Neid und Ablehnung. Bleibt man unter den Leistungserwartungen oder hat man Misserfolg, führt das oft zur dauerhaften persönlichen Abwertung. Aber das Salz in der Suppe der Veränderung sind immer die Extreme, nicht die Mitte. Und von diesem Salz bräuchten wir eigentlich viel mehr. Die Deutschen sind zu ängstlich; sie haben Angst davor, herauszuragen - positiv ebenso wie negativ. Wir brauchen mehr Menschen, die Lust darauf haben, ungewöhnlich und überraschend zu sein.

CW: Wie können wir der Angst begegnen ?

Kruse: Es geht darum, den Menschen wieder die Lust an Grenzgängen nahe zu bringen. Es geht um die Freude am Entdecken. Ich sage bewusst Freude und nicht Spaß. Wir reden immer von der Spaßgesellschaft. Wirkliches Lernen führt aber immer über einen Schmerzpunkt. Nur wenn wir das Gewohnte verlassen und Störung akzeptieren, hat das Neue eine Chance. Lernen tut weh. Aber beim erfolgreichen Durchbruch zu neuen Leistungshorizonten entsteht eine tiefe Freude und große Zufriedenheit. Je häufiger wir diese Erfahrung machen, desto leichter fällt es uns, neues Terrain zu betreten. Wer nicht bereit ist, den Boden unter den Füßen zu verlieren, wird niemals fliegen. Ich wünsche jedem Menschen Lehrer, die in der Lage sind, solche Lernprozesse im Wechselspiel von Fördern und Fordern zu begleiten.

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