"Die Deutschen sind zu ängstlich"

07.02.2005
Von Sylvia Tiel
Deutschlands Change-Management-Papst, Peter Kruse, fordert in einem Gespräch mit der COMPUTERWOCHE eine Unternehmenskultur, die Neugier fördert und Risiko belohnt.

CW: Wissen veraltet immer schneller, eine Umstrukturierung jagt die andere. Wie gehen Menschen mit diesen ständigen Veränderungen um?

Kruse: Was die kognitiven Fähigkeiten angeht, verkraften Menschen nahezu jede Veränderungsgeschwindigkeit. Das Hauptproblem des schnellen Wandels ist die emotionale Befindlichkeit. Veränderungsbereitschaft ist in erster Linie ein kulturelles Problem. In einer Kultur, die Neugier fördert und die Übernahme von Risiko belohnt, ist der Kreativität nahezu keine Grenze gesetzt. Wir bleiben meist weit unter unseren Möglichkeiten. Die Kapazität des Gehirns ist unglaublich.

CW: Wie lässt sich eine solche Kultur schaffen?

Kruse: Das erste, was wir brauchen, sind Menschen, die bereit sind, Vorbild zu sein, die sich selbst auf Irritationen einlassen. Kultur kann man nicht managen. Kultur braucht Leadership. Führungskräfte sind Kulturträger. Wenn Führungskräfte selber Sicherheiten wollen, Etablierung und Status, dann gibt es keine Innovation. Führungskräfte, die bereit sind, sich auf das Wagnis des Aufbruchs zu unbekannten Kontinenten einzulassen, sind die Träger einer Kultur der Veränderung.

Das zweite, was wir brauchen, sind Organisationen, in denen Informationen frei fließen und alle Ressourcen in maximalem Austausch miteinander stehen. Mit der Erhöhung der unternehmensinternen Vernetzungsdichte entsteht immer eine Kultur, die mit Instabilität besser umgeht. Netzwerkorganisationen kommen aufgrund von Rückkoppelungseffekten kaum jemals zum Stillstand.

CW:Die Deutschen gelten als hochgradig sicherheitsbewusst. Wie sollen sie mit der Instabilität umgehen?

Kruse: In der deutschen Kultur sind wir meines Erachtens zu sehr darauf aus, auszugleichen anstatt Unterschiede zuzulassen. Wir haben in den letzten Jahren besonderen Wert darauf gelegt, den mittleren Bereich der Leistungsfähigkeit qualitativ anzuheben.

Unsere Sozialisationssysteme fördern die Eliten nicht. Es gibt keine Möglichkeit, Unterschiede wirklich zu leben. Wenn die Menschen schon in frühen Jahren lernen, dass man gemocht wird, wenn man für andere berechenbar ist, dann haben wir einen Mangel an Ausnahmepersönlichkeiten. Wenn man in Deutschland erfolgreich ist, wird man schnell Zielscheibe von Neid und Ablehnung. Bleibt man unter den Leistungserwartungen oder hat man Misserfolg, führt das oft zur dauerhaften persönlichen Abwertung. Aber das Salz in der Suppe der Veränderung sind immer die Extreme, nicht die Mitte. Und von diesem Salz bräuchten wir eigentlich viel mehr. Die Deutschen sind zu ängstlich; sie haben Angst davor, herauszuragen - positiv ebenso wie negativ. Wir brauchen mehr Menschen, die Lust darauf haben, ungewöhnlich und überraschend zu sein.

CW: Wie können wir der Angst begegnen ?

Kruse: Es geht darum, den Menschen wieder die Lust an Grenzgängen nahe zu bringen. Es geht um die Freude am Entdecken. Ich sage bewusst Freude und nicht Spaß. Wir reden immer von der Spaßgesellschaft. Wirkliches Lernen führt aber immer über einen Schmerzpunkt. Nur wenn wir das Gewohnte verlassen und Störung akzeptieren, hat das Neue eine Chance. Lernen tut weh. Aber beim erfolgreichen Durchbruch zu neuen Leistungshorizonten entsteht eine tiefe Freude und große Zufriedenheit. Je häufiger wir diese Erfahrung machen, desto leichter fällt es uns, neues Terrain zu betreten. Wer nicht bereit ist, den Boden unter den Füßen zu verlieren, wird niemals fliegen. Ich wünsche jedem Menschen Lehrer, die in der Lage sind, solche Lernprozesse im Wechselspiel von Fördern und Fordern zu begleiten.

CW: Was müssen Führungskräfte tun, damit Mitarbeiter an ihre Grenze gehen?

Kruse: Der Einzelne braucht einen Anreiz zum Lernen. Der Schlüssel zur Stimulierung unserer Veränderungsbereitschaft sind die Gefühle. Nur Vorgesetzte, die sich begeistern, können auch Begeisterung wecken. Nur Vorgesetzte, die neugierig sind, machen neugierig. Dafür ist es wichtig, dass das Management aufhört, alles steuern und regeln zu wollen. Wer glaubt, dass heute noch Vordenker in der Lage sind, Systeme zu managen, der hat die Entwicklung nicht verstanden. Wir brauchen einen frühzeitigen Einbezug aller Beteiligten - das heißt, eine maximale Vernetzung in den Strukturen.

CW: Damit hat sich die Rolle der Führungskräfte geändert. Womit werden sich Manager in Zukunft beschäftigen?

Kruse: Es geht darum, intelligente Systeme zu moderieren. Nicht darum, selber intelligent zu sein. Nachdem wir gelernt haben, Unternehmen in stabilen Phasen zu organisieren, geht es nun um ein Management von Instabilität. Dabei werden Führungskräfte vom Gestaltungs- zum Bewertungsorgan. Das Netzwerk der Mitarbeiter erstellt Handlungsalternativen und organisiert eigenständig die Umsetzungsprozesse. Die Führung regt an, regt auf, entscheidet und definiert die Erfolgskriterien.

CW: Was würde dann einen Manager der Zukunft auszeichnen?

Kruse: Die Qualität eines Managers entscheidet sich in Zukunft mehr über seine Fähigkeit, ein gesuchter Netzwerkknoten zu sein. Intelligente Netzwerke sind skalenfrei, sie besitzen Knoten mit einer hohen und Knoten mit eher geringer Vernetzungsdichte.

Die Zahl der Verknüpfungen folgt in skalenfreien Netzwerken nicht dem Zufallsprinzip, sondern dem Mechanismus positiver Rückkoppelung: Wer hat, dem wird gegeben. Die Macht im Unternehmen definiert sich dann nicht mehr länger über die Position in der Hierarchie, sondern über die Attraktivität im Informationsaustausch. Wenn es Führungskräften gelingt, für Menschen zum bevorzugten Anlaufpunkt zu werden, sind sie ein Hub, ein Verteiler mit hoher Priorität. Wer Informationen zurückhält oder als Privileg weitergibt, wird in einer solchen Organisation nicht mehr erfolgreich sein. (hk)